Kafkas Erzählung „Vor dem Gesetz“ – mit positivem Schluss (Mat4114 )

Was das hier soll …

Im Folgenden soll gezeigt werden, wie man einer  Erzählung Kafkas mit ihrem recht traurigen Ende eine Wendung ins Positive geben kann.

Wir präsentieren zunächst den unveränderten Anfangsteil der Erzählung und anschließend den veränderten Schluss.

Es folgt ein Gespräch mit dem Verfasser des neuen Schlusses, das die Überlegungen sichtbar macht, die zu dieser Lösung geführt haben.

Das ermutigt andere dann vielleicht auch, sich an kreative Lese-Versuche zu wagen 🙂

Nun zunächst Kafkas Teil …

Franz Kafka

Vor dem Gesetz

  1. Vor dem Gesetz steht ein Türhüter.
  2. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz.
  3. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. 
  4. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen.
  5. »Es ist möglich«, sagt der Türhüter, »jetzt aber nicht.«
  6.  Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn.
    (Diese Stelle haben wir hervorgehoben, weil sie für die kreative Veränderung verwendet werden konnte.)
  7. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.«
  8. Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, 
  9. aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt.
  10.  Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. 
  11. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten.
  12. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne.
  13. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen.
  14. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: »Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.«

Nun der veränderte Schluss …

Lars Krüsand

Kafka, ins Positive gewendet 

    1. So saß der Mann vom Lande da viele Monate, bis das Weihnachtsfest heran kam.
    2. Ihm war inzwischen langweilig geworden und er erinnerte sich daran, was sie zu Hause in der kalten Jahreszeit früher immer gemacht hatten. Sie hatten zurückgeblickt auf die Ereignisse der letzten Zeit und die lange Weihnachtsnacht genutzt, um sich ihre Erlebnisse und Eindrücke gegenseitig zu erzählen.
    3. Er beschloss, diesmal für sich selbst Weihnachten zu feiern, und rief sich alles, was er erlebt hatte, ins Gedächtnis zurück.
    4. An einer Stelle stoppte er plötzlich ab. Er hatte sich die Situation noch einmal vergegenwärtigt, als er an diesem Tor vor dem Gesetz angekommen war
    5. Und erst jetzt – nach so einer langen Zeit vergeblichen Wartens – erinnerte er sich wieder daran, dass der Torhüter doch damals beiseite getreten war.
    6. Warum hatte er nicht einfach versucht, bei der Gelegenheit an ihm vorbeizugehen.
    7. Sicher hatte ihn damals die Achtung vor den Hütern des Gesetzes davon abgehalten. Inzwischen war viel Zeit vergangen und diese Achtung war genauso zusammengesunken wie er selbst auch.
    8. Das passte jetzt zusammen, dachte der Mann. Er sammelte die verbliebenen Kräfte, erhob sich plötzlich und – während der Türhüter nur den Mund aufsperrte  und nach Worten rang, ging er einfach an ihm vorbei und siehe da, die Tür ließ sich passieren.
    9. Der Türhüter hatte sich inzwischen wieder gefasst und rief ihm nach: „Da hast du es ja doch noch gemerkt, dass hier kein anderer vorbeikommt. Dieser Eingang war nur für dich bestimmt – viel Glück.“
    10. Der alte Mann beschloss, sich nicht weiter für die Vorgeschichte seines Glückes zu interessieren, sondern einfach nur seine Reichweite auszutesten.
    11. Dann die Enttäuschung: Es war dunkel hinter der Tür und er merkte nach einiger Zeit, dass er sich in einem geschlossenen Raum befand.
    12. Schon begann er, sich nach seiner Lagerstatt vor dem Tor zurückzusehnen. Da merkte er plötzlich, dass die Stelle der Wand an die er sich gelehnt hatte, nachgab. Dahinter öffnete sich ein weiter Gang und am Ende sah er ein strahlendes Leuchten.

Gespräch mit Lars Krüsand, dem Verfasser dieser Variante von Kafkas Erzählung.

