Zwei Bausteine in Kafkas Erzählungen – Vorstellungen und sprachliche Bilder

Antwort auf die Frage, wie kam Kafka auf seine Erzähl-Ideen?

Wenn man wissen möchte, was das Besondere der literarischen Fantasie bei Kafka war und ist, ist eine Anmerkung von Reiner Stach in seinem Buch:

Kafka. Die Jahre der Entscheidungen. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 2008. 2. Auflage, auf Seite 215

interessant. Wir erläutern im folgenden den Gedankengang.

Vorstellung der Infos in dem Buch des Wissenschaftlers Reiner Stach

Vorausgegangen ist die Bedeutung von Tiermetaphern im Leben Franz Kafkas, der viele entsprechende Beschimpfungen seines Vaters mit anhören musste. Am schlimmsten war der Vergleich von Menschen mit Ungeziefer. Vor dem Hintergrund ist es natürlich auch kein Wunder, dass Kafka Gregor Samsa genau auf diese Stufe zu Beginn der Erzählung „Die Verwandlung“ abstürzen lässt. Sehr aufschlussreich ist aber dann die folgende Warnung und Erklärung des Biografen:

„Man muss sich davor hüten, diesen Vorstellungen und Gedankenspielen Kafkas so etwas wie logische Folgerichtigkeit abzwingen zu wollen.“

  • Stach geht es hier darum, deutlich zu machen, dass Kafka nicht erst die Idee hatte, diesen Gregor Samsa abstürzen zu lassen – und dann hat er nach einem passenden Bild, in diesem Fall den des Ungeziefers, gesucht.

„Es handelt sich um Assoziationen, Bilder und innere Szenen, die sich ihm als immer neue, fließende, zunächst nur locker miteinander verwandte assoziative Zusammenhänge aufdrängten – so lange, bis er ein überzeugendes Bild oder eine Metapher entdeckte, die jene Zusammenhänge möglichst vollständig in sich aufnahm und sprachlich vermittelbar machte.“

  • Nach Meinung des Biografen war es bei Kafka so, dass erst die Bilder und auch Szenen in ihm da waren, bis er dann irgendwann begriffen hat, dass sie etwas aussagen können. Und das hat er dann literarisch ausgearbeitet – wie in diesem Falle im Anfangsteil der Erzählung „Die Verwandlung“.

„Fremdheit. Nichtigkeit, Ausgestoßensein und Stummheit sind Vorstellungen, die Kafka im Bild des Ungeziefers so einleuchtend verdichtet hat, dass sie sich im Kopf des Lesers zu heftiger, wechselseitiger Resonanz anregen.“

  • D.h.: im Kopf von Kafka gab es die genannten Erfahrungen und er hatte im Kopf das negative Bild von Ungeziefer, das sogar metaphorisch auf Menschen übertragen wurde.
  • Diese beiden Vorstellungen hat er dann zusammengebracht und literarisch so präsentiert, dass sie im Kopf des Lesers etwas anrichten.
  • Gregor Samsa erscheint nämlich plötzlich – und zwar auf anschauliche Art, als jemand, der als Ungeziefer in seinem Bett aufwacht und damit eigentlich am untersten Ende des Menschseins und vielleicht schon darüber hinaus angelangt ist, auch wenn er es selbst noch nicht begriffen hat oder nicht wahrhaben will.

„Alle diese Vorstellungen spielten jedoch in Kafkas innerer Welt längst eine bedeutsame Rolle, bevor er den entscheidenden literarischen Einfall hatte, nur mangelte es ihnen an assoziativer und bildlicher Einheit, die jener Einfall ihnen dann nachträglich verschaffte.“

  • Am Ende wird noch einmal die richtige Reihenfolge bei Kafka hervorgehoben:
    • Zuerst sind da die Vorstellungen
    • und dann kommt der literarische Einfall,
    • der sie auf beeindruckende Art und Weise erzählerisch zusammenbringt.

Bedeutung der Infos für Schüler

  • Die Frage ist nun: Was bedeutet das denn eigentlich für Schüler? Inwiefern kann ihnen das helfen, Erzählungen von Kafka zu verstehen?
  • Zuerst die scheinbar schlechte Nachricht: Im Unterschied zu Leuten wie Herrn Stach fehlen Schülern natürlich die umfassenden Kenntnisse des Lebens und der Gedankenwelt Kafkas.
  • Aber die sind auch gar nicht nötig, denn Herr Stach liefert eigentlich in dem Zitat auch schon eine Lösung für dieses Problem: Kafka schreibt eben nicht nur für Wissenschaftler und vielleicht auch gar nicht für sie. Sondern er schreibt für Leser. Und dazu gehören eben auch Schüler.
  • Greifen wir deshalb noch mal auf eine Stelle zurück. Die besagt ja gerade, dass Kafka bestimmte Vorstellungen in einem Bild so verdichtet hat,
  • „dass sie sich im Kopf des Lesers zu heftiger, wechselseitiger Resonanz anregen.“
  • D.h. also:
    • Man nimmt das Bild, das von Kafka präsentiert wird, und überlegt, was es in einem auslöst.
    • Und dabei kommt es zu „Resonanz“.
    • Wörtlich heißt das soviel wie „zusammenklingen“ und sich dabei verstärken.
    • D.h. also: Je mehr man sich in die Situation und das entsprechende Bild versetzt und es mit eigenen Erfahrungen vergleicht, desto mehr merkt man, in welche Richtung die Erzählung geht.
  • Das ist nichts anderes als der hermeneutische Prozess, von dem wir immer wieder sprechen.
    • Man schaut sich den Text an,
    • überlegt sich, worauf er hinaus läuft.
    • Dieses Vor-Verständnis überprüft man wieder am Text
    • und kommt dabei zu einem besseren Verständnis.
    • Und dieser Kreislauf zwischen Text und eigenen Gedanken führt im Idealfall dazu, dass man das optimal versteht, was der Text aussagt.
  • Natürlich gehört ein bisschen Übung dazu und es hilft natürlich auch, wenn man einige Erzählungen Kafkas schon kennt und sich gewissermaßen langsam an seine zentralen Vorstellungen und seine Erzählweise herangearbeitet hat.

Weiterführende Hinweise