Kapitelvorstellung Gerhart Hauptmann, „Bahnwärter Thiel“ Kapitel 1 (Mat5534)

Worum es hier geht:

Wir stellen hier die einzelnen Kapitel von Gerhart Hauptmanns Novelle „Bahnwärter Thiel“ näher vor.

Hier geht es zunächst um das Kapitel 1 bis zum Problem, dass Thiel nicht auf die Warnungen der Nachbarn hört.

(03) Der Verlust der ersten Frau

  • In der Geschichte geht es um einen einfachen Bahnwärter namens Thiel, der wahrscheinlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts viele Jahre ein einsames, immer gleiches Leben führt. Daraus kommt er für kurze Zeit heraus, als er eine junge Frau heiratet. Typisch für den knappen, distanzierten Stil des Erzählers ist dann die Bemerkung:
    „Und plötzlich saß der Bahnwärter wieder allein wie zuvor. An einem der vorangegangenen Wochentage hatte die Sterbeglocke geläutet: das war das Ganze.“

Das Zitat im unmittelbaren Kontext:
„Die ersten fünf Jahre hatte er den Weg von Schön-Schornstein, einer Kolonie an der Spree, herüber nach Neu-Zittau allein machen müssen. Eines schönen Tages war er dann in Begleitung eines schmächtigen und kränklich aussehenden Frauenzimmers erschienen, die, wie die Leute meinten, zu seiner herkulischen Gestalt wenig gepasst hatte. Und wiederum eines schönen Sonntag Nachmittags reichte er dieser selben Person am Altare der Kirche feierlich die Hand zum Bunde fürs Leben. Zwei Jahre nun saß das junge, zarte Weib ihm zur Seite in der Kirchenbank; zwei Jahre blickte ihr hohlwangiges, feines Gesicht neben seinem vom Wetter gebräunten in das uralte Gesangbuch –; und plötzlich saß der Bahnwärter wieder allein wie zuvor.
An einem der vorangegangenen Wochentage hatte die Sterbeglocke geläutet: das war das Ganze.“

Tipp: Über diese distanzierte Art des Erzählens kann man sicher gut diskutieren. Ist das normal, kenntman das aus manchen Situationen? Könnte man sich selbst eine vorstellen und sie mal im gleichen Stil erzählen?

(05) Wie Männer damals über starke Frauen redeten …

Der Bahnwärter heiratet dann nach einem Jahr schnell wieder – weil er für das Kind, das seine sterbende Frau noch zur Welt gebracht hat, eine Betreuung braucht.

„Gegen das neue Paar, welches nun allsonntäglich zur Kirche kam, hatten die Leute äußerlich durchaus nichts einzuwenden. Die frühere Kuhmagd schien für den Wärter wie geschaffen. Sie war kaum einen halben Kopf kleiner wie er und übertraf ihn an Gliederfülle. Auch war ihr Gesicht ganz so grob geschnitten wie das seine, nur dass ihm im Gegensatz zu dem des Wärters die Seele abging.

Wenn Thiel den Wunsch gehegt hatte, in seiner zweiten Frau eine unverwüstliche Arbeiterin, eine musterhafte Wirtschafterin zu haben, so war dieser Wunsch in überraschender Weise in Erfüllung gegangen. Drei Dinge jedoch hatte er, ohne es zu wissen, mit seiner Frau in Kauf genommen: eine harte, herrschsüchtige Gemütsart, Zanksucht und brutale Leidenschaftlichkeit. Nach Verlauf eines halben Jahres war es ortsbekannt, wer in dem Häuschen des Wärters das Regiment führte. Man bedauerte den Wärter.

Es sei ein Glück für »das Mensch«, dass sie ein so gutes Schaf wie den Thiel zum Manne bekommen habe, äußerten die aufgebrachten Ehemänner; es gäbe welche, bei denen sie gräulich anlaufen würde. So ein »Tier« müsse doch kirre zu machen sein, meinten sie, und wenn es nicht anders ginge, denn mit Schlägen. Durchgewalkt müsse sie werden, aber dann gleich so, dass es zöge.“

(05/6): Thiels Reaktion auf seine neue, starke Frau (Lene)

  • Thiel reagiert erstaunlich gelassen auf die aggressive Stärke seiner zweiten Frau. Interessant dabei der Erzählerkommentar, der ihm da eine besondere innere Stärke zuschreibt.
  • Dieser Eindruck von Stärke wird noch betont, wenn darauf hingewiesen wird, dass es für den Bahnwärter im Hinblick auf sein schon vorhandenes Kind ganz klare rote Linien gibt.
  • Am Ende dieses Abschnittes dann der Hinweis auf eine Entwicklung weg von dieser Stärke hin zu einer regelrechten Anpassungsschwäche.

