Im Detail erklärt: Hugo von Hofmannsthal, „Der Brief des Lord Chandos“ Text (Mat5714)

Worum es hier geht:

Hier präsentieren wir eine Detail-Erklärung des berühmten fiktiven Briefes des ebenso fiktiven Lord Chandos an seinen Freund Francis Bacon.

Eine Kurzerklärung mit Auswertung und kritischen Ansätzen findet sich hier:
https://textaussage.de/schnell-durchblicken-hugo-von-hofmannsthal-der-brief-des-lord-chandos

Die Zusammenfassung und kritische Anmerkungen haben wir am Ende hier drin gelassen, um unnötiges Hin- und Herschalten zu vermeiden.

Den Text kann man im Original hier finden.

Wir haben ihn im Hinblick auf die Abschnitte durchnummeriert. Dann kann jeder in seiner Textausgabe die entsprechende Passage schnell finden.

Außerdem haben wir die Abschnitte zusammengefasst, auf Schlüsselzitate hin gekürzt und – je nach Wichtigkeit – auch kommentiert.

Die Absatznummer behalten wir bei und zitieren auf jeden Fall auch den Anfang des Abschnittes, damit man ihn selbst schnell finden kann.

Originalwortlaut findet sich immer in Kursivschrift. Anmerkungen und Kommentare in Normalschrift und zur Unterscheidung dunkelblau formatiert.

Hugo von Hofmannsthal

Ein Brief

(auch: Brief des Lord Chandos an Francis Bacon)

  1. Dies ist der Brief, den Philip Lord Chandos, […] schrieb, um sich bei diesem Freunde wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu entschuldigen.
    • Vorstellung des Briefes: Inhalt und Anlass = Entschuldigung, weil Lord Chandos als Schriftsteller länger nichts veröffentlicht hat.
  2. Es ist gütig von Ihnen, mein hochverehrter Freund, mein zweijähriges Stillschweigen zu übersehen und so an mich zu schreiben. Es ist mehr als gütig, Ihrer Besorgnis um mich, Ihrer Befremdung über die geistige Starrnis, in der ich Ihnen zu versinken scheine, den Ausdruck der Leichtigkeit und des Scherzes zu geben, den nur große Menschen, die von der Gefährlichkeit des Lebens durchdrungen und dennoch nicht entmutigt sind, in ihrer Gewalt haben.
    • Der Schreiber bedankt sich für die Nachsicht des Freundes, vor allem auch, weil die Formulierungen im Brief anscheinend Leichtigkeit und Ansätze von Scherz enthalten. Er glaubt, dass nur „große Menschen“ zu so was fähig sind, weil sie wissen, was einem alles passieren kann.
  3. Sie schließen mit dem Aphorisma des Hippokrates:
    […]
    Ich möchte Ihnen so antworten, wie Sie es um mich verdienen, möchte mich Ihnen ganz aufschließen, und weiß nicht, wie ich mich dazu nehmen soll. Kaum weiß ich, ob ich noch derselbe bin, an den Ihr kostbarer Brief sich wendet; bin denn ich’s, der nun Sechsundzwanzigjährige, der mit neunzehn jenen »neuen Paris«, jenen »Traum der Daphne«, jenes »Epithalamium« hinschrieb, diese unter dem Prunk ihrer Worte hintaumelnden Schäferspiele, deren eine himmlische Königin und einige allzu nachsichtige Lords und Herren sich noch zu entsinnen gnädig genug sind?

    • Lord Chandos will ausführlich antworten, deutet aber an, dass er sich überhaupt nicht mehr vorstellen kann, dass frühere Werke von ihm so hochgeschätzt werden.
  4. Und bin ich’s wiederum, der mit dreiundzwanzig
    [so begeistert war von vielem]
    Und konnte ich, wenn ich anders derselbe bin, alle Spuren und Narben dieser Ausgeburt meines angespanntesten Denkens so völlig aus meinem unbegreiflichen Inneren verlieren, daß mich in Ihrem Brief, der vor mir liegt, der Titel jenes kleinen Traktates fremd und kalt anstarrt, ja daß ich ihn nicht als ein geläufiges Bild zusammengefaßter Worte sogleich auffassen, sondern nur Wort für Wort verstehen konnte, als träten mir diese lateinischen Wörter, so verbunden, zum ersten Mal vors Auge?

