Vorstellung des Projekts
Gruppenarbeit zu den ersten 16 Kapiteln von Schlinks Roman „Der Vorleser“
Im Literaturunterricht gibt es immer wieder Phasen, in denen man die Schüler möglichst selbständig und in Gruppen an bestimmten Aspekten eines Werkes arbeiten lassen möchte.
Dieses Material bereitet die ersten 16 Kapitel von Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ entsprechend auf. Die Fragen können zum Beispiel sehr nach einer entsprechenden vorbereitenden Lese-Hausaufgabe eingesetzt werden.
Die Erfahrung zeigt, dass Schüler Tipps brauchen, an welchen Stellen man gewissermaßen den Spaten bei der Textarbeit ansetzen kann. Ziel ist natürlich, sie auch selbst auf entsprechende Fragen kommen zu lassen, das kann dann in einem zweiten Schritt mit Blick auf weitere Textteile des Romans folgen.
Übersicht über die Teile
- Kurze Einführung in das Projekt
- Zusammenstellung von insgesamt 20 Fragen, aufgeteilt in 8 Gruppen.
- Ausführliche Hinweise zur Beantwortung der Fragen – zugleich Bausteine einer Interpretation
Arbeitsblatt mit den Aufgaben für die Gruppen
Mat3027 Gruppenarbeit Aufgaben
Mat3027 Gruppenarbeit Aufgaben und Lösungen
Gruppe 1:
1. Welche Funktion hat das zweite Kapitel (das Haus in der Bahnhofstraße)?
- Es stellt zunächst eine überraschende Retardation der Handlung dar, die zudem zusätzliche Spannung erzeugt.
- Außerdem bekommt das Geschehen auf einer symbolischen Ebene früher Bedeutung als im Bereich des direkt erzählten Geschehens.
- Aufgebaut wird zunächst ein Gegensatz von damals und heute, außerdem von der Vorstellung von „herrschaftlichen“ Bewohnern und im Traum erfahrener Einsamkeit, Leblosigkeit und Nicht-Kontakt.
- Viel spricht dafür, dass das Haus auch für Hanna steht, zu der er keinen Zugang findet – zumindest nicht in den späteren symbolgeladenen Träumen.
2. Was ist das Besondere an der Frau (S. 17/18?)
- Das Besondere ist Hannas Konzentration auf sich selbst, verbunden mit „Weltvergessenheit“.
- Von ihr geht ein besonderer, sehr natürlicher, nicht „koketter“ Reiz aus.
- Dieser Reiz hat etwas urtümlich Weibliches, vielleicht sogar Mütterliches, geht es doch um die „Einladung, im Inneren des Körpers die Welt zu vergessen“ (18).
3. Wie präsentiert sich der Erzähler auf S. 19/20?
- Der Erzähler zeigt sich hier sehr stark reflektierend.
- Fast weise geworden, reflektiert er über allgemeine menschliche Erfahrungen, in diesem Falle im Hinblick auf die Erfahrungen, die man bei längerer Krankheit macht.
- Sehr interessant ist das Bild des Zimmers, das von der Krankheit regelrecht „imprägniert“ ist, womit sich „Labyrinthe“ ergeben, in denen man sich verliert.
- All dies macht natürlich besonders Sinn, wenn man es auf den rätselhaften Einfluss bezieht, den die ältere Frau auf den pubertierenden Jungen ausübt.
Gruppe 2:
4. Wie realitätsnah ist der Satz auf S. 21: „Dann wollte ich auch die sündige Tat.“
- Diese Aufgabe soll die Schüler sensibilisieren für die die Sprache des Erzählers, dem es nicht immer gelingt, sich überzeugend in die Gedankenwelt eines Fünfzehnjährigen hineinzuversetzen.
- Es ist kaum vorstellbar, dass ein Junge, der in einem solch normal-bürgerlichen Haus aufgewachsen ist, so zielstrebig auf ein sexuelles Erlebnis mit einer deutlich älteren Frau zugeht.
- Auch die weiteren Ausführungen im Vorfeld des Besuchs auf S. 21 wirken wie die Gedanken eines Erwachsenen.
- Ganz deutlich ist der Realitätsanspruch des Erzählers: „So habe ich damals vernünftelt…“ (21)
5. Wie wird auf S. 21/22 menschliches Handeln gesehen?
- Diese Passage ist besonders interessant, weil sie menschliches Handeln in einem seltsamen Zwielicht zwischen Wollen und Müssen sieht.