„Sie durchzuwalken aber war Thiel trotz seiner sehnigen Arme nicht der Mann. Das, worüber sich die Leute ereiferten, schien ihm wenig Kopfzerbrechen zu machen. Die endlosen Predigten seiner Frau ließ er gewöhnlich wortlos über sich ergehen, und wenn er einmal antwortete, so stand das schleppende Zeitmaß, sowie der leise, kühle Ton seiner Rede in seltsamstem Gegensatz zu dem kreischenden Gekeif seiner Frau. Die Außenwelt schien ihm wenig anhaben zu können: es war, als trüge er etwas in sich, wodurch er alles Böse, was sie ihm antat, reichlich mit Gutem aufgewogen erhielt.

Trotz seines unverwüstlichen Phlegmas hatte er doch Augenblicke, in denen er nicht mit sich spaßen ließ. Es war dies immer anlässlich solcher Dinge, die Tobiaschen betrafen. Sein kindgutes, nachgiebiges Wesen gewann dann einen Anstrich von Festigkeit, dem selbst ein so unzähmbares Gemüt wie das Lenes nicht entgegenzutreten wagte.

  • Anmerkung: Die Frage ist hier, ob „Anstrich“ mit der Absicht verwendet worden ist, dass die Festigkeit nur äußerlich ist und dementsprechend auch leicht verloren gehen kann – wie der folgende Abschnitt zeigt.

Die Augenblicke indes, darin er diese Seite seines Wesens herauskehrte, wurden mit der Zeit immer seltener und verloren sich zuletzt ganz. Ein gewisser leidender Widerstand, den er der Herrschsucht Lenens während des ersten Jahres entgegengesetzt, verlor sich ebenfalls im zweiten. Er ging nicht mehr mit der früheren Gleichgültigkeit zum Dienst, nachdem er einen Auftritt mit ihr gehabt, wenn er sie nicht vorher besänftigt hatte. Er ließ sich am Ende nicht selten herab, sie zu bitten, doch wieder gut zu sein. — Nicht wie sonst mehr war ihm sein einsamer Posten inmitten des märkischen Kiefernforstes sein liebster Aufenthalt. Die stillen, hingebenden Gedanken an sein verstorbenes Weib wurden von denen an die Lebende durchkreuzt. Nicht widerwillig, wie die erste Zeit, trat er den Heimweg an, sondern mit leidenschaftlicher Hast, nachdem er vorher oft Stunden und Minuten bis zur Zeit der Ablösung gezählt hatte.“

(06-08) Seltsames Doppelleben des Mannes mit den beiden Frauen seines Lebens

Der Bahnwärter hat irgendwie ein schlechtes Gewissen wegen seiner erneuten Heirat – und so kommt es zu einer Art Doppelleben. Zu Hause hat die neue Frau das Sagen – in seinem kleinen Diensthäuschen dagegen richtet er einen regelrechten Kult ein, in dem seine erste Frau auch nach ihrem Tod immer noch die zentrale Rolle spielt:

„Er, der mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe verbunden gewesen war, geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr abhängig. — Zuzeiten empfand er Gewissensbisse über diesen Umschwung der Dinge und er bedurfte einer Anzahl außergewöhnlicher Hilfsmittel, um sich darüber hinweg zu helfen. So erklärte er sein Wärterhäuschen und die Bahnstrecke, die er zu besorgen hatte, insgeheim gleichsam für geheiligtes Land, welches ausschließlich den Manen der Toten gewidmet sein sollte. Mit Hilfe von allerhand Vorwänden war es ihm in der Tat bisher gelungen, seine Frau davon abzuhalten, ihn dahin zu begleiten.