    • Er ist jetzt erstaunt, dass er mit dem, was er früher geschrieben hat, nichts mehr anfangen kann, nicht einmal den Titel mehr richtig begreift. Er kann ihn nur noch „Wort für Wort verstehen „, als ob er die Wörter zum ersten Mal sehen würde.
  5. Allein ich bin es ja doch, und es ist Rhetorik in diesen Fragen, Rhetorik, die gut ist für Frauen oder für das Haus der Gemeinen, deren von unsrer Zeit so überschätzte Machtmittel aber nicht hinreichen, ins Innere der Dinge zu dringen.
    • Er sieht in seinen alten Texten Rhetorik, lehnt sie aber jetzt ziemlich arrogant und frauenfeindlich ab, weil man so nicht „ins Innere der Dinge“ dringen kann.
      Das erinnert ein bisschen an Goethes Faust, der wissen will, „was die Welt im Innersten  zusammenhält.“
  6. Mein Innres aber muß ich Ihnen darlegen, eine Sonderbarkeit, eine Unart, wenn Sie wollen eine Krankheit meines Geistes, wenn Sie begreifen sollen, daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt, als von denen, die hinter mir sind und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere.
    • Chancos sieht einen Abgrund zwischen seinem jetzigen Denken und Verstehen und dem, was er früher geschrieben hat.
  7. Ich weiß nicht, ob ich mehr die Eindringlichkeit Ihres Wohlwollens oder die unglaubliche Schärfe Ihres Gedächtnisses bewundern soll, wenn Sie mir die verschiedenen kleinen Pläne wieder hervorrufen, […]

    • Hier nimmt er die Projekte auf, an die sein Freund ihn mahnend erinnert hat.
  8. Die hinterlassenen Aufzeichnungen meines Großvaters
    […]
    hier geht es um die Erkenntnis
    jener tiefen wahren inneren Form, die jenseits des Geheges der rhetorischen Kunststücke erst geahnt werden kann, die, von welcher man nicht mehr sagen kann, daß sie das Stoffliche anordne, denn sie durchdringt es, sie hebt es auf und schafft Dichtung und Wahrheit zugleich, ein Widerspiel ewiger Kräfte, ein Ding, herrlich wie Musik und Algebra. Dies war mein Lieblingsplan.

