Heinrich von Kleist, „Die Fabel ohne Moral“ – wirklich? (Mat4428)

Zur Überschrift:

„Die Fabel ohne Moral“

  • Kleist setzt hier einen provokativen Akzent, weil er sich von dem befreien will, was normalerweise Kennzeichen einer Fabel ist.
  • Die Frage ist nur, ob es sich hier nicht um eine bewusste Täuschung des Lesers handelt, denn es gibt keinen Text ohne eine Aussage. Und jede Aussage ist zumindest auf dem Weg zur Moral.

Abschnitt 1

„Wenn ich dich nur hätte, sagte der Mensch zu einem Pferde,
das mit Sattel und Gebiss vor ihm stand, und ihn nicht aufsitzen lassen wollte;
wenn ich dich nur hätte, wie du zuerst, das unerzogene Kind der Natur, aus den Wäldern kamst!“

  • Der Text beginnt mit dem Monolog eines Menschen, der vor einem Pferd steht,
  • das zu einem Ausritt ausgestattet ist,
  • aber den Menschen nicht aufsetzen lassen will.

Abschnitt 2

„Ich wollte dich schon führen, leicht, wie ein Vogel, dahin, über Berg und Tal, wie es mich gut dünkte; und dir und mir sollte dabei wohl sein.“

  • Der zweite Abschnitt geht dann gar nicht auf das seltsame Verhalten des Pferdes ein, sondern macht eher die Hemmungen deutlich, die der Mensch in sich spürt.
  • Er ist es, der eine natürliche Situation beschreibt, in der sich eine Art Einheit bilden könnte und sie glücklich wären.
  • Kritische Anmerkung:
    • Was hier nicht berücksichtigt wird, ist, dass in dieser Natur-Situation es wohl gar nicht selbstverständlich war, dass ein Pferd sich glücklich von einem Menschen führen ließ.
    • Dazu musste es wahrscheinlich erst gebracht werden, was man Zähmung nennt.

Abschnitt 3

„Aber da haben sie dir Künste gelehrt, Künste,
 von welchen ich, nackt, wie ich vor dir stehe, nichts weiß;“

    • Im nächsten Schritt wird das ausgeführt, was man schon vermutet hat, nämlich der Unterschied zwischen Natur und Kunst.
    • Interessant ist, dass der Ich-Erzähler sich hier als „nackt“ vorstellt, also als nicht durch Kunst auf eine bestimmte Art und Weise verschönert, wozu ja auch die Kleidung gehören kann.
    • Gemeint könnte damit sein, dass dieser Mensch sich um Natürlichkeit bemüht, was auch seine Zurückhaltung hervorgerufen hat, die das Pferd vielleicht dazu gebracht hat, ihn nicht aufsetzen zu lassen.
    • Das würde dann bedeuten, dass das Pferd ihn schon verstanden hat, bevor er überhaupt begonnen hat zu reden.
    • Natürlich sind noch andere Erklärungen möglich:
      • Das Pferd könnte sich zum Beispiel durch die unreiterliche Erscheinung des Menschen verunsichert gefühlt haben.
      • Vielleicht ist es auch so auf Reitkunst eingestellt, dass es sich etwas anderes gar nicht mehr vorstellen kann und auch nicht will.

Abschnitt 4

„und ich müsste zu dir in die Reitbahn hinein
(wovor mich doch Gott bewahre)“

  • Im Schlussteil der Erzählung wird noch einmal deutlich, was das Pferd und den Menschen trennt,
  • nämlich das Eingestelltsein auf eine Reitbahn.
  • Der Ich-Erzähler macht deutlich, dass er das auf gar keinen Fall will.
  • Man spricht ja auch bei Tieren davon, dass sie „abgerichtet“ werden,
  • und das macht schon deutlich, dass das nicht immer ein Vorgang ist, der der Natur des Tieres entspricht.

Abschnitt 5

„wenn wir uns verständigen wollten.“

    • Am Ende gibt es eine Bemerkung, die rückwirkend wohl die gespannte Situation erklärt zwischen dem Pferd und den Menschen. Es fehlt dort offensichtlich an Verständigung, an gegenseitigem Verstehen.
    • Das dürfte damit zusammenhängen, dass das Pferd voll auf Reitkunst eingestellt, in diese Richtung abgerichtet worden ist, während der Mensch aus irgendeinem Grunde auf Natur eingestellt ist.

Zusammenfassung hin zur Aussage (Moral?)

  • Natürlich hat diese Fabel am Ende nicht nur eine Aussage, sondern sogar eine, die man problemlos als Moral verstehen kann:
    • Zu einem guten Miteinander zwischen Mensch und Tier – aber im übertragenen Sinne natürlich auch zwischen den Menschen – gehört, dass man nicht unterschiedlich abgerichtet ist.
  • Das geht zum einen in Richtung Reitkunst und  zum anderen in Richtung Naturorientierung.
  • Der Unterschied ist, dass das beim Menschen offensichtlich sein eigener Wille bestimmend ist und nicht das Ergebnis von Fremdbestimmung.
  • Als Moral könnte man formulieren:
  • Richte Lebewesen nicht so ab, dass sie sich eine natürliche Lebensweise gar nicht mehr vorstellen können.

Anregung:

  • Die Parabel hätte auch von Kafka geschrieben werden können.
    • Spannend ist es sicherlich zu prüfen, was bei Kafka gegebenfalls anders oder mehr gewesen wäre als bei Kleist.
    • Bei Kafka wäre die Aussage wahrscheinlich nicht so klar. Bei ihm läuft es am Ende ja häufig auf etwas – zumindest scheinbar – Widersinniges hinaus.
    • Vielleicht könnte man im Sinne Kafkas Folgendes ergänzen:
      „Vielleicht gibst du mir auch Sattel und Gebiss – und ich springe dann auf deinen Rücken und du führst mich dann über Berg und Tal. Vielleicht bewundert dann jemand unseren Einfallsreichtum und man baut uns ein Denkmal.“
  • Man könnte auch mal überlegen, ob die Natur der Steinzeit wirklich ein Ort des Glücks gewesen ist oder wieder wäre.
    • Kleine Anregung: Wehe, wenn man einem Raubtier begegnete.
    • Oder wenn man zu lange nichts zu essen bekam
    • oder man krank wurde und die Horde ohne einen weiterziehen musste,
    • von Zahnschmerzen gar nicht zu reden 🙁
  • Aber vielleicht gibt es ja auch Kompromissmöglichkeiten. 🙂

 Wer noch mehr möchte …