Schnell durchblicken: Hugo von Hofmannsthal, „Der Brief des Lord Chandos“ Text (Mat5714)

Worum es hier geht:

Jetzt war es mal wieder so weit. Jemand musste im Deutschunterricht den berühmten „Brief des Lord Chandos“ lesen. Der war/ist wichtig, weil dort ein fiktiver Schriftsteller einem Freund schreibt, wie er die Fähigkeit zu schreiben verloren hat.

Der Text ist von Hofmannsthal im Jahre 1902 veröffentlicht worden, gehört also in die Zeit allgemein zunehmender geistiger Unsicherheit. Man denke an Sigmund Freud und seine Forschungen zur Doppelbödigkeit unseres Denkens und Fühlens.

Der Brief umfasst so etwa acht Din-A4-Seiten und ist nicht einfach zu lesen. Hofmannsthal hat nämlich versucht, sich in das Denken und Schreiben früherer Jahrhunderte zurückzuversetzen.

Den Text kann man im Original hier finden.

Hinweis auf die Detail-Erklärung des Textes
https://textaussage.de/im-detail-erklaert-hugo-von-hofmannsthal-der-brief-des-lord-chandos

  • Wir haben ihn im Hinblick auf die Abschnitte durchnummeriert. Dann kann jeder in seiner Textausgabe die entsprechende Passage schnell finden.
  • Außerdem haben wir die Abschnitte zusammengefasst, auf Schlüsselzitate hin gekürzt und – je nach Wichtigkeit – auch kommentiert.
  • Die Absatznummer behalten wir bei und zitieren auf jeden Fall auch den Anfang des Abschnittes, damit man ihn selbst schnell finden kann.
  • Originalwortlaut findet sich immer in Kursivschrift. Anmerkungen und Kommentare in Normalschrift und zur Unterscheidung dunkelblau formatiert.

Schneller Überblick

Vorab eine Information mit Schaubild für Leute, die es eilig haben:

Das Schaubild zeigt:

  • Die zwei Welten des Lords und der „Normalos“
    • der Lord
      • muss sich um seinen Lebensunterhalt nicht groß kümmern und
      • kann sich deshalb so intensiv mit der Sprache beschäftigen,
        Abschnitt 22:
        Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und Handlungen.
      • dass ihm am Ende alles zermodert
      • und unsicher wird.
        Abschnitt 19
        „Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urtheil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“
      • Abschnitt 21:
        Das breitet sich dann immer mehr aus wie „ein um sich fressender Rost
      • Deshalb kann er auch nicht mehr schriftstellerisch tätig sein
      • und bittet in diesem Brief seinen Freund, Francis Bacon, um Verständnis.
    • der einfache Bauer
      • ist den ganzen Tag beschäftigt, den Unterhalt für sich und seine Familie zu verdienen
      • nutzt die Sprache so, wie sie gedacht ist,
      • nämlich zur Bewältigung des Alltags
      • und kommt damit auch gut klar
  • den besonderen Ansatz des Lords
    • die Normalsprache ist ihm unsicher geworden
    • aber er hat das Gefühl, dass bestimmte Situationen ihn auf der Gefühlsebene ansprechen
    • und ihm heilige Zeichen (Hieroglyphen) der Wirklichkeit vermitteln,
    • die er aber nur ahnt
      Abschnitt 25:
      Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes, und auch wohl kaum Benennbares, das in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Leben wie ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet.
      Abschnitt 26:
      Manchmal erlebt er einen Moment, „den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.
    • und vielleicht erst im Jenseits voll versteht.
      Abschnitt 42:
      nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische noch die englische, noch die italienische oder spanische ist, sondern eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zuweilen zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.
    • Deutlich wird, dass ihm wie Goethes Faust ein umfassendes Verständnis der Welt vorschwebt, das dann auch in einer eigenen Sprache begriffen werden kann,
    • die in diesem Leben aber anscheinend nicht zugänglich ist,
    • weshalb er weiter auf das Schreiben verzichten wird.

Auswertung / Zusammenfassung

  • In dem Text geht es um den Versuch einer Erklärung, warum ein erfolgreicher Schriftsteller längere Zeit nicht mehr geschrieben hat und es auch in Zukunft nicht tun will.
  • Deutlich wird, dass die vorhandenen Sprachen ihm zu wenig deutlich und sicher sind und er deswegen nicht darauf zurückgreifen mag.
  • Stattdessen gibt es die Andeutung einer darüber hinausgehenden Sprache, in der die Dinge zu ihm sprechen. Das geschieht aber nur auf der Basis dumpfer Empfindung und wird nicht näher erläutert.
  • Auf jeden Fall wird klar, dass das Problem des Lords darin besteht, dass er den Dingen (vor allem der Sprache) so intensiv auf den Grund geht, dass das nur noch Unklarheit und Unsicherheit bei ihm auslöst.
  • Das ist ein Grundproblem, was jeder, was ich selbst mal ausprobieren kann:
    • Je mehr man über etwas nachdenkt, zum Beispiel, wie das menschliche Gehen funktioniert, desto weniger gelingt es einem möglicherweise überhaupt noch.
    • Ein extremes anderes Beispiel könnte die Teilchenphysik sein. (da sollte man seinen Physiklehrer fragen). Dort entdeckt man auch immer kleinere Teilchen, Anscheinend versteht man dadurch aber die Materie insgesamt auch nicht besser.

Zusätzliche Möglichkeit: Kritik

In Thesenform als Diskussionsgrundlage

  • Der Autor des Briefes scheint viel Zeit zu haben, sich mit seinen Problemen zu beschäftigen. Die ergeben sich dadurch, dass er die Sprache anders nutzt, als man das normalerweise tut. Er denkt viel zu lange über einzelne Dinge nach, statt die Sprache einfach zur Verständigung zu nutzen.
  • Müsste der Verfasser sich mehr um seinen Lebensunterhalt kümmern und die konkreten Probleme des Alltags einfacher Menschen, hätte er möglicherweise seine Probleme gar nicht. Ein typisches Überfluss-Problem, aus dem ein Überdruss-Problem wird.
  • Insgesamt präsentiert sich der Verfasser sehr egoistisch. Er dreht sich nur um sich selbst und seine Gefühle. Möglicherweise hat er in sich eine so große Leere, dass er die nur füllen kann, indem er von außen etwas hereinholt, ohne etwas zurückzugeben.
  • Dem Lord könnte es vielleicht helfen, wenn er mal mit seinem Bauern tauscht:
    • Er gibt ihm so viel Geld, dass dessen aktuelle Sorgen beseitigt sind,
    • und möchte für eine Woche in dessen Hütte leben.
  • Das würde diesen Lord vielleicht in eine stärker normale Wirklichkeit wieder zurückholen
  • Außerdem ist der Lord möglicherweise auch in einer besonderen Stimmungslage. Er versetzt sich nämlich oft in Situationen, die viel mit Leiden und Tod zu tun haben. Bezeichnender Weise zeigt er dabei wenig Mitgefühlen, sondern nutzt die schlimme Lage anderer Lebewesen nur, um sich dabei innerlich irgendwie zu erbauen.
  • Der Traum von einer anderen, besseren Sprache bleibt äußerst diffus. Auffallend ist, dass kein einziges konkretes Beispiel genannt wird, bei dem er aufzeigen könnte, was er wirklich meint und wie das aussehen könnte.

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