    • Man merkt hier deutlich, welch ausufernde Pläne beim Schreiben Chandos hatte.
  9. Was ist der Mensch, daß er Pläne macht!
    • Eine Art biblische Klage.
  10. Ich spielte auch mit anderen Plänen. Ihr gütiger Brief läßt auch diese heraufschweben. Jedweder vollgesogen mit einem Tropfen meines Blutes, tanzen sie vor mir wie traurige Mücken an einer düsteren Mauer, auf der nicht mehr die grelle Sonne der glücklichen Tage liegt.
    • Hier wird in einem schönen Bild beschrieben, was ihm verlorengegangen ist, nämlich die „Sonne“, die die „Mücken “ der Pläne und Projekte gewärmt und belichtet hat.
  11. Ich wollte die Fabeln und mythischen Erzählungen, welche die Alten uns hinterlassen haben, und an denen die Maler und Bildhauer ein endloses und gedankenloses Gefallen finden, aufschließen als die Hieroglyphen einer geheimen, unerschöpflichen Weisheit, deren Anhauch ich manchmal, wie hinter einem Schleier zu spüren meinte.
    • Hier wendet er sich den antiken Mythen zu und beschreibt sein Projekt, bei ihnen die „Hieroglyphen einer geheimen, unerschöpflichen Weisheit“ zu entdecken.
    • Man merkt doch hier wieder, wie hochgesteckte die Ziele des Lords sind und wie sehr sie dem Bemühen um einen schon fast romantischen Tiefgang entsprechen. (Hat wieder Ähnlichkeit mit dem Streben von Goethes Faust).
  12. Ich entsinne mich dieses Planes. Es lag ihm ich weiß nicht welche sinnliche und geistige Lust zugrunde: wie der gehetzte Hirsch ins Wasser, sehnte ich mich hinein in diese nackten glänzenden Leiber, in diese Sirenen und Dryaden, diesen Narcissus und Proteus, Perseus und Actäon: verschwinden wollte ich in ihnen, und aus ihnen heraus mit Zungen reden. Ich wollte. Ich wollte noch vielerlei. Ich gedachte eine Sammlung »Apophthegmata« anzulegen, wie deren eine Julius Caesar verfaßt hat: Sie erinnern die Erwähnung in einem Brief des Cicero.
    • Hier wird deutlich, wie tief der Lord in diese alten Geschichten einsteigen will, geradezu mit persönlicher Beteiligung.
  13. Hier gedachte ich die merkwürdigsten Aussprüche nebeneinander zu setzen, welche mir im Verkehr mit den gelehrten Männern und den geistreichen Frauen unserer Zeit, oder mit besonderen Leuten aus dem Volk, oder mit gebildeten und ausgezeichneten Personen auf meinen Reisen zu sammeln gelungen wäre; damit wollte ich schöne Sentenzen und Reflexionen aus den Werken der Alten und der Italiener vereinigen und was mir sonst an geistigem Zierathen in Büchern, Handschriften oder Gesprächen entgegenträte; ferner die Anordnung besonders schöner Feste und Aufzüge, merkwürdige Verbrechen und Fälle von Raserei, die Beschreibung der größten und eigentümlichsten Bauwerke in den Niederlanden, in Frankreich und Italien und noch vieles andere. Das ganze Werk aber sollte den Titel ‚Nosce te ipsum‘ führen.
    • Hier weitet sich der Blick noch aus, umfasst alle möglichen Bereiche des sozialen und kulturellen Lebens. Als Ziel wird Selbsterkenntnis formuliert.
    • Als Leser hat man immer mehr den Eindruck (Leserlenkung), dass hier jemand sich einfach übernimmt und daran möglicherweise gescheitert ist.
  14. Um mich kurz zu fassen: Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden, ebensowenig höfisches und tierisches Wesen, Kunst und Unkunst, Einsamkeit und Gesellschaft; in allem fühlte ich Natur, in den Verirrungen des Wahnsinns ebensowohl wie in den äußersten Verfeinerungen eines spanischen Zeremoniells; in den Tölpelhaftigkeiten junger Bauern nicht minder als in den süßesten Allegorien; und in aller Natur fühlte ich mich selber; wenn ich auf meiner Jagdhütte die schäumende laue Milch in mich hineintrank, die ein struppiges Mensch einer schönen sanftäugigen Kuh aus dem strotzenden Euter in einen Holzeimer niedermolk, so war mir das nichts anderes, als wenn ich, in der dem Fenster eingebauten Bank meines studio sitzend, aus einem Folianten süße und schäumende Nahrung des Geistes in mich sog.
    • Hier beschreibt der Lord selbst, welchen umfassenden Ansatz er verfolgt hat. Alles steht im Zeichen der Natur und gemeint ist damit wohl der große, kosmische Zusammenhang, der auf fast schon göttliche Art und Weise alles umfasst.
    • Interessant der Vergleich eines Milchtrunks, direkt aus einem Euter mit der Arbeit in der eigenen Bibliothek an irgendeinem Projekt.
    • Wenn man gerade Goethes Wörter gelesen hat, dann spürt man hier dieselbe Schwärmerei in Worten und Gedanken. Vor allem dieser Ansatz, fast gottähnlich alles überblicken zu können, passt zur  Hybris des Sturm und Drang.
  15. Das eine war wie das andere; keines gab dem andern weder an traumhafter überirdischer Natur, noch an leiblicher Gewalt nach, und so gings fort durch die ganze Breite des Lebens, rechter und linker Hand; überall war ich mitten drinnen, wurde nie ein Scheinhaftes gewahr: Oder es ahnte mir, alles wäre Gleichnis und jede Kreatur ein Schlüssel der anderen, und ich fühlte mich wohl den, der im Stande wäre, eine nach der andern bei der Krone zu packen und mit ihr so viele der andern aufzusperren, als sie aufsperren könnte. Soweit erklärt sich der Titel, den ich jenem enzyklopädischen Buch zu geben gedachte.