- Entscheidend ist das Pronomen „Es“ auf S. 22, man hat den Eindruck von einer Art „Über-Ich“.
- Hinzu kommen die beiden Schluss-Sätze, die den Eindruck einer seltsamen Unschärfe hinterlassen, als wollte der Erzähler die Verantwortlichkeiten bewusst im Ungefähren lassen.
6. Wie ist der Gegensatz auf S. 25/26 zu bewerten: „… ich schau nicht hin.“ – „musterte sie mich ruhig.“
- Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die erwachsene Frau den Jungen hier ganz eindeutig verführt: Sie verspricht ihm das, was in der Situation angemessen wäre, und tut genau das, was nicht in Ordnung ist.
- Am deutlichsten wird das moralisch und auch juristisch Anrüchige, wenn man sich die Geschlechter vertauscht vorstellt: Ein erwachsener Mann kümmert sich in gleicher Weise um ein 15jähriges Mädchen…
- Sehr fragwürdig ist auch die Feststellung: „Darum bist du doch hier!“ Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte die Frau den ganzen Prozess mehr oder weniger inszeniert, zumindest vorausberechnet.
Gruppe 3:
7. Wie realistisch erscheint die Beschreibung auf S. 26/27?
- Die Überlegungen zu Frage 6 können hier wieder aufgenommen werden – diesmal aber weniger unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit, sondern unter dem der Wahrscheinlichkeit.
- Wenn man die Geschehnisse auf die einfachen Abläufe reduziert, ist da einem Jungen schlecht geworden, eine ältere Frau hat sich mütterlich um ihn gekümmert, er kehrt nach der Gesundung zu ihr zurück, um sich zu bedanken und gerät dabei sofort in eine Situation, die nur im gemeinsamen Geschlechtsverkehr enden kann.
- Wenn man sich überlegt, dass es sich beim historischen Umfeld der Geschichte um die relativ prüden Adenauerjahre handelt, dann wirkt das Ganze schon sehr abseitig.
- Nimmt man die Figur der Hanna in ihrer Ungewöhnlichkeit ernst, dann kann man auch die Auswirkungen und Folgen ernst nehmen – fraglich bleibt nur, ob das Verhalten des Jungen ausreichend motiviert ist. Hier hätte sich Schlink vielleicht doch ein bisschen mehr Zeit lassen sollen, bis es ins Bett geht.
8. Wie ist der Satz auf S. 28 zu verstehen: „In der folgenden Nacht habe ich mich in sie verliebt.“
- Er kann nur so verstanden werden, dass hier „lieben“ einfach bedeutet, körperliche Sehnsucht nach jemandem zu haben.
- Das wird dann im Folgenden stark überhöht: Liebe als Preis für sexuelle Zuwendung. Interessant ist der Gesichtspunkt der Prägung: Der Erzähler überträgt das Muster auf all seine anderen Verhältnisse.
- Am seltsamsten ist der Schluss: Der Erzähler erweckt hier den Eindruck, dass sexuelles Verwöhntwerden auch eine Verpflichtung gegenüber der Welt bedeute, wie das aussehen sollte und könnte, bleibt völlig offen.
- Wichtig ist aber der Bezug zur Mutter, wenn auf S. 28/29 auf ähnliche Badeerlebnisse im weitesten Sinne in früher Kindheit verwiesen wird. Berücksichtigt man, wie wenig warm die Familie zur gleichen Zeit erscheint, kann man sicher leichter verstehen, warum der Junge dieser fremden Frau so schnell verfällt.
9. Was ist das für ein Familienleben, das auf S. 31 beschrieben wird?
- Damit sind wir bei einem ganz wichtigen Punkt: Die Familie des Jungen ist kein Ort der Wärme und Zuneigung. Auch wenn es am Vater exemplifiziert wird – auch der Rest der Familie kann nur nach einem solch extremen Glücksereignis geliebt werden, der Normalfall ist es nicht.
- Deutlich wird auch das Phänomen des Abschieds von Familie und sicher auch zugleich Kindheit auf S. 31/32.
- Nicht übersehen werden darf aber auch ein gewisses Gleichgewicht zwischen Familie und neuer Beziehung, wie es auf S. 32 deutlich wird: „Ich hatte Heimweh nach Mutter und Vater und den Geschwistern, und die Sehnsucht, bei der Frau zu sein.“ Besonders die beiden Varianten eines Gefühls, nicht da bleiben zu wollen, wo man gerade ist, nämlich von Heimweh und Sehnsucht, sind hier sehr gut dargestellt und psychologisch nachvollziehbar – wenn auch wieder die reflexive Kraft des erwachsenen Erzählers sehr deutlich wird.
