Hilde Domin, „Nicht müde werden“: Wie man sich viele Gedanken zu einem kurzen Gedicht machen kann

Gedichte sind an sich schon für viele Schüler eine große Herausforderung. Aber wenn diese Texte dann auch noch kurz sind und man viel schreiben muss oder möchte, dann wird es besonders schwierig.

Im folgenden soll an einem besonders kurzen Gedicht gezeigt werden, wie man sich gerade dann besonders viele Gedanken machen kann.

Es geht um das Gedicht „Nicht müde werden“ von Hilde Domin, das unter anderem hier zu finden ist.

  • Das kurze Gedicht beginnt mit einer besonderen Art von Aufforderung, die eher allgemeinen Charakter hat, ein Prinzip beschreibt, dem man folgen sollte.
  • Unklar bleibt die Situation, auf die sich diese Aufforderung oder dieser Ratschlag bezieht. Damit bekommt der Leser ganz viel Mitspracherecht.
  • Dem unerwünschten Verhalten wird ein anderes entgegengesetzt, das gleich zum Maximum dessen greift, was der Mensch im Leben erwarten kann, nämlich zu einem Wunder.
  • Es ist die Frage, inwieweit die Ausgangssituation eine ist, aus der man nur durch ein Wunder heraus kommt.
  • Dieses Wunder ist offensichtlich ein scheues Wesen wie ein Vogel, der zunächst in dem angemessenen Sicherheitsabstand vor einem sitzt.
  • Und dann ist es sicherlich die beste Verhaltensweise, wenn man mit diesem Vogel in Kontakt kommen will, zum Beispiel um ihm etwas Futter zu erreichen oder ihn näher zu betrachten, wenn man ihm die Hand hinhält und das leise tut.
  • Die Verwendung eines Wortes, das sich nicht auf Bewegung bezieht, die einen Vogel erschrecken könnte, sondern auf den maximal möglichen Verzicht, ein Geräusch zu verursachen, ist zunächst einmal verwunderlich. Denn eine schnelle Bewegung würde den Vogel wohl noch mehr erschrecken als ein in normaler Tonlage gesprochenes Wort.
  • Aber dieses „leise“ ist möglicherweise die beste Variante, mit der man das Behutsame, das Sich-nicht-selbst-sofort-in-den-Vordergrund-Spielende “ deutlich macht.
  • Mit dem Wort leise verbinden wir hier auch die Vorstellung von „kaum wahrnehmbar“, „nicht auffallend.“ Und das scheint eine Verhaltensweise zu sein, die dem Empfang des Wunders förderlich ist.
  • Dann fehlt noch ein genaueres Eingehen auf die Bewegung des „die-Hand-Hinhaltens“. Im Hinblick auf ein mögliches Wunder heißt das wohl, dass man auch seinen eigenen Beitrag leisten muss, damit es zu einer Begegnung kommt.
  • Bleibt die Frage, warum dieses Wunder so wichtig ist. Ganz offensichtlich geht es um etwas, wonach man lange gestrebt hat, sonst bestünde nicht die Gefahr des „Müde-Werdens“.
  • Und es muss wohl etwas sein, was jenseits der Grenze des normal Erreichbaren liegt. Sonst bedürfte es keines Wunders.
  • Damit sind wir endgültig auf der zweiten Stufe des Umgangs mit Kunst angelangt, nämlich der Übertragung dessen, was das Gedicht ausdrückt, auf eine selbst gewählte Situation.
  • Der richtige Beruf ist wohl zu wenig, um ein Wunder zu brauchen. Das könnte höchstens nötig sein bei Berufen, bei denen es nur wenige Stellen gibt. Mehr Sorgen und Mühe dürfte es wohl machen, den richtigen Partner im Leben zu finden. Oder eine Aufgabe, die einem mehr bringt als Geld.
  • Auf jeden Fall geht es wohl um eine Haltung, in der Behutsamkeit mit Bereitschaft verbunden wird.
  • Offen oder auch etwas fragwürdig bleibt, dass das Gedicht von einer Situation ausgeht, in der das Wunder schon da ist und man nur noch vorsichtig mit ihm umgehen muss.
  • Aber auch hier kann man ja als Betrachter eine Lösung finden, in der man sich ein Wunder vorstellt, was zunächst noch gar nicht sichtbar ist, was die Müdigkeit bei der Jagd nach ihm auslöst. Und das leise Hinhalten der eigenen Hand würde dann auch bedeuten, dass man nicht übertreibt bei der Suche, sondern Geduld hat, aber aufmerksam bleibt.

Insgesamt ein Gedicht,