    • Hier beschreibt der Lord noch weiter sein Projekt einer Enzyklopädie. Er spricht selbst von einem überirdischen Ansatz, was unsere Hypothese des Anspruchs auf Gottähnlichkeit unterstreicht.
  16. Es möchte dem, der solchen Gesinnungen zugänglich ist, als der wohlangelegte Plan einer göttlichen Vorsehung erscheinen, daß mein Geist aus einer so aufgeschwollenen Anmaßung in dieses Äußerste von Kleinmuth und Kraftlosigkeit zusammensinken mußte, welches nun die bleibende Verfassung meines Inneren ist. Aber dergleichen religiöse Auffassungen haben keine Kraft über mich; sie gehören zu den Spinnennetzen, durch welche meine Gedanken durchschießen, hinaus ins Leere, während so viele ihrer Gefährten dort hangen bleiben und zu einer Ruhe kommen. Mir haben sich die Geheimnisse des Glaubens zu einer erhabenen Allegorie verdichtet, die über den Feldern meines Lebens steht wie ein leuchtender Regenbogen, in einer stetigen Ferne, immer bereit, zurückzuweichen, wenn ich mir einfallen ließe, hinzueilen und mich in den Saum meines Mantels hüllen zu wollen.
    • In diesem Abschnitt findet sich zunächst so etwas wie Selbstkritik. Offensichtlich hat Chandos doch selbst gemerkt, dass er seine Möglichkeiten überspannt hat und wie niederstürzend das Ergebnis davon sein könnte.
    • Das wird dann aber gleich wieder relativiert, wenn nicht sogar verneint. Man hat den Eindruck, die Bescheidenheit eines Glaubens erscheint ihm nur als ein Netz, das einem Sicherheit gibt, aber einen auch einsperrt.
    • Dem gegenüber zeigt er eine spezielle Art von romantischem Selbstbewusstsein, nämlich ein Beibehalten der Überheblichkeit.
    • Als Leser ist man jetzt gespannt, ob die Elemente der Einsicht sich im Laufe des Briefes verstärken werden oder aber der Widerstand dagegen. Letztlich wäre dieser Lord dann ein hoffnungsloser Fall.
      Wir setzen das hier noch fort – bitte etwas Geduld!
  17. Aber, mein verehrter Freund, auch die irdischen Begriffe entziehen sich mir in der gleichen Weise. Wie soll ich es versuchen, Ihnen diese seltsamen geistigen Qualen zu schildern, dies Emporschnellen der Fruchtzweige über meinen ausgereckten Händen, dies Zurückweichen des murmelnden Wassers vor meinen dürstenden Lippen?
    • Diesen Abschnitt versteht man nur, wenn man zunächst feststellt, dass Chandos ein Problem mit Worten hat.
    • Was das für ein Problem ist, wird klarer, wenn man die Sage von Sisyphos kennt. Der hat sich gegen die Götter erhoben und ist in der Weise bestraft worden, dass er das Lebensnotwendige, wonach er strebt, niemals bekommt. Sowohl die Früchte als auch der Wasserspiegel vor ihm entfernen sich von ihm in gleichen Maße, wie er sich zu nähern scheint.
    • So versteht sich jetzt auch dieser Lord: Je mehr er sich dem Inhalt der Wörter und ihrem Zusammenhang zu nähern versucht, umso mehr entziehen sie sich ihm.
  18. Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.
    • In diesem Abschnitt bringt der Lord sein Problem präzise auf den Punkt. Es besteht darin, dass er nicht mehr zusammenhängend denken und sprechen kann.
    • Leserlenkung: Der aufmerksame Leser merkt natürlich, dass diese Selbsteinschätzung in keiner Weise dem entspricht, was der Mann hier ja schließlich fortlaufend präsentiert.
    • Dieser Brief ist ja auf hohem Niveau geschrieben und zeigt auch einen entsprechenden gedanklichen und sprachlichen Zusammenhang. Bleibt die Frage, was die Text des Briefes mit oder ohne Absicht des Verfassers uns damit verdeutlichen will.
  19. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urtheil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.
    • Dieser Abschnitt ist wohl der wichtigste des ganzen Briefes. Hier schreibt Chandos nämlich, wie er zumindest das Gefühl für Sprache real oder scheinbar verloren hat.
    • Leserenkung: Wer schon mal eine entsprechende Erfahrung gemacht hat, dem wird hierzu vielleicht einfallen: Je länger man auf irgendetwas starrt, desto unklarer wird es und desto unsicherer wird man selbst. Das gilt zum Beispiel für Fälle von Rechtschreibung, aber auch für körperliche Aktivitäten, wie zum Beispiel das ganz natürliche Gehen. Wenn man anfängt, darüber nachzudenken, ist man kurz davor zu stolpern.
  20. Es begegnete mir, daß ich meiner vierjährigen Tochter Catarina Pompilia eine kindische Lüge, deren sie sich schuldig gemacht hatte, verweisen und sie auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, hinführen wollte, und dabei die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen, daß ich, den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn, das Kind allein ließ, die Tür hinter mir zuschlug und mich erst zu Pferde, auf der einsamen Hutweide einen guten Galopp nehmend, wieder einigermaßen herstellte.
    • Hier beschreibt der Lord einen konkreten Vorfall innerhalb seiner Familie. Der macht ebenfalls deutlich, wie ihm in einer angespannten Situation plötzlich die Worte regelrecht verloren gegangen sind.
    • Man müsste mal recherchieren, unter welchen Bedingungen so etwas in der Realität vorkommen kann.