Gruppe 4:
10. Wie wirkt die Vertreibung aus dem Bett auf S. 36 auf den heutigen Leser der Jahrgangsstufe 12?
- Diese Frage hat natürlich zunächst einmal provozierenden Charakter. Die Vorstellung, aus dem Schönsten gerissen zu werden, was man sich als Heranwachsender vorstellen kann, um sich dem Trübsten und Langweiligsten auszuliefern, dürfte schon quälend sein.
- Sie führt aber zwangsläufig zu der Frage, warum die Frau das tut – sicher zum einen, weil sie selbst entsprechende Erfahrungen gemacht hat, die sie ihrem neuen Freund ersparen möchte.
- Damit kommt ein mütterlicher Zug ins Spiel – in gewisser Weise ist es eine extreme Variante des Satzes: „Du darfst erst spielen, wenn du deine Hausaufgaben gemacht hast.“
- Deutlich sichtbar ist die Härte und Kühle, die diese Frau eben auch ausstrahlen kann – vor allem am Ende des Kapitels.
11. Welche Funktion und Bedeutung haben die Reflexionen auf S. 38/39?
- Zum einen geht es um die allgemeine Frage des Glücks, das möglicherweise auf einer Täuschung beruhte.
- Zum anderen geht es um das allgemeine Phänomen der Jugend als eines Glücksraums großer Hoffnungen – dies wird aber schnell verbunden mit der Vorstellung eines gebrochenen Versprechens.
- Letztlich lässt der Erzähler die Dinge wieder im Ungewissen, begnügt sich Fragen zu stellen und damit Gefühle auszudrücken, die ja selbst durchaus unklar sein und bleiben können.
12. Wie wirkt sich die Beziehung zu Hanna auf den Jungen aus? (S. 41, 65 u.a.)
- Hier ist wichtig, den Doppelcharakter herauszuarbeiten: Zum einen macht den Jungen die Beziehung „stolz“ (41), setzt ihn einem Schnellreifungsprozess aus. Vor allem bringt es ihn zur Übereinstimmung mit seinem Körper – die für die Pubertätszeit typische „Uneinigkeit“ mit dem eigenen Körper ist dank Hanna früh von ihm abgefallen. Ein bisschen erinnert diese Hanna an die Französinnen des 19. Jahrhunderts, die darauf spezialisiert waren, wohlhabenden oder gar adligen deutschen Söhnen auf sehr natürlich-unverkrampfte Art und Weise die „Unschuld“ zu nehmen und in ausreichendem Maße auf das sexuelle Leben eines Erwachsenen vorzubereiten. Natürlich hat diese Frau keinen Auftrag und wird auch nicht dafür bezahlt – das ändert aber nichts an der positiven Seite ihrer Bemühungen um den Jungen.
- Daneben gibt es aber noch die zweite Ebene – die nie zu den erotischen Abenteuerreisen des 19. Jahrhunderts gehört hätte, nämlich die der Gewalt und der Erniedrigung, wie es bsd. auf S. 65 geschildert wird. Letztlich ist es doch eine negative Prägung, die den Erzähler unfähig macht für eine „normale“ Liebesbeziehung.
Gruppe 5:
13. Welche Funktion und Bedeutung hat die Straßenbahnszene? (45-50)?
- Der zunächst gescheiterte Versuch einer Annäherung außerhalb des Hauses zeigt, dass außerhalb der sexuellen Ebene in dieser Beziehung viel schief läuft.
- Es ist für den Jungen nicht möglich, einfach auf seine Freundin zuzugehen, wobei nicht ganz klar wird, ob Hanna ihm freundlich begegnet wäre, wenn er tatsächlich gleich vorne bei ihr eingestiegen wäre.
- Ganz eindeutig ist dafür das, was der Erzähler empfindet, nämlich die doppelte Erniedrigung, zunächst im Anhören-Müssen der Vorwürfe, dann in der erzwungenen Übernahme der Vorstellungen Hannas. Deutlich wird es als „Machtspiel“ beschrieben.
- Allerdings wird am Ende auch deutlich, dass dieses „Erkalten und Erstarren“ bei Hanna nichts ist, was ihr sadistische Freude bereitet, sondern dass sie es braucht, weil es ihr eine Wärme gibt, die sie anders nicht bekommen kann.
14. Welche Bedeutung hat der Begriff der Kapitulation in der Beziehung zwischen (S. 49/50)
- Der Begriff macht deutlich, dass es sich hier nicht um eine gleichgewichtige Beziehung handelt.