Er hoffte es auch fernerhin tun zu können. Sie hätte nicht gewusst, welche Richtung sie einschlagen sollte, um seine »Bude«, deren Nummer sie nicht einmal kannte, aufzufinden.

Dadurch, dass er die ihm zu Gebote stehende Zeit somit gewissenhaft zwischen die Lebende und Tote zu teilen vermochte, beruhigte Thiel sein Gewissen in der Tat.

Oft freilich und besonders in Augenblicken einsamer Andacht, wenn er recht innig mit der Verstorbenen verbunden gewesen war, sah er seinen jetzigen Zustand im Lichte der Wahrheit und empfand davor Ekel.

Hatte er Tagdienst, so beschränkte sich sein geistiger Verkehr mit der Verstorbenen auf eine Menge lieber Erinnerungen aus der Zeit seines Zusammenlebens mit ihr. Im Dunkel jedoch, wenn der Schneesturm durch die Kiefern und über die Strecke raste, in tiefer Mitternacht beim Scheine seiner Laterne, da wurde das Wärterhäuschen zur Kapelle.

Eine verblichene Photographie der Verstorbenen vor sich auf dem Tisch, Gesangbuch und Bibel aufgeschlagen, las und sang er abwechselnd die lange Nacht hindurch, nur von den in Zwischenräumen vorbeitobenden Bahnzügen unterbrochen, und geriet hierbei in eine Ekstase, die sich zu Gesichten steigerte, in denen er die Tote leibhaftig vor sich sah.

Der Posten, den der Wärter nun schon zehn volle Jahre ununterbrochen innehatte, war aber in seiner Abgelegenheit dazu angetan, seine mystischen Neigungen zu fördern.“

(9) Der kleine Tobias – Entwicklung, Schicksal, Verhalten des Vaters

  • Tobias entwickelt sich nur „langsam“ (9)
  • Der Vater zeigt wieder mehr „alte Liebe“
  • Die Stiefmutter dagegen entwickelt immer mehr „Abneigung“, wobei die Geburt eines eigenen Kindes sicher eine Rolle spielt.
  • Tobias muss sich um seinen Halbbruder so kümmern, dass er sich „mehr und mehr aufrieb“.
  • Die Nachbarn, die das sehen, reagieren mit „Verwünschungen“.
  • Sein Vater aber ignoriert das erstaunlicherweise alles, wahrscheinlich will er keinen Ärger mit seiner starken zweiten Frau.

Nun diese Textsignale im Kontext (S. 9)

„Tobias entwickelte sich nur langsam: erst gegen Ablauf seines zweiten Lebensjahres lernte er notdürftig sprechen und gehen. Dem Vater bewies er eine ganz besondere Zuneigung. Wie er verständiger wurde, erwachte auch die alte Liebe des Vaters wieder. In dem Maße, wie diese zunahm, verringerte sich die Liebe der Stiefmutter zu Tobias und schlug sogar in unverkennbare Abneigung um, als Lene nach Verlauf eines neuen Jahres ebenfalls einen Jungen gebar.

Von da ab begann für Tobias eine schlimme Zeit. Er wurde besonders in Abwesenheit des Vaters unaufhörlich geplagt und musste ohne die geringste Belohnung dafür seine schwachen Kräfte im Dienste des kleinen Schreihalses einsetzen, wobei er sich mehr und mehr aufrieb. Sein Kopf bekam einen ungewöhnlichen Umfang; die brandroten Haare und das kreidige Gesicht darunter machten einen unschönen und im Verein mit der übrigen kläglichen Gestalt erbarmungswürdigen Eindruck. Wenn sich der zurückgebliebene Tobias solchergestalt, das kleine, von Gesundheit strotzende Brüderchen auf dem Arme, hinunter zur Spree schleppte, so wurden hinter den Fenstern der Hütten Verwünschungen laut, die sich jedoch niemals hervorwagten. Thiel aber, welchen die Sache doch vor allem anging, schien keine Augen für sie zu haben und wollte auch die Winke nicht verstehen, welche ihm von wohlmeinenden Nachbarsleuten gegeben wurden.“

Ergänzung: Tobias soll Bahnmeister werden, dafür wird sogar ein Sparbuch angelegt.

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