Hilde Domin, Unaufhaltsam (Mat4121)

Titel:

  • Der Titel macht zunächst nur aufmerksam auf die Besonderheit eines Vorgangs.
  • Die besteht darin, dass er in einer Bewegung ist, die nicht aufgehalten werden kann.

Versgruppe 1 = Zeile 1-3

  • Die erste Strophe klärt dann, um was für eine Bewegung es geht. Dass etwas, das eigentlich abgeschlossen ist (gesprochen) trotzdem in Bewegung ist oder an einem Ort, an dem es nicht bleiben soll.
  • Außerdem wird geklärt, dass es hier nicht nur um ein Aufhalten geht, sondern um ein Zurückholen. Das bedeutet, dass tatsächlich dieses Wort ein potentiell fortwährend wirkender Sprengkörper ist, richtig etwas Unangenehmes oder Gefährliches auslöst beziehungsweise bewirkt.
  • Der Rest der ersten Strophe beschäftigt sich mit dem Übergang vom nur Gesprochenen zum Lebendigen, also Sich-Bewegenden, Aktiven, etwas Bewirkenden
  • Damit wird noch einmal betont, dass Wörter oder Sprache allgemein nicht der statische Inhalt eines Lexikons und einer Grammatik sind, auch nicht nur im Sprechakt miteinander verbunden werden und dann war’s das.
  • Nein: Wenn man etwas sagt, setzt man etwas in Bewegung, löst man etwas aus.

Exkurs: Versuch, das für sich zu verstehen

  • Wer will, kann sich an dieser Stelle schon mal überlegen, ob er eine entsprechende Situation kennt. Das hilft, sich mit dem weiteren Verlauf des Gedichtes auseinanderzusetzen. Man darf sich nur nicht zu sehr auf diese eine Situation konzentrieren, denn das Gedicht könnte ja noch in eine andere Richtung gehen.
  • Uns fällt zum Beispiel eine Stelle in dem Roman „Homo Faber“ von Max Frisch ein, die man auch versteht, wenn man diesen Roman nicht kennt:
  • Darin geht es darum, dass eine Frau ihrem Freund mitteilt, dass sie schwanger ist. Und dessen Reaktion darauf besteht aus dem Zugeständnis: „Wenn du dein Kind haben willst, dann müssen wir natürlich heiraten.“ (EB42) Im nachhinein korrigiert Faber sich dann zwar: „Ich hatte gesagt: Dein Kind, statt zu sagen: Unser Kind.“ Aber das kommt erst später und nimmt nicht mal die Einstellung zum Heiraten zurück: Heiraten wollte ich dich eigentlich nicht, aber wegen des Kindes müssen wir das jetzt halt machen.
  • Genau so kann man aber diese Situation so weiter denken, dass der Mann das versucht und das nicht mehr gelingt. In dem Fall hätte die Frau einfach begriffen, dass dieser Satz die wirklichen Gefühle des Mannes ausgedrückt hat. Das kann dann möglicherweise für sie nicht mehr zurückgenommen werden. Was jetzt noch gesagt würde, würde ihr als Lüge vorkommen.

Versgruppe 2, Teil 1: Zeilen 4-7

  • Die nächsten vier Zeilen des Gedichtes machen an Bildern deutlich, wie ein Wort um sich herum das Leben zerstören kann.

Versgruppe 2, Teil 2: Zeilen 8-11

  • Diese vier Zeilen betonen noch einmal die Nicht-Rückholbarkeit eines gesprochenen Wortes, im Vergleich zu einem Vogel.
  • Das gilt zwar nicht für alle Fälle, soll aber wohl  deutlich machen, dass bei einem Vogel zumindest die Möglichkeit bestünde – im Unterschied zu einem gesprochenen Wort.

Versgruppe 2, Teil 3: 12-13

  • Hier wird der von uns schon angedachte Fall präsentiert, bei dem andere Worte hinterher geschickt werden.
  • Die Hinzufügung von „bunten weichen Federn“ steht wohl für den Versuch, etwas Negatives durch besonders Positives auszugleichen.

 

Versgruppe 2, Teil 4: 14-18

  • Diese fünf  Zeilen betonen zunächst einmal die Geschwindigkeit einer negativen Äußerung – gefasst hier in der Verbindung des Wortes mit der Farbe schwarz.
  • Es folgt ein zweifacher Hinweis auf das Ankommen, einmal ganz allgemein, dann aber in der Weise, dass sich das Ankommen ständig wiederholt. Das kann man so verstehen, dass diese möglicherweise unbedachte Äußerung dem Betroffenen immer wieder in den Sinn kommt und dann neu seine Wirkung entfaltet.
  • Es folgt ein Vergleich mit einer Waffe, die auch zum schnellen Tod führen kann.
  • Bei der – so wird betont – besteht aber die Möglichkeit, dass das Messer am Herzen vorbei trifft.

Kritische Anmerkung 1

  • Das ist übrigens eine Stelle, die zunächst mal nicht zu passen scheint. Denn auch ein negatives Wort kann ja auch knapp am problematischen Verständnis vorbeifliegen.
  • Das zeigt zum einen, dass auch in großer Dichtung nicht immer alles völlig stimmen muss.
  • Zum anderen kann sich der Leser ja auch aufgefordert fühlen, diese Stelle noch besser zu gestalten. Das wäre dann eine kreative Variante von Interpretation, die wirkliches Nachdenken erfordert.

Versgruppe 3, 19-23

  • Die Schlusszeilen machen deutlich, dass ein gesprochenes Wort den Charakter des Endgültigen haben kann.

Kritische Anmerkung 2

  • Aber auch muss eingeschränkt werden, es wäre ja auch furchtbar, wenn man sich nicht mehr korrigieren könnte.
  • Aber die Formulierung des Gedichts lässt natürlich auch offen, welches Wort am Ende das Sagen hat und seine fortdauernde Wirkung entfaltet. Es kann ja auch eine positive Rücknahme des ersten Worte sein.

Thema und Aussage des Gedichts:

  • Das Gedicht beschäftigt sich mit der Frage, welche Wirkung Worte haben.
  • Es betont dann besonders die gefährliche Auswirkung von negativen Äußerungen.
  • Hervorgehoben werden vor allen Dingen die Schnelligkeit und die Dauerhaftigkeit gesprochener Wörter.

Bedeutung des Gedichtes:

  • Es bleibt dem Leser überlassen, wie er mit diesem Phänomen umgeht und inwieweit er nach Möglichkeiten sucht, einen solchen Fall zu vermeiden oder etwas im Nachhinein auch zu reparieren beziehungsweise in Ordnung zu bringen.
  • Letztlich geht es aber nicht nur um Vorsicht beim Sprecher, sondern auch  beim Hörer.
  • Zur menschlichen Kommunikation gehört eben auch, dass zum einen vieles auf dem Gefühl des Augenblicks heraus gesagt wird und zweitens dass man dabei auch nicht über alles genügend nachgedacht hat.
  • Es würde den Sinn menschlicher Kommunikation ins Gegenteil verkehren, wenn nicht die Notwendigkeit und die Möglichkeit der Korrektur von vornherein von beiden Seiten einkalkuliert worden ist.

Weiterführende Hinweise