- Hanna ist ganz eindeutig die Dominierende, die Fordernde, der nur mit Unterwerfung beizukommen ist.
- Auch wenn – wie bei Frage 13 beschrieben –für Hannas Verhalten „mildernde Umstände“ in Rechnung gestellt werden können, entscheidend bleibt die fatale Wirkung: „Aber so oder so hatte ich keine Wahl.“
Gruppe 6:
15. Ist die Sprache auf S. 48/49 die eines 15jährigen?
- Es ist schon mehrfach angesprochen worden, dass es dem Erzähler häufig nicht gelingt, das Denken, Fühlen und Handeln seiner Vergangenheit als Fünfzehnjähriger überzeugend zu rekonstruieren.
- Dies wird besonders auch deutlich auf S. 48 unten: „Es tut mir leid, Hanna. Alles ist schiefgelaufen. Ich habe dich nicht kränken wollen, aber es scheint…“ Das ist die Sprache der Ehetherapie, wenn sie denn gut läuft, aber nicht die Sprache eines Pubertierenden.
16. Welche Funktion und Bedeutung hat die Schlagszene auf S. 56/57?
- Hier wird das, was schon früher angedeutet wurde, besonders drastisch deutlich, nämlich die Härte und Brutalität, zu der diese Frau fähig ist, auch fähig sein muss, um selbst überleben zu können.
- Bezeichnend führt die Angst, die Hanna erlitten hat, und der Schmerz, den der Junge erlitten hat, zu einer besonders intensiven Liebeserfahrung.
- Deutlich wird, dass zumindest ansatzweise Gleichrangigkeit erreicht worden ist: „Dann hatte auch ich von ihr Besitz zu nehmen gelernt.“ (56). Bezeichnenderweise verdeutlich auf S. 57 ein Gedicht, wie sehr der Junge zu dem Zeitpunkt das Gefühl hat, mit seiner Geliebten eins zu sein.
- Aber auch eine sehr rätselhafte Stelle gibt es auf der Seit: „Auf und seit unserer Fahrt haben wir nicht mehr nur Besitz voneinander ergriffen.“ Das macht nur Sinn, wenn darunter zu verstehen ist, dass es seit dem nicht mehr zwei zwar wechselseitig, aber letztlich doch einsträngig verlaufende Zugänge zwischen den beiden gibt, sondern dass es ein echtes In- und Miteinander ist.
Gruppe 7:
17. Liebt Hanna den Jungen auch? (S. 67)
- Auf S. 67 äußert sich der Erzähler sehr reserviert über Hannas Gefühle ihm gegenüber. Dies steht im deutlichen Kontrast zu dem, was zu S. 57 gesagt worden ist.
- Vielleicht ist diese Reserve dem gerade akuten „Gleitflug der Liebe“ geschuldet.
- Unabhängig davon aber lohnt es sich natürlich schon, von dieser Stelle aus einen allgemeinen Blick auf Hannas Verhältnis zu dem Jungen zu wagen – natürlich hier ganz im Horizont der ersten 16 Kapitel.
- So wie der Junge die ältere Frau benutzt zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse, so nimmt sie sich ihn, um Macht auszuüben und dabei etwas wie Wärme zu bekommen (s.o.) Ob man das Liebe nennen will, muss jedem selbst überlassen bleiben. Zumindest auf S. 57 deutet der Erzähler an, dass es ein echtes und volles In- und Miteinander war – wenn auch nur auf der beschränkten Basis des Sexuellen, denn im Bereich der Voraussetzungen und Interessen sind sie doch weit voneinander entfernt.
- Inwieweit das Vorlesen hier etwas ausgleicht und eine positive Perspektive hat, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall könnte die Hypothese diskutiert werden, dass hier ein gewisser Ausgleich stattfindet: Während Hanna den Jungen in die Welt des Sexuellen und damit der Erwachsenen einführt, hilft er ihr, der Welt der Kultur zumindest etwas näher zu kommen. Deutlich wird auf jeden Fall, dass sie hier sehr kindlich an die Dinge herangeht (vgl. S. 56) – aber auch ihre Einführung in die Welt des Sexuellen ist ja sehr einseitig, einmalig, nicht auch auf Transfer auf neue Beziehungen hin angelegt.
