Ist Gregors Schwester die eigentliche Heldin in Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“? – Bausteine einer systematischen Erörterung

Systematische Erörterung

  1. Zunächst einmal muss man klären, was unter dem Begriff „Held“  verstanden werden soll. Sinnvoll erscheint ein doppeltes Verständnis,
    1. nämlich einmal als Protagonistin, also als Hauptfigur der Erzählung
    2. und zum anderen als jemand, der unter schwierigen Bedingungen mutig etwas vertritt und in dieser Weise auch Vorbild sein kann.
  2. Bei der Frage nach dem Protagonisten hat man zwei Möglichkeiten.
    1. Sicherlich ist Gregor die Figur, die am meisten auftaucht und aus deren Perspektive erzählt wird.
    2. Wenn man den Titel aber ernstnimmt und das sollte man bei Kafka tun, gibt es bei Gregor keine Verwandlung, er bleibt mehr oder weniger in seinem falschen Leben.
    3. Anders sieht das bei Grete aus, die nach dem Ausfall Gregors zum einen selbstständiger wird und zum anderen auch in vielerlei Hinsicht die Führung der Familie übernimmt.
  3. Wiederum ganz anders sieht es aus, wenn man bei Grete fragt, ob sie ein klares Konzept verfolgt. Das scheint keinesfalls der Fall zu sein. Sie verhält sich nur entsprechend dem sich jeweils ergebenden Spannungsfeld der Verhältnisse und ihrer Interessen und Bedürfnisse.
  4. Am Anfang zeigt sich noch deutlich eine relativ enge Verbundenheit mit dem Bruder. Sie ist sogar bereit, sich auf seine neuen Ernährungsgewohnheiten einzustellen.
  5. Im Laufe der Zeit gibt es dann eine Kombination von Ermüdungserscheinungen bei der Betreuung des Bruders und einem Prozess der zunehmenden Selbstständigkeit. Die äußert sich dann zum Beispiel in der Reservierung der Betreuung des Bruders für sich allein und in der Abwehr zum Beispiel der Mutter, wenn die sich auch um Gregor bemüht.
  6. Auf fast schon tragische Weise wirkt sich dann der Faktor  Musik bei ihr aus. Gregors Idee mit dem Konservatorium war und blieb eine Idee. Das wohl recht gute Geigenspiel Gretes führt zum Eklat und zum letzten großen Wendepunkt im Schicksal Gregors. Er ist so fasziniert vom Spiel seiner Schwester, dass er alle Vorsicht vergisst und letztlich die Zimmerherren vertreibt.
  7. Dies wiederum nimmt Grete zum Anlass, ultimativ die Entfernung dessen aus dem eigenen Lebensbereich zu verlangen, was mal für sie ihr Bruder gewesen ist.
  8. Das nimmt Gregor den letzten Lebenswillen, so dass er seinen Tod akzeptiert, der dann auch schnell eintritt.
  9. Scheinbar erreicht Grete mit Absicht oder auch unabsichtlich ihre Ziele und ist am Ende ganz eindeutig die Hoffnungsfigur für ihre Eltern.
  10. Im moralischen Sinne ist ihr Verhalten aber äußerst fragwürdig und in keiner Weise als Vorbild geeignet. Und dem Leser drängt sich die Frage auf, ob nicht den älter und damit auch schwächer werden Eltern eines Tages ein ähnliches Schicksal droht wie Gregor. Wir haben das an anderer Stelle mal im Rahmen eines Weiterschreibens der Erzählung kreativ ausgestaltet.
    https://textaussage.de/anders-tivag-ein-kleiner-nachtrag-zu-kafkas-verwandlung

Fazit:

  • Grete ist auf eine raffinierte Art und Weise von Kafka als die eigentliche Hauptfigur eingerichtet worden. Denn sie ist diejenige, die eigentlich verwandelt wird oder sich verwandeln lässt. Bei Gregor findet nur eine äußere Verwandlung statt, die seine Existenz in einem falschen Leben deutlich macht.
  • Eine Heldin im positiven Sinne des Wortes ist Grete aber kaum, denn sie lässt sich eher treiben und verhält sich aus ihrer Sicht nur situationsgerecht.
  • Überhaupt keine positive Heldin ist sie in einem moralischen Sinne, weil sie nach einer Anfangsphase überhaupt kein Mitgefühl mit ihrem Bruder und auch kein Verständnis für seine Interessen zeigt.
  • Als Heldin in einem sehr eingeschränkten Sinne kann man sie höchstens ansehen, was ihre Rolle in der Restfamilie angeht. Sie übernimmt nicht nur immer stärker die Führungsrolle in der Familie, sondern mit ihr verknüpfen sich am Ende alle Hoffnungen der Eltern.
  • Diese könnten allerdings auf grausame Art und Weise enttäuscht werden, was dann bei einem Weiterschreiben der Erzählung als Akt ausgleichender Gerechtigkeit verstanden werden könnte. Denn immerhin tragen sie eine große mit Verantwortung am traurigen Schicksal ihres Sohnes.

Weiterführende Hinweise