Georg Heym, „Der Gott der Stadt“ – mit kreativem Impuls (Mat4703)

Worum es hier geht:

Georg Heyms Gedicht „Der Gott der Stadt“ ist ein gutes Beispiel für eine der Untergangsvisionen, von denen es viele in der Zeit des Expressionismus gab.

Zum leichteren Verständnis eine mp3-Datei, in der das Gedicht erklärt wird:

https://textaussage.de/georg-heym-der-gott-der-stadt-leicht-verstaendlich-erklaert-mp3

Der Text des Gedichtes

Georg Heym

Der Gott der Stadt

(1)
Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
Die letzten Häuser in das Land verirrn.

  • Die Überschrift macht deutlich: Es geht um etwas Großes, Übermächtiges – und das in einem Gebiet mit vielen Menschen.
  • Die erste Strophe bietet dann aber kein Bild, vor dem man Achtung hat, das man vielleicht sogar anhimmelt, sondern etwas Massives, Bedrohliches.

(2)
Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
Die großen Städte knieen um ihn her.
Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.

(3)
Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
(10) Der Millionen durch die Straßen laut.
Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.

  • In der zweiten und dritten Strophe geht es dann um das Verhältnis der Menschen zu diesem Ungeheuer. „Baal“ und „Korybanten“ muss man kurz nachschlagen – bei einer Klausur oder Klassenarbeit müssten diese Begriffe ggf. mitgeliefert werden:
    Baal = aus Sicht der Juden und Christen heidnische Götter im alten Orient
    Korybanten = wilde Begleittänzer einer anderen heidnischen Gottheit aus dieser Zeit, verbunden mit Orgien.
    Entscheidend ist, dass sich die Menschen diesem „Gott der Stadt“ bedingungslos unterwerfen.

(4)
Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.
Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.

  • Die vierte Strophe wendet sich dann wieder dem Gott-Ungeheuer zu, macht seine Gefährlichkeit deutlich, die sich „im Zorne“ äußert.

(5)
Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
Und friss sie auf, bis spät der Morgen tagt.

  • Die Schluss-Strophe bietet pure Aggression, die am Ende auf Vernichtung hinausläuft.

Das Gedicht mit Markierungen

Erläuterung der Farbmarkierungen:

Sehr schnell fällt einem auf, dass hier vor allem ein gefährliches Wesen vorgestellt wird – wie der Titel es auch schon andeutet.

Dementsprechend haben wir für alle Textelemente, die in diese Richtung gehen, die Farbe „grau“ gewählt.

Der zweite Bereich ist der der Menschen, wie sie auf die Bedrohung reagieren – hier haben wir die Farbe gelb gewählt.

Ggf. hätte man bei der Farbe „grau“ noch unterscheiden können zwischen der Ebene der Bedrohung und der der Zerstörung.

Aber uns kommt es hier ja nicht auf fertige Lösungen an, sondern auf Sensibilisierung, so dass man bei einem anderen Gedicht schnell selbst auf hilfreiche „Interpretations-Schritte“ kommt.

Heranziehung der Literaturwissenschaft

CLEMENS HESELHAUS, Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache, AUGUST BAGEL VERLAG: DÜSSELDORF 1961

S. 184/185

Dort finden sich die folgenden interessanten Infos und Impulse:

  1. Hinweis darauf, dass das Gedicht aus mehreren Einzelbildern besteht, die einen Gesamteindruck verschaffen (Phänomen der „Simultaneität“).
  2. Insgesamt sei das Gedicht nichts anderes als eine „hyperbolische Metapher“, „um das Verhängnis, das über modernen Städten schwebt, in einer Illustration sichtbar zu machen“ (184).
  3. Was die religiösen Bezüge angeht, sieht Heselhaus Unstimmigkeiten, etwa die Verbindung des Baal-Kultes mit Kirchenglocken (vgl. 185).
  4. Dabei wird der Begriff der „Halluzinationen“ verwendet – mit Blick auf den französischen Dichter Rimbaud, der ebenfalls keine Probleme hat, das, was er sieht, auch mit scheinbar abwegigen, aber beeindruckenden Assoziations-Bildern zu verbinden.

Kreativer Impuls

Wer als Lehrer seine Schüler nicht mit dieser Untergangs-Fantasie alleinlassen möchte, könnte die letzte Strophe durch eine andere, „postivere“ ersetzen lassen.

Zum Beispiel könnte man ansetzen an dem fehlenden Widerstandsgeist der Menschen in diesem Gedicht.

Wieso kann nicht einer diesen Massenwahn unterbrechen – so wie Le Bon es als Lösung in seiner Beschreibung der Massenpsychologie beschreibt.

Liefern wir doch einfach mal ein paar Zeilen als Start-Impuls:

Doch was ist das, der Schlote Rauch, er ebbt jetzt ab.
Auch die Musik, sie schweigt ganz plötzlich.
Und langsam hebt sich – Kopf für Kopf – der Menschen große Schar.
Und was ist mit dem Gott? Ganz langsam weicht die Luft aus ihm.

usw.

 Wer noch mehr möchte …