    • ChatGPT dazu: „Ein plötzlicher geistiger Aussetzer oder Verwirrungszustand kann durch verschiedene Faktoren verursacht werden, darunter Stress, Müdigkeit, Migräne, niedriger Blutzucker, vorübergehende Durchblutungsstörungen im Gehirn oder sogar vorübergehende emotionale Überlastung.“ Wir würden am ehesten Stress und emotionale Überlastung vermuten, denn das passt zu der Erfahrung, dass man bei zu viel Intensität manchmal die Kontrolle im Bereich der Normalität verliert.
  21. Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. Es wurden mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urtheile, die leichthin und mit schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, daß ich aufhören mußte, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen.
    • Das entscheidende Wort ist hier sicherlich „Anfechtung“. Das bedeutet ja, dass da plötzlich eine Herausforderung auf jemanden zukommt, der er möglicherweise nicht gewachsen ist.
    • Außerdem könnte man zur Erklärung des Phänomens auch noch hinzufügen, dass jemand unter Anspannung zum Beispiel ins Stottern gerät, also nicht mehr zusammenhängend sprechen kann.
    • Normalerweise fängt man dann ja auch an, einen Teil der Gehirnkapazität abzulenken auf die Behebung des Stressproblems.
    • Das senkt dann noch weiter die Aufmerksamkeit und erhöht damit die Möglichkeit von Aussetzern.
  22. Mit einem unerklärlichen Zorn, den ich nur mit Mühe notdürftig verbarg, erfüllte es mich, dergleichen zu hören wie: diese Sache ist für den oder jenen gut oder schlecht ausgegangen; Sheriff N. ist ein böser, Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist zu bedauern, seine Söhne sind Verschwender; ein anderer ist zu beneiden, weil seine Töchter haushälterisch sind; eine Familie kommt in die Höhe, eine andere ist am Hinabsinken. Dies alles erschien mir so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich. Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und Handlungen.
    • Hier liefert der Text anscheinend den Schlüssel zum Verständnis des Problems.
    • Es geht nämlich darum, dass man sich bestimmten Dingen zu sehr nähert, als dass man sie noch auf die gewohnte Weise betrachten könnte.
    • Das muss natürlich zu Unsicherheit führen. Denn das Wesen des Normalen ist ja gerade, dass man sich ihm einigermaßen sicher hingeben kann.
    • Wenn man anfängt, darüber nachzudenken, es gewissermaßen von außen zu betrachten, geht diese Sicherheit verloren.
    • Und genau das passiert hier beziehungsweise wird vom Lord beschrieben
  23. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.
    • Wenn hier vom vereinfachenden Blick der Gewohnheit“ gesprochen wird, so ist das genau das, was wir eben versucht haben, schon mal erklärungsmäßig vorwegzunehmen.
  24. Ich machte einen Versuch, mich aus diesem Zustand in die geistige Welt der Alten hinüberzuretten. Platon vermied ich, denn mir graute vor der Gefährlichkeit seines bildlichen Fluges. Am meisten gedachte ich mich an Seneca und Cicero zu halten. An dieser Harmonie begrenzter und geordneter Begriffe hoffte ich zu gesunden. Aber ich konnte nicht zu ihnen hinüber. Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles Verhältnisspiel vor mir aufsteigen wie herrliche Wasserkünste, die mit goldenen Bällen spielen. Ich konnte sie umschweben und sehen wie sie zueinander spielten; aber sie hatten es nur miteinander zu tun und das Tiefste, das persönliche meines Denkens blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen. Es überkam mich unter ihnen das Gefühl furchtbarer Einsamkeit; mir war zumuth wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre; ich flüchtete wieder ins Freie.
    • In diesem Abschnitt beschreibt er den Versuch, sich gewissermaßen an den Autoritäten der Antike aufzurichten.
    • Er muss aber feststellen, dass das völlig misslingt.
    • Als Grund dafür wird die Entfernung zwischen dem Denken von vor fast 2000 Jahren und seinen eigenen persönlichen Befindlichkeiten genannt.
  25. Seither führe ich ein Dasein, das Sie, fürchte ich, kaum begreifen können, so geistlos, ja gedankenlos fließt es dahin; ein Dasein, das sich freilich von dem meiner Nachbarn, meiner Verwandten und der meisten landbesitzenden Edelleute dieses Königreiches kaum unterscheidet, und das nicht ganz ohne freudige und belebende Augenblicke ist. Es wird mir nicht leicht, Ihnen anzudeuten, worin diese guten Augenblicke bestehen; die Worte lassen mich wiederum im Stich. Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes, und auch wohl kaum Benennbares, das in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Leben wie ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet.
    • In diesem Abschnitt gibt es zwei interessante Aspekte:
      • Zum einen hat man das Gefühl einer gewissen Arroganz, mit der du Lorde auf Leute herabblickt, die nicht auf seine Art und Weise denken.
        So etwas hat er ja ganz am Anfang schon mal im Hinblick auf die bildende Kunst formuliert.
      • Zum anderen ist interessant, dass er hier Momente beschreibt, die ihn in eine besondere innere Situation versetzen. Da überkommt ihn anscheinend etwas und dann ist der Leser gespannt, was das ist. Es muss irgendeine Art von Ergriffenheit sein. Man könnte auch sagen, er wird von irgendetwas überschwemmt.
