Mat4313 Lars Krüsand, „Menschenverachtung im Expressionismus?“ (Mat4313)

Vorab-Zusammenfassung

  1. Ein Dichter darf erst mal alles, denn Literatur ist ein Spielfeld, auf dem man den Autor nicht mit dem lyrischen Ich gleichsetzen darf.
  2. Aber jedes Gedicht ist auch Teil der Biografie des Dichters – und damit gibt es auch eine gewisse Verantwortung. Zumindest sollte man so klug sein, eine besonders „böse“ Sicht auf Menschen nicht über das lyrische Ich zu einer Gesamtaussage des Gedichtes zu machen, sondern es der Perspektive einer Figur zuordnen.
  3. Auf jeden Fall sollte die Überschreitung roter Linien, die – nochmal sei es gesagt – in der Literatur erlaubt sind, erkannt und ggf. kritisch kommentiert werden (dürfen).
  4. Solche kritischen Hinweise auf einzelne Gedichte oder Passagen in ihnen stellen deshalb die Größe des Gesamtwerkes eines Dichters nicht in Frage.

Lars Krüsand,

Menschenverachtung im Expressionismus?

Ein Anstoßtext, der nur zum Nachdenken auffordern will

Beginnen wir mit dem Positiven. Der Expressionismus ist eine literarische Epoche und auch eine Strömung, die viele Missstände anprangert, zum Teil recht extrem. Aber man kann eben auch sagen: Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Sind die Umstände besonders brutal, darf es die Betrachtung wohl auch sein.

Was aber ist, wenn der Zorn auf die Gegebenheiten über eine rote Linie hinausgeht? Wir sehen sie zum Beispiel im Gedicht „Die Irren“ von Georg Heym. Dort erscheinen kranke Menschen auf der Stufe von Tieren.

Da heißt es:
„Die Irren hängen an den Gitterstäben, / Wie große Spinnen, die an Mauern kleben.“

Natürlich ist das nur ein Vergleich, aber was macht er mit der Vorstellung von diesen Menschen. Abscheu und vielleicht auch Angst werden dadurch hervorgerufen. Auch werden keine Unterschiede gemacht.

Dann die Schluss-Strophe:

“ Der Haufe Irrer schaut vergnügt. Doch bald / Enthuschen sie, da fern die Peitsche knallt, / Den Mäusen gleich, die in die Erde krochen.“

Auch hier ein ziemlich problematischer Vergleich aus dem Tierreich.

Natürlich ist das erlaubt – aber man wird doch wohl kritisch fragen können, was das über den Verfasser aussagt, wenn er ein solches Gedicht in die Welt setzt. Wir sind da immer sehr zurückhaltend, weil wir die Spielräume des Poetischen gewahrt sehen wollen. Das lyrische Ich ist nicht der Autor – aber das Gedicht gehört zu seiner Biografie und man kann Fragen stellen. Zum Beispiel die, warum hier vom lyrischen Ich kein Mitgefühl, kein Verständnis gezeigt wird. Man hätte das Gleiche schreiben können, aber zum Beispiel aus der Perspektive eines brutalen Wärters.

Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, nämlich das Gedicht „Vorstadt“:

Da wird erst mal eine düstere Umgebung geschildert und dann das Elend der Bewohner der Vorstadt.

Dann aber heißt es plötzlich:

„Hier klafft ein Maul, das zahnlos auf sich reißt.“
Hier das gleiche Problem: Eine unmenschliche Betrachtungsweise wird einfach über das lyrische Ich in das Gedicht aufgenommen, ohne es durch eine Sprecher-Perspektive zu relativieren.

Dann das Elend der Kinder:
„Es spielen Kinder, denen früh man brach / Die Gliederchen. Sie springen an den Krücken / Wie Flöhe weit und humpeln voll  Entzücken / Um einen Pfennig einem Fremden nach.“

Warum der Vergleich mit Flöhen – kommt einem da nichts anderes in den Sinn?

Und wie sieht es mit dem Gefühls- und Liebesleben dieser armen Menschen aus?

„Bei alten Weibern löschen ihre Lust / Die Greise unten, trüb im Lampenschimmer, / Aus morschen Wiegen schallt das Schreien immer / Der magren Kinder nach der welken Brust.“

Das lyrische Ich hat hier nichts anderes im Sinn als die angebliche Notgeilheit alter Männer. Und wie gesagt: Es wird ungefiltert, unkommentiert präsentiert – ohne jede Relativierung bzw. spezifische Perspektivität.

Und am Ende fällt dem lyrischen Ich zu einem Menschen mit Zwergwuchs, der sich bemüht, sich in einer bestimmten Kleidung wohl zu fühlen, nur ein, dass das mit Eitelkeit zu tun haben muss – und das „Sich-Blähen“ ist auch nicht die netteste Formulierung.

Am Mauertor, in Krüppeleitelkeit / Bläht sich ein Zwerg in rotem Seidenrocke“.

Wir formulieren hier mal die folgende Hypothese, die wir gerne zur Diskussion stellen:

  1. Zum Expressionismus gehört es, Gefühle rauszuhauen
  2. und dabei im Idealfall auch Probleme und Missstände deutlich anzusprechen.
  3. Aber wenn die einseitig negative Schärfe der Betrachtung sich nicht auf die Verhältnisse und ihre Vertreter, sondern ihre Opfer richtet, muss man das kritisch ansprechen.
  4. Dazu kommt, dass Leute wie Georg Heym möglicherweise das Elend gar nicht selbst wahrgenommen haben, denn er kam aus sogenanntem guten Hause, gehörte also zu den Intellektuellen, die sich vielleicht bei einer guten Flasche Wein gegenseitig ihre Verse vorlasen – und bei solchen Auftritten gewinnt gerne der mal, der am meisten provoziert.
  5. Das ist auch in Ordnung, sollte aber nicht zu Lasten der Schwachen gehen – glücklicherweise haben wir da heute mehr Feingefühl entwickelt. Das sollte aber nicht in Frage gestellt werden, indem Vorstellungen früherer Zeiten unkommentiert gelassen werden.
  6. Und was Georg Heym angeht, so hat er mit dem Gedicht „Der Gott der Stadt“ gezeigt, wie man eine allgemeine Atmosphäre von Gewalt und Bereitschaft, sich ihr zu unterwerfen, auch anschaulich darstellen kann – ohne allgemein und unkritisch Unmenschlichkeit zu präsentieren.

 Wer noch mehr möchte …