Kafka, „Das Schweigen der Sirenen“ – freies Spiel mit einem Mythos

Das Besondere dieser Erzählung

Das Schweigen der Sirenen von Franz Kafka etwas ganz Besonderes, weil dort nicht einfach eine Geschichte erzählt wird, sondern ausgehend von einem antiken Mythos Varianten dazu durchgespielt werden.

Und nun unsere Erläuterung des Textes:

  1. Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können:
    • Der Text beginnt fast schon im Stil mancher Parabeln von Bertolt Brecht mit einer einführenden Erklärung.
    • Angeblich handelt es sich bei diesem Text um den Beweis, dass einen auch etwas retten kann, was eigentlich dazu nicht geeignet ist oder ausreicht.
  2. Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden.
    • Es folgt eine kurze Zusammenfassung des Tricks, mit dem Odysseus sich nach dem Mythos vor den gefährlichen Sirenen bewahrt haben soll.
    • Wachs in den Ohren
    • Und Fesselung an den Mast
  3. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können, außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt.
    • Es folgt eine Behauptung, die den antiken Mythos auf eigene Art und Weise ergänzt.
    • Kafka lässt ihn Erzähler nämlich einfach behaupten, auch die Mittel, die Odysseus sich ausgedacht hat, hätten nicht gereicht:
    • Der Gesang der Sirenen hätte nämlich alles durchdrungen und die Seefahrer hätten anschließend zu ihrem eigenen Verderben sich freigemacht und damit ihren Untergang heraufbeschworen.
  4. Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen.
    • Es folgt eine Passage, in der dem Leser das Gefühl gegeben wird, dass Odysseus entgegen dem antiken Mythos auch hier seinem Untergang entgegengefahren sei.
  5. Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen.
    • Der Erzähler verfolgt aber diesen Gedanken gar nicht weiter, sondern erweitert in typischer Manier Kafkas das Gefahren-  beziehungsweise Untergangspotenzial noch weiter, indem er auch das Schweigen der Sirenen zu einer – sogar noch  – schlimmeren Waffe macht.
  6. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, dass sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiss nicht.
    • Typisch für Kafka, dass etwas nur Möglichkeit bleibt.
    • Das wird dann wieder zumindest teilweise infragegestellt, bevor zur Untergangssicherheit zurückgekehrt wird.
  7. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.
    • Der Blick wird jetzt auf eine sich aus der Situation ergebende Überheblichkeit solcher Leute wie Odysseus gerichtet.
    • Sie fühlen sich als Sieger über die Sirenen und gerade das führt zu ihrem Untergang.
  8. Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, dass sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, dass der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.
    • Im selben Stil geht es jetzt weiter:
    • Die Sirenen singen nicht.
    • Über den Grund werden nur Vermutungen angestellt.
      • Variante 1: Annahme, dass nur die stärkere Waffe des Schweigens Odysseus besiegen könne.
      • Variante 2: Spezielle Wirkung der Siegesgewissheit von Odysseus.
  9. Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören.
    • Odysseus dagegen bleibt auf seinem vermeintlichen Siegestrip und stellt sich das Singen der Sirenen einfach vor und wiegt sich in Sicherheit.
  10. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen.
    • Hier wird noch genauer auf die falschen Annahmen des Odysseus eingegangen.
  11. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wusste er nichts mehr von ihnen.
    • Hier wird Odysseus regelrecht überhöht: Er blickt in die Ferne und die Sirenen verschwinden für ihn – betont wird dabei seine Entschlossenheit.
    • Dann eine eigentlich gefährliche Situation: Denn im Moment der realen größten Nähe müsste sich die Anwesenheit der Sirenen am stärksten auswirken.
    • Aber davor könnte ihn das Vergessen der Sirenen schützen, siehe Nr. 8.
    • Allerdings war das nur eine von mehreren Möglichkeiten.
  12. Sie aber – schöner als jemals – streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen.
    • Hier wird noch einmal die Umkehrung der antiken Verhältnisse betont:
    • Nicht Odysseus ist oder wird gebannt,
    • sondern die Sirenen sind ganz von ihm hingerissen, vor allen Dingen „vom großen Augenpaar des Odysseus“.
  13. Hätten die Sirenen Bewußsstein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.
    • In einer weiteren überraschende Wendung wird den Sirenen das Bewusstsein abgesprochen,
    • was dann angeblich die Voraussetzung dafür ist, dass sie nicht vernichtet werden.
    • Wie das hätte geschehen können oder sollen, bleibt offen.
    • Auf jeden Fall wird zum Ablauf des antiken Mythos zurückgekehrt.
    • Er wird gewissermaßen nur anders erklärt.
  14. Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, dass selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte.
    • Am Ende wird eine angebliche andere Variante vorgestellt, in der Odysseus ausreichend listenreich ist.
    • In welchem Verhältnis jetzt plötzlich die Schicksalsgöttin zu den Sirenen steht, wird nicht geklärt.
  15. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.
    • Das wird dann noch einmal eine Ebene höher angesiedelt, indem es für möglich gehalten wird, dass Odysseus sein ganzes Verhalten nur vorgespielt habe.

Zusammenfassung

  • Es ist nicht ganz einfach, diesem Text eine logische thematische Aussage zu entnehmen, dafür gibt es auch neben den vielen überraschenden Wendungen zu viele Lücken.
  • Offensichtlich ist es Kafka nur darauf angekommen, hier zu zeigen, dass hinter dem antiken Mythos eine Fülle von irritieren den Möglichkeiten liegt, die letztlich alles offenlassen.
  • Das Besondere an dieser kleinen Erzählung und für Kafka eher ungewöhnlich ist, dass alles gut ausgeht, die Sirenen bleiben der Seefahrt erhalten und Odysseus triumphiert auf etwas unklare Art und Weise.

Weiterführende Hinweise