Kafka, „Auf der Galerie“ – zwischen Sein und Schein

Im folgenden soll an einem Beispiel gezeigt werden, wie man eine Problemfrage, die sich aus einem literarischen Text heraus ergibt, klären kann.

Es geht dabei um die kurze Erzählung „Auf der Galerie“ von Franz Kafka, die zum Beispiel hier vorgestellt wird:
https://www.schnell-durchblicken2.de/kafka-auf-der-galerie-mp3

  1. Wenn man verstehen will, was in dieser kleinen Erzählung oder besser: Gedanken-Experiment abläuft, muss man nach Gründen fragen, warum dieser Besucher in einem schweren Traum versinkt und schließlich sogar weint.
  2. Die einfachste und wohl auch falsche Erklärung wäre, dass dieser Besucher einfach von einem Vor-Urteil geprägt ist. Er hat ganz viele Interpretationen gelesen, in denen davon die Rede war, dass hier eine bestimmte Art von menschenverachtendem Zirkusbetrieb mit schlimmen Folgen für die betroffenen Menschen kritisiert werden soll.
  3. Die Frage also, sicher es ist, dass der Besucher wirklich einen Grund hat für seinen schweren Traum und das Weinen.
  4. Dafür gibt es neben einem allgemeinen Sich-Einfühlen in solche Zirkusherausforderungen einige Indizien im Text:
    1. Zum einen die Tierhaltung, die der Zirkusdirektor einnimmt. Die macht schon deutlich, dass es hier um einen falschen Schein geht, vielleicht auch tatsächlich um etwas Unmenschliches. Aber dann natürlich weniger leidend erlebt als möglicherweise von der übertrainierten Reiterin.
    2. Das zweite Indiz ist der Irrealis bei der Erwähnung der Enkelin. D.h. dieser Zirkusdirektor wird an der Stelle regelrecht sprachlich ertappt, dass er eine Scheinwirklichkeit präsentiert.
    3. Schließlich zeigt sich auf einem Nebenschauplatz durchaus, dass es Ansätze von Brutalität gibt, wenn der Zirkusdirektor nämlich wütend mit den Knechten spricht.
    4. All das passt natürlich zu allgemeinen Überlegungen und Erfahrungen im Hinblick auf einen solchen Zirkusbetrieb, die man sicherlich auch noch absichern kann mit Hinweis auf andere Veranstaltungen, in denen besondere Leistungen gezeigt werden, die aber auch mit Leiden und bei den Verlierern dann mit Tränen verbunden sind.
    5. Man muss nur einen dritten Teil der Geschichte schreiben, der vom schönen Schein ausgeht, aber deutlich macht, was mit größter Wahrscheinlichkeit hinter ihm steckt oder stecken kann.
    6. Denn bei den Leistungserwartungen ist es sehr wahrscheinlich, dass der Weg zum Erfolg gepflastert ist mit Trainingsbausteinen, die mehr oder weniger auch das Element des Leidens beinhalten.
    7. Dann weiß jeder, dass Ausnahme-Sportler oder auch Künstler immer in einem Verdrängungswettbewerb stehen, Angst haben müssen vor anderen, die jünger oder besser sind. Wie man so schön sagt: Hinter jedem Olympiasieger stehen ganz viele, die es nicht dorthin geschafft haben. Und wie die zum Teil dann bei der Rückkehr nach Enttäuschungen behandelt werden, kann man ja hin und wieder nachlesen.
    8. Es gibt ja sogar Hinweise darauf, dass die Höchstleistungen erbracht werden, wenn mit größtem Druck auf sie hingearbeitet wird. Einfach weil jeder normale Mensch ein Bedürfnis hat auch nach Ruhe, Erholung und Bequemlichkeit.
    9. D.h.: Wer hoch aufs Treppchen will, kann nicht ganz normal sein oder zumindest normal leben.
    10. Es spricht also alles dafür, dass hinter dem schönen Schein vieles steckt, was überhaupt nicht schön ist.
    11. Es kann aber natürlich auch sein, dass der Besucher einfach Dinge im Kopf hat, die hier ausnahmsweise mal nicht zutreffen, grundsätzlich aber ein Problem richtig darstellen.
    12. Kleine Ergänzung: Man denke auch nur daran, was viele Tiere im Zirkus erleben oder auch bei sportlichen Wettbewerben (man denke etwa an das Barren im Pferde-Springsport, das zumindest früher vorgekommen sein soll. )
    13. Man könnte auch noch darauf hinweisen, dass es um Kommerz geht, d.h. dieser Zirkusdirektor hat ein Interesse daran, möglichst außergewöhnliche Leistungen zu bringen beziehungsweise präsentieren zu lassen. Das aber wiederum bedeutet, dass man Menschen wie diese Reiterin in den Grenzbereich bringen oder zwingen muss.
    14. Wie sehr nicht nur das Verhalten des Zirkusdirektors kritikwürdig ist, sondern auch die Einstellung der Besucher, zeigt ja allein das Phänomen, das wohl immer noch im Zirkus artistische Leistungen ohne Netz vollbracht werden müssen. Warum wohl?
    15. Ein anderer vergleichbare Bereich ist der Spitzensport, wo etwa beim Abfahrtslauf jeder Veranstalter ein Interesse hat, auch bei problematischen Bedingungen die Sportler noch antreten zu lassen.
  5. Langer Rede kurzer Sinn: Es gibt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für den Zirkusbesucher einen Grund, sich albtraumartige Dinge vorzustellen und dann vielleicht auch vor angenommenem Mitgefühl zu weinen. Es kann sein, dass er im Einzelfall es mit einem glücklichen Menschen zu tun hat, der die geforderte Leistung mal eben so nebenbei voll bringt. Daneben und dahinter gibt es aber ganz viele, die sich zur Herausforderung quälen müssen oder auch dabei regelrecht Schaden nehmen. Und ganz allgemein gibt es wohl das Phänomen, dass manche Menschen spüren, dass da etwas nicht in Ordnung ist, ohne es beweisen zu können oder auch nur in Worte zu fassen. Von daher bleibt auch diese Erzählung Kafkas eine zeitlose Herausforderung.

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