Franz Kafka, „Poseidon“ – Anmerkungen zu einem verfehlten Leben (Mat4106)

Wir präsentieren im folgenden immer zunächst einen Textausschnitt – in durchnummeriert Form. Es folgen dann erläuternde Anmerkungen dazu.

  1. Poseidon saß an seinem Arbeitstisch und rechnete. Die Verwaltung aller Gewässer gab ihm unendliche Arbeit.
    • Die kleine Erzählung beginnt schon mit einem Paukenschlag, indem auf recht radikale Art und Weise jede Vorstellung von dem antiken Gott Poseidon in ein Gegenteil verkehrt wird.
    • Da herrscht nicht einer und überlegt vielleicht, an welcher Stelle er als nächstes in das menschliche Leben eingreifen könnte – wie ist die griechischen Götter meistens taten. Sondern er arbeitet wie ein normaler Büromensch.
    • Man ist jetzt gespannt, worin seine eigentliche Arbeit besteht.
  2. Er hätte Hilfskräfte haben können, wie viel er wollte, und er hatte auch sehr viele, aber da er sein Amt sehr ernst nahm, rechnete er alles noch einmal durch und so halfen ihm die Hilfskräfte wenig. 
    • Aber darauf wird gar nicht eingegangen, es geht nur um das Phänomen Arbeit an sich.
    • In diesem zweiten Schritt wird das Problem noch vertieft oder erweitert, indem deutlich gemacht wird, dass diesem Gott bei dieser Arbeit offensichtlich nicht zu helfen ist.
  3. Man kann nicht sagen, dass ihn die Arbeit freute, er führte sie eigentlich nur aus, weil sie ihm auferlegt war, ja er hatte sich schon oft um fröhlichere Arbeit, wie er sich ausdrückte, beworben, aber immer, wenn man ihm dann verschiedene Vorschläge machte, zeigte es sich, dass ihm doch nichts so zusagte, wie sein bisheriges Amt.
    • Im nächsten Schritt geht es um die innere Einstellung Poseidons zu seiner Arbeit. 
    • Sie ist widersprüchlich, weil am Anfang davon die Rede ist, dass ihn die Arbeit nicht freut. Am Ende läuft es dann aber darauf hinaus, dass diese Arbeit ihn gewissermaßen am wenigsten nicht freut.
    • Letztlich haben wir hier ein Grundmuster des Schreibens von Kafka: Es geht um die Ausweglosigkeit, auch wenn sie ihr nur eine Last ist und nicht das Leben gefährdet und in einen Abgrund führt.
  4. Es war auch sehr schwer, etwas anderes für ihn zu finden. Man konnte ihm doch unmöglich etwa ein bestimmtes Meer zuweisen; abgesehen davon, dass auch hier die rechnerische Arbeit nicht kleiner, sondern nur kleinlicher war, konnte der große Poseidon doch immer nur eine beherrschende Stellung bekommen.
    • In diesem Abschnitt wird ein bisschen Mitgefühl mit diesem antiken Gott geweckt. Gerade seine Größe ist es, die seine Lage aussichtslos macht.
    • Ansonsten wird noch einmal die rechnerischer Arbeit angesprochen, ohne dass sie genauer beschrieben oder erklärt wird.
  5. Und bot man ihm eine Stellung außerhalb des Wassers an, wurde ihm schon von der Vorstellung übel, sein göttlicher Atem geriet in Unordnung, sein eherner Brustkorb schwankte.
    • Zur Einschränkung der Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund der hohen Stellung des Gottes kommt jetzt noch eine zweite. 
    • Offensichtlich hat Poseidon doch eine innere, enge Verbindung zu seiner Arbeit, weil er ganz an das Wasser gebunden ist.
    • Das macht insgesamt deutlich, dass es in dieser Geschichte um eine ausweglose Situation geht, allerdings – wie gesagt – um eine, die eher auf dem aktuellen Stand bleibt als sich verschlimmert.
  6. Übrigens nahm man seine Beschwerden nicht eigentlich ernst; wenn ein Mächtiger quält, muss man ihm auch in der aussichtslosesten Angelegenheit scheinbar nachzugeben versuchen; an eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amt dachte niemand, seit Urbeginn war er zum Gott der Meere bestimmt worden und dabei musste es bleiben.
    • Hier kommt eine weitere Dimension der Belästigungen und Einschränkungen und letztlich auch der Ausweglosigkeit zum Tragen, nämlich dass man Poseidon nicht ernst nimmt.
