Goethe, „Ein grauer, trüber Morgen“ – Anmerkungen zu einem dichterischen Rückblick auf eine Liebesbeziehung (MatMat4459)

Worum es hier geht:

Goethe war ein Mensch, der sich gerne – für ihn rechtzeitig – aus Beziehungen befreite, bevor er dann in Weimar endgültig und glücklich in den Armen einer einfachen jungen Arbeiterin landete.

In diesem Gedicht geht es um das Ende wohl der berühmtesten Beziehung Goethes, aus der viele Liebesgedichte entstanden sind.

https://de.wikipedia.org/wiki/Sesenheimer_Lieder

Anmerkungen zur Interpretation des Gedichtes

  • Wenn man die 5. Zeile gelesen hat, kommen alle, die Goethes Biografie ein wenig kennen, schon auf einen Gedanken: Es könnte sich um die kurzzeitige Liebe zu einer Pfarrerstochter handeln, die Goethe als Straßburger Student im Elsass kennenlernen.
  • Aber hier soll es jetzt nur um die allgemeine Aussage gehen, die für jeden Leser interessant ist.
  • Ausgangspunkt ist ein „grauer, trüber Morgen“, der nicht nur das Feld bedeckt, sondern auch wohl das Innenleben des lyrischen Ichs. Denn offensichtlich ist es von jemandem getrennt, der ihm viel bedeutet: Offensichtlich liegt in jedem Blick Friederikes „Sonnenschein und Glück“
  • In der zweiten Strophe denkt das lyrische Ich an einen Baum, in den ihrer beider Namen eingeritzt worden sind. Verbunden wird das mit der Vorstellung des Bleichwerdens, also des langsamen Verschwindens.

Der Baum, in dessen Rinde
Mein Nam bei deinem steht,
Wird bleich vom rauhen Winde,
Der jede Lust verweht.
Der Wiesen grüner Schimmer
Wird trüb wie mein Gesicht,
Sie sehen die Sonne nimmer,
Und ich Friedriken nicht.

  • Es folgt ein Blick ins Weite: Den Wiesen geht es angeblich genauso wie dem lyrischen Ich auch: Man sieht das nicht, was man sehen möchte.

Bald geh‘ ich in die Reben
Und herbste Trauben ein;
Umher ist alles Leben,
Es strudelt neuer Wein.
Doch in der öden Laube,
Ach, denk‘ ich, wär‘ sie hier!
Ich brächt‘ ihr diese Traube,
Und sie, – was gäb‘ sie mir?

  • Die letzte Strophe wendet sich dann der Zukunft zu. Offensichtlich hat das lyrische Ich eine Perspektive, bei dem das Leben geradezu herumsprudelt und „neuer Wein“ vorhanden ist. Die letzten Zeilen gehören dann noch einmal dieser Friederike. Das lyrische Ich stellt sich – anscheinend bedauernd wegen der Realität – vor, sie wäre da und er brächte ihr eine der neuen Trauben. Am Ende dann die seltsame Frage: „was gäb‘ sie mir?“

Das Kernproblem des Gedichtes

  • Damit ist man beim Kernproblem des Gedichtes: Es bleibt völlig unklar, warum sich das lyrische Ich und diese Friederike getrennt haben. Auf jeden Fall ist klar, wer sich rein räumlich getrennt hat. Die Wahrheit liegt wohl versteckt in der zweiten Strophe, wo es heißt: „Der Baum, in dessen Rinde / Mein Nam bei deinem steht, / Wird bleich vom rauhen Winde, / Der jede Lust verweht.“ Das heißt doch, dass den beiden Liebenden das passiert ist, wovon jede Beziehung bedroht ist, nämlich das Verschwinden der „Lust“, der Begeisterung der Anfangszeit.
  • Das steht natürlich in einem Spannungsverhältnis zu den Ansätzen von Rumgejammer: „O liebliche Friedricke, / Dürft ich nach dir zurück! / In einem deiner Blicke / Liegt Sonnenschein und Glück.“ Das passt einfach nicht zusammen: Entweder vermisst das lyrische Ich etwas – oder aber die Lust ist eben vergangen.
  • Vielleicht liegt die Auflösung des Geheimnisses in den letzten beiden Zeilen: „Ich brächt ihr diese Traube, / Und sie – was gäb sie mir?“ Es gibt wohl ein Missverhältnis zwischen dem, was das lyrische Ich zu geben bereit ist (gerade mal eine Traube) und dem, was es erwartet.

Einbeziehung von Goethes Biografie

  • Wenn man dann die fiktionale Ebene verlässt und sich dem Verhältnis zwischem dem realen jungen Goethe und Friederike Brion zuwendet, dann merkt man, dass es von Goethes Seite aus eine Kurzzeit-Liebelei war und Friederike zu Recht enttäuscht war von diesem jungen Mann und allen seinen Liebesbeteuerungen.
  • Interessant ist ja auch das Gedicht „Willkommen und Abschied“ in diesem Zusammenhang. Von dem gibt es zwei Versionen, was viel über Goethes Umgang mit Frauen aussagt.
    https://www.einfach-gezeigt.de/goethe-willkommen-und-abschied
    In einer Übersicht über Goethes Beziehungen zu Frauen heißt es kurz und knapp:
    „Er verließ Friederike mit schlechtem Gewissen. Die junge Frau litt noch lange unter der verlorenen Liebe.“
    https://www.mdr.de/geschichte/weitere-epochen/neuzeit/goethe-und-die-frauen100.html

Wer noch mehr möchte …