18. Wie ist der Hinweis auf das Böse auf S. 69 zu verstehen?
- Wenn man auf S. 69 die Feststellung liest: „das ist was drin, was Böses“, denkt man natürlich schnell an die Elemente der Gewalt, die von Hanna ausgehen. Noch stärker scheinen Bezüge zu sein, wenn man ihr Schicksal kennt, so wie es sich im zweiten Teil des Romans entfaltet.
- Wichtig ist hier aber die ganz eindeutige Festlegung des damals noch jugendlichen Erzählers, dass er eben nicht „Tigerin“ nennen will, weil er darin etwas „Böses“ sieht, was er Hanna ganz eindeutig nicht zuschreibt.
- Stattdessen wird ihr zugeschrieben, „etwas Gutes, Warmes, Weiches, Starkes“, wobei allenfalls das letzte Attribut vor dem Hintergrund spezieller Erfahrungen mit ihr störend und irritierend wirkt.
- Die einfachste Erklärung ist sicher die, dass der Junge das Gewalttätige und Schmerzen-Zufügende an Hanna als integralen Teil ihres Wesens begreift, der letztlich zu einer Intensivierung der Gemeinsamkeit führt (siehe S. 57).
19. Welche Funktion und Bedeutung haben die Seiten 70/71?
- Die beiden Seiten zeigen das vorläufige Ende des „Gleitflugs der Liebe“.
- Es wird deutlich, dass die Beziehung der beiden eine zu geringe Basis hat, gerade weil die jeweilige Lebenswelt nicht integriert ist. So wie der Junge praktisch nichts weiß vom wirklichen Leben seiner Geliebten, vor allem nicht ihrer Vergangenheit, so hat Hanna keinen Zugang zu seiner Welt, seinen Freunden. Bezeichnenderweise wird sie dort als Geheimnis bewahrt, nur die Auswirkungen dürfen sichtbar werden, nicht die konkreten Ursachen.
- Was von dieser Liebe übrig geblieben ist, ist „schlechte Laune“ bei Hanna und „Groll“ bei dem Jungen. Dazwischen der sexuelle Kontakt mit der schrägen Komponente der Erniedrigung.
Gruppe 8:
20. Welche Funktion und Bedeutung hat die Schwimmbad-Episode und ihre unmittelbare Vorgeschichte (S. 76-78)
- Überdeutlich ist der Hinweis auf S. 75: „Wir hatten keine gemeinsame Lebenswelt.“
- Ein zweiter Punkt ist die besondere Verfassung, in der sich Hanna am Ende ihrer Beziehung befindet: Erst im nachhinein wird deutlich, dass der Hintergrund dafür wohl das Aufstiegs-Angebot der Firma ist, das Hanna nicht annehmen kann, ohne sich zu verraten.
- Dann beginnen die Abschiedselemente: Wohl schon im Bewusstsein von Abschied und Verlust kommt es zu einem neuen sexuellen Höhepunkt, von Hanna bewusst inszeniert (S. 77) – dann entlässt sie ihn ganz eindeutig in seine Welt: „Jetzt ab zu deinen Freunden.“
- Seltsamerweise belässt Hanna es dabei nicht, sondern dringt in die Welt ihres Freundes ein, zu der sie doch nicht gehört, kaum gehören kann. Vielleicht fällt ihr ihre getroffene Entscheidung doch schwer, versucht sie ein letztes Mal, das Schicksal herauszufordern – aber es kann nicht funktionieren – und schon eine Kleinigkeit, eine kurzzeitig verlorener Blickkontakt lässt alle möglicherweise vorhandenen Hoffnungen zusammenbrechen – die Dinge müssen ihren Lauf nehmen.
- Dem Erzähler bleibt im Folgekapitel nur noch übrig, die notwendige Trennung für den Jungen und für den Leser sichtbar zu machen.
- Bis dahin wäre es eine Art Kurzgeschichte oder auch eine Novelle (mit dem „Falken“ des Bades) gewesen, ein bisschen lang geraten und mit viel auktorialer Erzählhaltung – als Leser hätte man einiges mit dem offenen Ende zu tun gehabt, hätte sicher lange gerätselt über die Frage, ob es schief gehen musste oder ob es doch Alternativen gegeben hätte. Dann aber wird schnell deutlich, dass das alles nur Vorgeschichte war, Präludium einer viel ungeheuerlicheren Geschichte. Fast fragt man sich, ob diese Vorgeschichte vor dem Hintergrund des Kommenden nicht etwas zu lang geraten ist. Aber vielleicht ergibt sich das eigentümlich Faszinierende dieses Romans gerade in dem Gegen- und zugleich Ineinander der Zeitebenen, der Welten und der Themen.
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