Lars Krüsand, „Zur Cancel Culture: Man soll das Kind nicht mit dem Bade ausschütten“ (Mat5965)

Lars Krüsand,

Auch für die Sprache gilt: Man soll das Kind nicht mit dem Bade ausschütten

Da ich gerne möchte, dass der Kern meiner Gedanken auch wirklich überkommt, fasse ich sie hier in fünf Sätzen kurz zusammen.

Wer dann noch Lust oder Interesse hat, den Überlegungen im Einzelnen zu folgen. Über den freue ich mich -und der kann unten weiterlesen 😉

Kurzversion

  1. Wer die Geschichte – und das sind auch alte Bücher u.ä. – nachträglich umschreibt, verfälscht die Geschichte.
    Ganz nebenbei: Wer ist dazu legitimiert? Wie groß ist die Gefahr, dass die jeweils Mächtigen die Geschichte in ihrem Sinne umschreiben, wie es George Orwell in „1984“ beschrieben hat.
  2. Vor allem nimmt man mit solchen Verfälschungen den Menschen der Zukunft, sich ein realistisches Bild von früheren Zeiten zu machen und auch die Weiterentwicklung genau zu verfolgen.
  3. Damit steht ein früherer Lernprozess nicht mehr zur Verfügung – und es besteht die Gefahr, die Fehler in gleicher oder ähnlicher Form zu wieder zu machen.
  4. Außerdem laufen wir Gefahr, die eigene Geschichte rückwirkend zu beschönigen und nehmen dann anderen Kulturen die Möglichkeit, uns darauf hinzuweisen. Denn wenn die uns eine dort noch vorhandene „alte“ Ausgabe eines Buches zeigen, werden wir das für FakeNews halten – denn wir können das bei uns nicht mehr nachvollziehen.
  5. Deshalb: Nachträgliche Kommentierung alter Werke gerne, aber keine Vernichtung früherer Realitäten, auf die wir dann auch nicht mehr kritisch zurückgreifen können.

Ausführliche Darstellung

Nun zu der ausführlichene Entwicklung der Gedanken zu diesem Thema.
Wir präsentieren sie in gegliederter Form, um eine Diskussion darüber zu erleichtern.