  1. Lars, wie kamst du auf den Gedanken, diese Geschichte umzuschreiben?
    • Nun ja, ich hatte mich immer geärgert über den Ausgang dieser Geschichte. Sie ist zwar typisch für Kafka, aber mir gefiel sie einfach nicht.
    • D.h. sie gefiel mir schon, weil Kafka wunderbar erzählt.
    • Aber der Ausgang gefiel mir nicht.
    • Und weil ich in der Schule wieder mal eine Schreibwerkstatt betreute und die Schüler Schwierigkeiten hatten, so richtig kreativ zu werden, dachte ich: Probier es doch einfach selbst mal.
    • Und da ich das ja immer unter einem Pseudonym mache, kann ich mit den Schülern die Lösung hinterher in aller Ruhe besprechen. Sie begreifen dann, welche Einfälle man braucht, um so eine Geschichte anders weiter zu erzählen.
  2. Was für Einfälle waren das denn in diesem Falle?
    • Nun, von Anfang war klar, dass ich den alten Mann am Ende glücklich erleben wollte.
    • Ich musste eigentlich nur noch im Text einen Ansatzpunkt für eine schönere Variante finden. Und das war die Stelle, an der der Torhüter einmal kurz beiseite tritt.
    • Als Nächstes musste ich dann natürlich überlegen, wie ich es motiviere, also begründe, dass der alte Mann auch diesen Gedanken hat. Denn er soll ja durch die Tür gehen, nicht ich.
    • Und dann dachte ich, dass ihm irgendwann langweilig wird und dann brauchte ich noch einen Einfall, warum er anfängt auf seine bisherigen Erlebnisse zurückzublicken. Und da fiel mir ein, dass ich gerade einen Roman gelesen hatte, in dem eine Familie auf diese Art und Weise ein Weihnachtsprogramm zusammengestellt, das aus mehr als gemeinsamem Fernsehen besteht.
    • Damit hatte ich die Absprungstelle, an der man gewissermaßen an einer bisher verborgenen Abzweigung eine andere Richtung einschlägt
    • und ich hatte auch bereits das, was die Geschichte dann nach vorne treibt.
  3. Frage: Warum aber dann dieses seltsame Ende mit dem geschlossenen Raum?
    • Natürlich hätte ich nach dem Durchschreiten der Tür den alten Mann schon das helle Licht des Gesetzes sehen lassen könnten. Glücklicherweise hatte ich den  Einfall, ihn noch mal ein bisschen zurückzustoßen, damit dann die Erlösung hinterher noch größer ist.
    • Außerdem war ich auf die Idee gekommen, dass meine Variante der Geschichte vor allen Dingen eine Ermutigung sein sollte, nicht alles zu glauben, was man hört. Besser ist es, selbst ausprobieren, was möglich ist.
    • Ich habe es dem alten Mann dann aber leicht gemacht, indem ich ihn nicht stundenlang rumprobieren ließ, sondern ihm einfach bei seiner Altersschwäche auch etwas entgegen kam.
    • Man könnte auch sagen: Meine Wand in diesem Raum hat mehr Mitgefühl mit dem armen Mann als der Torhüter oder gar Kafka selbst.
  4. Und warum hört die Geschichte an der Stelle auf?
    • Weil ich einfach dem Leser nicht die Möglichkeiten seiner Fantasie wegnehmen will.
    • Es kann durchaus sein, dass jemand auf den Gedanken kommt, dass dieses Leuchten am Ende der Anfang der Hölle ist, Und das wäre dann die extremste Negativvariante, die sich wohl auch Kafka hätte vorstellen können.
    • Aber ich sehe die Sache mit dem Gesetz natürlich sehr viel positiver. Für mich ist es wohl wie für Kafka auch die positive Grundlage der Welt, die wir halt nur nicht voll erfassen können, aber zumindest das Leuchten in der Ferne ist doch schon bei Kafka gegeben
  5. Nur noch eine Abschlussfrage: Mir ist aufgefallen, dass du auf die wichtige Bemerkung des Türhüters, dass dieses Tor nur für den einen Mann da ist, erst eingehst, nachdem er schon das Tor durchschritten hat. Warum hast du das auch verändert?
    • Für mich kam es darauf an, dass dieser Mann sich eben nichts mehr von dem Türhüter einreden lässt, sondern es selbst einfach ausprobiert.
    • Das Interessante ist nun, dass der Torhüter ihm das nachruft, was er all denen gesagt hat, die diese Information erst auf dem Sterbebett bekommen haben.
    • Dieser Türhüter ist so in dem Ablauf drin, den er wahrscheinlich schon häufig erlebt hat, dass er ihn jetzt zumindest diesen Mann nachrufen muss. Obwohl den das gar nicht mehr interessiert. Der blickt nur noch vorne.
  6. Danke für das Gespräch. Aber doch jetzt noch eine andere abschließende Frage: Was würdest du Schülern denn als Tipp geben, wenn sie solche kreativen Aufgaben bekommen.
    • Ich würde erst mal sagen: Freut euch, dass ihr so einen Lehrer habt.
    • Denn leider besteht der Deutschunterricht viel zu häufig nur in quälender Analyse und man merkt nichts oder nicht viel von der Schönheit oder besser dem Genuss, der mit dem Schreiben auch verbunden sein kann.
  7. Das mit dem Genuss ist ja interessant. Man hört von vielen Schriftstellern, dass sie sich regelrecht zum Schreiben zwingen müssen und Angst haben vor dem weißen Blatt.
    • Ja, die gibt es und die tun mir leid.
    • Bei mir ist es wie bei Goethe, als er sich abends ins Bett legte und sicherheitshalber einen Stift mit Papier bereit legte. Er hatte einfach Angst, dass er eine Idee vergessen könnte, bis er endlich was zu schreiben gefunden hatte.
    • Bei mir ist es also glücklicherweise so, dass ich mehr Ideen habe, als ich niederschreiben kann. Am liebsten wäre mir, wenn ich das, was ich im Kopf habe, per Gedankenübertragung auf das Papier bekommen würde. Aber so diktiere ich die Sachen immer erst mal und optimiere sie dann hinterher.
    • Und so freue ich mich immer über Schüler meiner Schreibwerkstatt, die auch vor Ideen übersprudeln. Die sollen sie dann einfach erst mal runterschreiben. Hinterher kann man das immer noch optimieren. Wichtig ist, dass man in dem Schreibfluss bleibt, in dem man sich gerade befindet. Da gibt es nämlich eine richtige Sprachmelodie, an die man sich dann auch halten sollte. Also schnell runterschreiben, dann etwas liegen lassen und laut jemandem vorlesen. Dann merkt man, wo man noch was ändern muss.
  8. Danke Lars, das war sehr interessant und wir freuen uns schon über das, was du als Nächstes mal ausprobierst

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