  26. Ich kann nicht erwarten, daß Sie mich ohne Beispiel verstehen, und ich muß Sie um Nachsicht für die Kläglichkeit meiner Beispiele bitten. Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.
    • Jetzt wird es ziemlich heftig.
    • Es beginnt mit dem Hinweis darauf, dass man nicht mal unbedingt für die Entfaltung von Fantasie den Gegenstand vor sich haben muss. Man kann ihn sich auch vorstellen.
    • Dann aber wählt der Lord ein Beispiel, das nicht jeder Empfänger einer solchen Nachricht gut finden wird.
    • Damit lenkt er eigentlich von der anregenden Qualität seiner Idee ab. Man kann jetzt selbst mal überlegen, welches angenehmere Beispiel man präsentieren könnte.
    • Bei uns hat die Beschreibung des Todeskampfes dieser Ratten nur Ablehnung ausgelöst. Wir hatten keine Lust, uns mit den Ekelfantasien dieses Herrn näher zu beschäftigen, selbst wenn er nur fiktiv existiert.
    • Spannender ist die Frage, warum Hofmannsthal seine literarische Idee in diese Richtung ausgestaltet. Will er bei uns als Leser vielleicht Widerstand und selbstständiges Alternativ-Denken auslösen. Wäre schön, würde uns gefallen.
  27. Ja, es kann auch die bestimmte Vorstellung eines abwesenden Gegenstandes sein, der die unbegreifliche Auserwählung zu Theil wird, mit jener sanft oder jäh steigenden Flut göttlichen Gefühles bis an den Rand gefüllt zu werden. So hatte ich unlängst den Auftrag gegeben, den Ratten in den Milchkellern eines meiner Meierhöfe ausgiebig Gift zu streuen. Ich ritt gegen Abend aus und dachte, wie Sie vermuten können, nicht weiter an diese Sache. Da, wie ich im tiefen aufgeworfenen Ackerboden Schritt reite, nichts Schlimmeres in meiner Nähe als eine aufgescheuchte Wachtelbrut und in der Ferne über den welligen Feldern die große sinkende Sonne, tut sich mir im Innern plötzlich dieser Keller auf, erfüllt mit dem Todeskampf dieses Volks von Ratten.
    • Diesen Abschnitt haben wir nur überflogen. Wir hatten auf die Details keine Lust.
    • Als Leser hat man glücklicherweise das Recht, sich seine Textfreunde bzw. -passagen auszusuchen. Vielleicht kann man mit der Lehrkraft – ausgehen diesem Beispiel – mal über diese Frage sprechen.
  28. Alles war in mir: die mit dem süßlich scharfen Geruch des Giftes angefüllte kühl-dumpfe Kellerluft und das Gellen der Todesschreie, die sich an modrigen Mauern brachen; diese ineinander geknäulten Krämpfe der Ohnmacht, durcheinander hinjagenden Verzweiflungen; das wahnwitzige Suchen der Ausgänge; der kalte Blick der Wut, wenn zwei einander an der verstopften Ritze begegnen. Aber was versuche ich wiederum Worte, die ich verschworen habe!
    • Siehe oben, der Mann kommt einfach nicht von seiner dunklen Fantasie los. Scheint sein Problem zu sein. Nur gab es damals noch keine Psychotherapeuten, die ihm hätten helfen können – zumindest kann Hofmannsthal ihm für das frühe 17. Jhdt. so was nicht anbieten.
  29. Sie entsinnen sich, mein Freund, der wundervollen Schilderung von den Stunden, die der Zerstörung von Alba Longa vorhergehen, aus dem Livius? Wie sie die Straßen durchirren, die sie nicht mehr sehen sollen … wie sie von den Steinen des Bodens Abschied nehmen … Ich sage Ihnen, mein Freund, dieses trug ich in mir und das brennende Karthago zugleich; aber es war mehr, es war göttlicher, tierischer; und es war Gegenwart, die vollste erhabenste Gegenwart.
    • Es gibt ja von Kommunikationsexperten den Begriff der Selbstoffenbarungsfunktion. Und was Hofmannsthal diesen Lord hier äußern lässt, wirft wirklich kein gutes Bild auf ihn. Statt Mitgefühl zu zeigen, gibt ihm das Leiden der anderen ein Gefühl von Erhabenheit.
  30. Da war eine Mutter, die ihre sterbenden Jungen um sich zucken hatte und nicht auf die Verendenden, nicht auf die unerbittlichen steinernen Mauern, sondern in die leere Luft, oder durch die Luft ins Unendliche hin Blicke schickte, und diese Blicke mit einem Knirschen begleitete! – wenn ein dienender Sklave voll ohnmächtigen Schauders in der Nähe der erstarrenden Niobe stand, der muß das durchgemacht haben, was ich durchmachte, als in mir die Seele dieses Tieres gegen das ungeheure Verhängnis die Zähne bleckte.
    • Einfach nur krankhaft, woran der Mann sich erfreut.
  31. Vergeben Sie mir diese Schilderung, aber denken Sie nicht, daß es Mitleid war, was mich erfüllte. Das dürfen Sie ja nicht denken, sonst hätte ich mein Beispiel ungeschickt gewählt. Es war viel mehr und viel weniger als Mitleid: ein ungeheures Anteilnehmen, ein Hinüberfließen in jene Geschöpfe oder ein Fühlen, daß ein Fluidum des Lebens und Todes, des Traumes und Wachens für einen Augenblick in sie hinübergeflossen ist – von woher? Denn was hätte es mit Mitleid zu tun, was mit begreiflicher menschlicher Gedankenverknüpfung, wenn ich an einem anderen Abend unter einem Nußbaum eine halbvolle Gießkanne finde, die ein Gärtnerbursche dort vergessen hat, und wenn mich diese Gießkanne und das Wasser in ihr, das vom Schatten des Baumes finster ist, und ein Schwimmkäfer, der auf dem Spiegel dieses Wassers von einem dunklen Ufer zum andern rudert, wenn diese Zusammensetzung von Nichtigkeiten mich mit einer solchen Gegenwart des Unendlichen durchschauert, von den Wurzeln der Haare bis ins Mark der Fersen mich durchschauert, daß ich in Worte ausbrechen möchte, von denen ich weiß, fände ich sie, so würden sie jene Cherubim, an die ich nicht glaube, niederzwingen, und daß ich dann von jener Stelle schweigend mich wegkehre, und nun nach Wochen, wenn ich dieses Nußbaums ansichtig werde, mit scheuem seitlichen Blick daran vorübergehe, weil ich das Nachgefühl des Wundervollen, das dort um den Stamm weht, nicht verscheuchen will, nicht vertreiben die mehr als irdischen Schauer, die um das Buschwerk in jener Nähe immer noch nachwogen.