  1. Als ich vor vielen Jahren Lehrer wurde, habe ich einen Geschichtskurs übernommen. Und da wollte ich gleich die Kernfrage des Faches beantworten:
    Wozu ist „Geschichte“ überhaupt gut?
  2. Glücklicherweise hatte ich gerade von George Orwell den Roman „1984“ gelesen. Die meisten wissen, dass es da um die Diktatur eines sogenannten „Großen Bruders“ geht, der mit seinen Helfershelfern und auch damals vorstellbaren elektronischen Mitteln alles im Land kontrolliert – möglichst auch das Denken. Zumindest das Verhalten.
  3. Als ich dann zu der Stelle kam, wo die Hauptperson Winston seiner beruflichen Tätigkeit nachgeht, war mir gleich klar: Das ist das, womit du ein Berufsleben lang dein Fach legitimieren kannst.
  4. Er hatte nämlich die Aufgabe, den Diktator zu korrigieren. Natürlich nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit. Wenn er also eine Vorhersage gemacht hatte, die gar nicht oder sogar in Form des Gegenteils eingetreten war, dann wurde das in der entsprechenden Zeitungsausgabe korrigiert. Wer sich dann später erinnerte: Hatte der Große Bruder oder ein von ihm kontrolliertes Ministerium damals versprochen, dass es keine Kürzung der Schokoladenration kommen werde … , Und wenn er dann die entsprechende Information im Archiv der Zeitungen fand, war er ganz erstaunt, dass er sich offensichtlich geirrt hatte und nicht die Regierung.
  5. Was hat das nun mit uns zu tun?
    Wir leben heute in einer Demokratie, in der bestimmte Gruppen das fortschrittliche Denken der Menschen beschleunigen wollen.
  6. Das ist ein sehr guter Ansatz.
  7. Wenn der allerdings darin besteht, einfach frühere Bücher, umzuschreiben, also aus einem interessanten Buch aus früheren Zeiten nun Begriffe und dann vielleicht auch Inhalte so umzuschreiben, wie wir es heute tun würden, dann wird es problematisch.
  8. Denn die Menschen späterer Generationen, die diese Bücher lesen, haben überhaupt keine Möglichkeit mehr, diesen Erkenntnis- und Veränderungsprozess nachzuvollziehen. Denn es gibt ja nur noch ein Ergebnis, aber nicht den Weg darin.
  9. Das entmündigt aber die Menschen die Zukunft und nimmt ihnen die Möglichkeit eigener Bewusstseinsbildung. Letztlich werden sie „indoktriniert“, es wird ihnen also etwas „eingetrichtert“, was wünschenswert ist, aber historisch nicht wahr.
  10. Damit kommt ein Philosoph ins Spiel, der gesagt hat:
    „“Those who cannot remember the past are condemned to repeat it”
    Das heißt: Wer nicht weiß, wie die Geschichte abgelaufen ist, welche Entwicklungen es gegeben hat, der ist in der Gefahr, dass sie sich wiederholt.
    https://de.wikipedia.org/wiki/George_Santayana#cite_note-7
  11. Es ist also nichts dagegen einzuwenden, wenn man den Bewusstseinsfortschritt, den die Menschheit im Hinblick auf Diskriminierung und ähnliche schlimme Dinge erreicht hat, etwa in einer Art Vorwort oder in einer kommentierenden Fußzeile vermerkt.
  12. Wer Kinder davor schützen möchte, überhaupt in einem Buch ständig verstörende Formulierungen zu finden, kann ja eine entsprechende Ausgabe heraus geben, sollte aber im Vorwort darauf hinweisen.
  13. Es muss die Möglichkeit bestehen bleiben, dass man auch die alte Ausgabe noch liest und sich damit ein echtes Bild von der Vergangenheit bildet.
  14. Formulieren wir es also ganz deutlich:
    Wer ein altes Buch einfach umschreibt, ohne zumindest einen Kommentar einzufügen, verfälscht die Vergangenheit.
  15. Wer das kritisiert, rechtfertigt nicht die Vergangenheit, sondern versucht, eine Zukunft zu retten, die mehr enthält als Bewusstseinsfortschritte, sondern auch den mühsamen Weg dahin.
  16. Übrigens hat es so etwas wie die Zerstörung von Kulturen, die vom herrschenden Bewusstsein abweichen, schon mal gegeben. Wir bedauern heute, dass die sich christlich verstehenden Eroberer die Gebiete der Azteken und besonders auch der Maya und viele andere nicht nur viele Menschen umgebracht, sondern auch ihre Kultur mehr oder weniger ausgelöscht haben – und zwar mit Absicht.
  17. Und noch zwei Nachträge:
    1. Es gibt große Teile der Menschheit, die einen anderen Blick haben auf die Frage, was Verabsolutierung und Diskriminierung ist. Wie, wenn die anfangen, das auszusortieren und nicht mehr zuzulassen, was wir für wertvoll halten.
    2. Und übrigens: Warum „canceln“ wir unsere eigene Kultur (Geschichte) und nicht die Kultur anderer Völker (soweit das nicht leider aus anderen Gründen geschieht):
      Einfach deshalb: Weil wir „multikultuell“ sein sollen, wissen, dass der Austausch zwischen den Kulturen wertvoll ist – auch wenn uns nicht alles gefällt, was die anderen glauben, verehren und machen.
      Also dann: Lasst uns mit uns selbst zumindest so umgehen, wie wir es im Hinblick auf sogenannte „Fremde“ zu Recht verlangen.
      Sonst könnte jemand sagen: Es gibt bei uns „Fremdenfeindlichkeit nach innen“.
  18. Und zum guten Schluss noch die Erinnerung an das, was Immanuel Kannt im Hinblick auf die Aufklärung gesagt hat (in die Sprache unserer Zeit übersetzt):
    Aufklärung sei das Heraustreten aus einer Situation und Haltung der Unmündigkeit.
    Die sei gekennzeichnet dadurch, dass man andere für sich denken lässt und das dann übernimmt. Dazu gehöre vor allem Mut.
    Und wir fügen hinzu: Diese Mut-Notwendigkeit ist heute noch größer geworden, weil man sich auch noch gegen die wehren muss, die einem das eigene Denken „abnehmen“ wollen – das bedeutet, am Ende hat man es nicht mehr.
  19. Also treten wir denen einfach mit einem „Dreisatz“ entgegen:
    1. Gut, dass du dich um gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt bemühst.
    2. Aber lass mir auch meine Vorstellung davon – und die besteht darin:
    3. Ich will Rücksicht nehmen auf alle, die diskriminiert worden sind und sich auch noch so fühlen. Aber ich will, dass auch nachfolgende Generationen sich ein eigenes Bild von der geschichtlichen Entwicklung machen können – ohne nachträgliche Verfälschungen.

Nachtrag in eigener Sache:

Ich habe lange über den Titel nachgedacht. Dann gefiel mir die sprichwörtliche Wendung mit dem Kind und dem Bade am besten.

Denn das Wasser aus dem Bad wollen wir nach Gebrauch gerne loswerden.
Das steht für einen uns überholt erscheinenden Gebrauch der Sprache.
Aber zur Reinigung gehört auch, dass man sie sieht, also den alten Zustand mit dem neuen vergleichen kann.
Jeder kennt das auch, wenn man vom Friseur kommt. Dessen Arbeit fällt nur auf und wird vielleicht bewundert, wenn man auch den alten Zustand sieht.

Und das „Kind“, das man nicht mit ausschütten will, steht eben für unsere Verpflichtung gegenüber späteren Generationen, ihnen mehr zu hinterlassen als unsere Gegenwart, sondern auch die Riesen, auf deren Schultern stehen durften – was in diesem Falle „klüger“ und vor allem „menschlicher“ werden bedeutet.

Näheres zu dem schönen „Riesen“-Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Zwerge_auf_den_Schultern_von_Riesen

Weitere Infos, Tipps und Materialien