    • Interessant ist die Begründung, eine angebliche Lebensweisheit, die bei Mächtigen aus unerfindlichen Gründen empfiehlt, ihnen nur ein bisschen und vor allem scheinbar nachzugeben.
    • Aber auch das wird hier wieder nicht weiter ausgeführt. es könnte zum Beispiel in einer kreativen Ergänzung mal durchgespielt werden.
    • Am Ende geht es um die Frage, ob Poseidon seinen ungeliebten Posten nicht wenigstens verlieren könnte. Das wird aber einfach für unmöglich erklärt.
    • Interessant ist die Begründung, nämlich der einfache Hinweis auf die Unveränderlichkeit einer langen Tradition.
  7. Am meisten ärgerte er sich – und dies verursachte hauptsächlich seine Unzufriedenheit mit dem Amt – wenn er von den Vorstellungen hörte, die man sich von ihm machte, wie er etwa immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten kutschiere.
    • Als nächstes und größtes Problem wird die allgemeine Vorstellung von Poseidon aufgeführt.
    • Als Beispiel wird in einer etwas spöttisch angehauchten Formulierung das Unterwegssein mit dem Dreizack genannt.
  8. Unterdessen saß er hier in der Tiefe des Weltmeeres und rechnete ununterbrochen, hie und da eine Reise zu Jupiter war die einzige Unterbrechung der Eintönigkeit, eine Reise übrigens, von der er meistens wütend zurückkehrte. 
    • Dem gegenübergestellt wird noch mal die Rechenarbeit, die Poseidon angeblich leistet.
    • Interessant, dass es wenigstens hin und wieder eine Unterbrechung der Eintönigkeit gibt – durch eine Reise zum Obergott Jupiter.
    • Warum er von dort wütend zurückkehrt, sind wieder nicht erklärt. Man kann es möglicherweise mit seinen erfolglosen Bemühungen um eine Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen verbinden.
  9. So hatte er die Meere kaum gesehn, nur flüchtig beim eiligen Aufstieg zum Olymp, und niemals wirklich durchfahren. Er pflegte zu sagen, er warte damit bis zum Weltuntergang, dann werde sich wohl noch ein stiller Augenblick ergeben, wo er knapp vor dem Ende nach Durchsicht der letzten Rechnung noch schnell eine kleine Rundfahrt werde machen können.
    • Am Ende der Blick auf das gesamte Arbeitsgebiet, das eigentlich zu Poseidon gehört.
    • Paradox ist, dass er sich darum gar nicht kümmert.
    • Das stellt noch einmal mehr seine Arbeit infrage, deren Hintergründe er anscheinend nie in Augenschein nimmt.
    • Auf die Spitze wird die groteske Situation getrieben, wenn Poseidon bis zum Weltuntergang warten will, bevor er sich dann doch noch einmal zumindest kurz einen Teil seines Arbeitsgebietes anschauen will.
    • Verstärkt wird der Eindruck des Grotesken noch dadurch, dass Poseidon es für wichtiger hält, alle seine Rechnungen abzuarbeiten, statt sich mit der Frage des Weltuntergangs näher zu beschäftigen.
  10. Insgesamt lebt diese kleine Erzählung von dem Gegensatz zwischen den traditionellen Vorstellungen von Poseidon und gegebenenfalls auch einer möglichen eigentlichen Aufgabe und der Realität seiner Arbeit und seines Lebens.
  11. Hier hat offensichtlich jemand keinen Blick für das Wesentliche, nimmt das Gegebene genauso hin, wie die Götter insgesamt de bestehende Ordnung der Welt nicht ändern wollen oder können.
  12. Man kann das sicherlich als verfehltes Leben auf die Situation des Menschen in der Welt allgemein übertragen. Er geht auf in irgendeiner Form von Betriebsamkeit, ohne dass Sinn und Funktion deutlich werden und auch ohne dass man auf den Gedanken kommt, an den Verhältnissen etwas zu ändern und ein möglicherweise vorhandenes größeres Potenzial zu nutzen.
  13. Ein besonderes künstlerisches Mittel besteht natürlich darin, dass Kafka hier einen antiken Gott zum Modell verfehlten Lebens gemacht hat. Man kann das mit der Vorstellung von der Fallhöhe in der antiken Tragödie verbinden. Das würde dann zu der problematischen Erkenntnis führen: Wenn es schon einem Gott so geht, wie wenig kann ich dann an meinem Leben ändern.

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