    • Interessant, dass der Lord hier den Gedanken von Mitleid weit von sich weist.
    • Dann macht er deutlich, dass es ihm gerade nicht um das Leid anderer Menschen geht, sondern um die Gefühle, die in ihm entstehen, ohne dass er selbst sterben muss.
    • Auch bei dem Wasserbeispiel musste unbedingt ein Käfer wahrscheinlich vergeblich um sein Leben kämpfen, um diesen Angehörigen des Adels glücklich zu machen.
    • Vielleicht hängt dieser Mangel an Mitgefühl auch damit zusammen, dass Adlige als allgemein höher gestellte Menschen in einem anderen sozialen Kontext leben als einfache Menschen.
    • Das wäre auch eine interessante Frage für den Unterricht: Verfügen einfach lebende Menschen vielleicht über mehr Mitgefühl? Wenn jemand diese Frage schon als fragwürdig empfindet: Welche Voraussetzungen müssen Menschen haben, die es jeden Tag erleben, dass sie über anderen stehen – sozial und wirtschaftlich? In welche Versuchung gerät zum Beispiel ein erfolgreicher Künstler, wenn seine Leistungsfähigkeit nachlässt und dann ein junger Nachwuchskünstler zur Gefahr für seine Position wird?
  32. In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund, eine Ratte, ein Käfer, ein verkrümmter Apfelbaum, ein sich über den Hügel schlängelnder Karrenweg, ein moosbewachsener Stein mir mehr als die schönste hingebendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen ist. Diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag.
    • Im selben Stil geht es weiter:
    • Bezeichnenderweise spricht der Lord von „nichtigen“ Kreaturen. Damit macht er deutlich, dass sie selbst eigentlich keinen Wert darstellen, sondern ihn erst bekommen, wenn er von Ihnen angeregt wird, und zwar auf eine Weise, die von seiner Empfänglichkeit ausgeht.
    • Was diese „nichtigen Wesen“ vielleicht auch mehr haben als er, interessiert ihn überhaupt nicht.
  33. Es erscheint mir alles, was es gibt, alles, dessen ich mich entsinne, alles, was meine verworrensten Gedanken berühren, etwas zu sein. Auch die eigene Schwere, die sonstige Dumpfheit meines Hirnes erscheint mir als etwas; ich fühle ein entzückendes, schlechthin unendliches Widerspiel in mir und um mich, und es gibt unter den gegeneinander spielenden Materien keine, in die ich nicht hinüberzufließen vermöchte.
    • Hier wird wieder deutlich, wie sehr er selbst Mittelpunkt von allem ist.
    • Keine Rede hier von jemandem oder etwas, dem er Gleichgewicht bzw. gleichen Wert zubilligen würde.
  34. Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffern, die mir alles aufschließen. Oder als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken. Fällt aber diese sonderbare Bezauberung von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen; ich könnte dann ebensowenig in vernünftigen Worten darstellen, worin diese mich und die ganze Welt durchwebende Harmonie bestanden und wie sie sich mir fühlbar gemacht habe, als ich ein Genaueres über die inneren Bewegungen meiner Eingeweide oder die Stauungen meines Blutes anzugeben vermöchte.
    • Interessant hier der Begriff der „Chiffren“. Er spricht von ihren Funktionen, nennt aber kein Beispiel.
    • „Süß“ [Vorsicht: Ironie] ist, wie dieser Mann behauptet, hin und wieder anzufangen, „mit dem Herzen zu denken“. Er hat so etwas wie Herz bisher nirgendwo gezeigt. Denn wir verbinden es eben mit Abstand vom Rationalitäts- und Effektivitäts-Ich und Zuwendung zum Zentrum der Menschlichkeit. Wir sehen die aber nie im abgeschlossenen Raum des Egoismus, wo die Anregungen nur reinkommen, wenn sie wie Abgaben verwertet werden können. Vielmehr heißt „Menschlichkeit“ für uns „Mit-Menschlichkeit. Aber darüber kann man auch mal diskutieren. Wir freuen uns auch über entsprechende Kommentar.
  35. Von diesen sonderbaren Zufällen abgesehen, von denen ich übrigens kaum weiß, ob ich sie dem Geist oder dem Körper zurechnen soll, lebe ich ein Leben von kaum glaublicher innerer Leere und habe Mühe, die Starre meines Innern vor meiner Frau und vor meinen Leuten die Gleichgültigkeit zu verbergen, welche mir die Angelegenheiten des Besitzes einflößen. Die gute und strenge Erziehung, welche ich meinem seligen Vater verdanke, und die frühzeitige Gewöhnung, keine Stunde des Tages unausgefüllt zu lassen, sind es, scheint mir, allein, welche meinem Leben nach außen hin einen genügenden Halt und den meinem Stande und meiner Person angemessenen Anschein bewahren.
    • Wir machen hier noch weiter. Bitte etwas Geduld.
  36. Ich baue einen Flügel meines Hauses um und bringe es zustande, mich mit dem Architekten hie und da über die Fortschritte seiner Arbeit zu unterhalten; ich bewirtschafte meine Güter, und meine Pächter und Beamten werden mich wohl etwas wortkarger, aber nicht ungütiger als früher finden. Keiner von ihnen, der mit abgezogener Mütze vor seiner Haustür steht, wenn ich abends vorüberreite, wird eine Ahnung haben, daß mein Blick, den er respektvoll aufzufangen gewohnt ist, mit stiller Sehnsucht über die morschen Bretter hinstreicht, unter denen er nach Regenwürmern zum Angeln zu suchen pflegt, durchs enge vergitterte Fenster in die dumpfe Stube taucht, wo in der Ecke das niedrige Bett mit bunten Laken immer auf einen zu warten scheint, der sterben will, oder auf einen, der geboren werden soll; daß mein Auge lange an den häßlichen jungen Hunden hängt oder an der Katze, die geschmeidig zwischen Blumenscherben durchkriecht, und daß es unter allen den ärmlichen und plumpen Gegenständen einer bäurischen Lebensweise nach jenem einen sucht, dessen unscheinbare Form, dessen von niemand beachtetes Daliegen oder -lehnen, dessen stumme Wesenheit zur Quelle jenes rätselhaften, wortlosen, schrankenlosen Entzückens werden kann.
  37. Denn mein unbenanntes seliges Gefühl wird eher aus einem fernen einsamen Hirtenfeuer mir hervorbrechen als aus dem Anblick des gestirnten Himmels; eher aus dem Zirpen einer letzten, dem Tode nahen Grille, wenn schon der Herbstwind winterliche Wolken über die öden Felder hintreibt, als aus dem majestätischen Dröhnen der Orgel. Und ich vergleiche mich manchmal in Gedanken mit jenem Crassus, dem Redner, von dem berichtet wird, daß er eine zahme Muräne, einen dumpfen, rotäugigen, stummen Fisch seines Zierteiches, so über alle Maßen lieb gewann, daß es zum Stadtgespräch wurde; und als ihm einmal im Senat Domitius vorwarf, er habe über den Tod dieses Fisches Tränen vergossen, und ihn dadurch als einen halben Narren hinstellen wollte, gab ihm Crassus zur Antwort: »So habe ich beim Tod meines Fisches getan, was Ihr weder bei Eurer ersten noch Eurer zweiten Frau Tod getan habt.«
  38. Ich weiß nicht wie oft mir dieser Crassus mit seiner Muräne als ein Spiegelbild meiner Selbst, über den Abgrund der Jahrhunderte hergeworfen, in den Sinn kommt. Nicht aber wegen dieser Antwort, die er dem Domitius gab. Die Antwort brachte die Lacher auf seine Seite, so daß die Sache in einen Witz aufgelöst war. Mir aber geht die Sache nahe, die Sache, welche dieselbe geblieben wäre, auch wenn Domitius um seine Frauen blutige Tränen des aufrichtigsten Schmerzes geweint hätte. Dann stünde ihm noch immer Crassus gegenüber, mit seinen Tränen um die Muräne.
  39. Und über diese Figur, deren Lächerlichkeit und Verächtlichkeit mitten in einem die erhabensten Dinge beratenden, weltbeherrschenden Senat so ganz ins Auge springt, über diese Figur zwingt mich ein unnennbares Etwas, in einer Weise zu denken, die mir vollkommen töricht erscheint, im Augenblick, wo ich versuche, sie in Worten auszudrücken.
  40. Das Bild dieses Crassus ist zuweilen nachts in meinem Hirn, wie ein eingeschlagener Nagel, um den herum alles schwärt, pulst und kocht. Es ist mir dann, als geriete ich selber in Gärung, würfe Blasen auf, wallte und funkelte. Und das Ganze ist eine Art fieberisches Denken, aber Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte. Es sind gleichfalls Wirbel, aber solche, die nicht wie die Worte der Sprache ins Bodenlose zu führen scheinen, sondern irgendwie in mich selber, und in den tiefsten Schoß des Friedens.
  41. Ich habe Sie, mein verehrter Freund, mit dieser ausgebreiteten Schilderung eines unerklärlichen Zustandes, der gewöhnlich in mir verschlossen bleibt, über Gebühr belästigt.
  42. Sie waren so gütig, Ihre Unzufriedenheit darüber zu äußern, daß kein von mir verfaßtes Buch mehr zu Ihnen kommt, »Sie für das Entbehren meines Umgangs zu entschädigen«. Ich fühlte in diesem Augenblick mit einer Bestimmtheit, die nicht ganz ohne ein schmerzliches Beigefühl war, daß ich auch im kommenden und im folgenden und in allen Jahren dieses meines Lebens kein englisches und kein lateinisches Buch schreiben werde: und dies aus dem einen Grund, dessen mir peinliche Seltsamkeit mit ungeblendetem Blick dem vor Ihnen harmonisch ausgebreiteten Reiche der geistigen und leiblichen Erscheinungen an seiner Stelle einzuordnen ich Ihrer unendlichen geistigen Überlegenheit überlasse: nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische noch die englische, noch die italienische oder spanische ist, sondern eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zuweilen zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.
  43. Ich wollte, es wäre mir gegeben, in die letzten Worte dieses voraussichtlich letzten Briefes, den ich an Francis Bacon schreibe, alle die Liebe und Dankbarkeit, alle die ungemessene Bewunderung zusammenzupressen, die ich für den größten Wohltäter meines Geistes, für den ersten Engländer meiner Zeit im Herzen hege und darin hegen werde, bis der Tod es bersten macht.

A.D. 1603, diesen 22ten August.

Phi. Chandos.

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