Lessing, „Emilia Galotti“: Warum muss Emilia sterben?

Im Folgenden wollen wir zeigen, wie man eine Frage zu einem literarischen Werk erörtern kann:

Aufgabe:

Erläutern Sie, wie es zum Tod Emilias kommt. Berücksichtigen Sie dabei auch den Gesamtzusammenhang des Dramas.

  1. Auf den ersten Blick ist die Tötung Emilias durch ihren Vater für uns heute eine Ungeheuerlichkeit. Wir können uns nicht vorstellen, dass es irgendeinen Grund gibt, so etwas zu tun.
  2. Wichtig ist dabei zu verstehen, wieso Emilia ihren Tod als einzige Lösung sieht. Sie hat dabei nicht etwa Angst vor irgendeiner Form von Vergewaltigung oder Zwangsehe. Der Prinz präsentiert sich ja keineswegs als Tyrann, bleibt auf der ebene der kleinen Verbrechen, wie er selbste sagt. Rohe Gewalt ist es also nicht, was Emilia fürchtet, Vielmehr befürchtet , dass sie dem Charme des Prinzen und den Verlockungen seiner Welt erliegen könnte.
    Emilia wird hier ganz deutlich: „Gewalt! Gewalt! wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt.“
  3. Ein Schlüsselbegriff ist dabei der der Unschuld. Sie geht also davon aus, dass ihr ein ähnliches Schicksal wie der Gräfin Orsina droht, sie also vom Prinzen nicht zu seiner rechtmäßigen und anerkannten Gemahlin gemacht wird.
  4. Nur indirekt kann man erschließen, dass eine Situation als Geliebte für Emilia noch schlimmer wäre als für die Gräfin. Denn für die Welt des Adels war das damals nichts Besonderes: Die meisten Ehen waren sowieso keine Liebesverbindungen, sondern dienten nur der Fortpflanzung und damit der Sicherung der Macht der jeweiligen Fürstenfamilie. Es kam nur darauf an, Parallelbeziehungen, die mehr mit Leidenschaft zu tun hatten, auf irgendeine Art und Weise in den höfischen Rahmen einzupassen. Emilia aber vertritt die neuen bürgerlichen Tugenden, in der eine solche Situation nicht akzeptabel ist. Sexualität ist für Menschen wie sie nur vorstellbar im festen Rahmen einer Ehe. Dabei spielen auch religiöse Vorgaben eine Rolle.
  5. Interessant ist, wie stark Emilia die für uns heute selbstverständlichen Gefühle hervorhebt, die mit Sexualität und Liebe verbunden sind. Sie spricht Ihnen eine so hohe Bedeutung zu, dass sie sich nicht vorstellen kann, sie in einer entsprechenden Anregungs-Umgebung zu unterdrücken:
    • „Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine.
    • Auch meine Sinne, sind Sinne.
    • Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut.
    • Ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter; – und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten!“
  6. Deshalb bleibt ihr nur die Möglichkeit, solche Umstände zu vermeiden und das geht nicht, wenn sie sich auf den Prinzen einlässt. So wird sogar der eigene Tod zur letzten Möglichkeit des Ausweichens.
  7. Interessant ist, dass die Tradition des Verbots des Selbstmords im Christentum (und des Mordes natürlich sowieso) für Emilia keine Rolle zu spielen scheint.
  8. Was den Kontext des Dramas angeht, kommt wohl hinzu, dass der Prinz trotz seines Verhaltens auf Emilia Eindruck gemacht haben muss, wie in ihrem Rückblick auf die Begegnung in der Kirche deutlich wird.
    • Ihre Mutter Claudia: „Wir sind Menschen, Emilia. Die Gabe zu beten ist nicht immer in unserer Gewalt. Dem Himmel ist beten wollen, auch beten.
    • Daraufhin Emilia: „Und sündigen wollen, auch sündigen.“
    • C: „Das hat meine Emilia nicht wollen!“
    • E: „Nein, meine Mutter; so tief ließ mich die Gnade nicht sinken. – Aber dass fremdes Laster uns, wider unsern Willen, zu Mitschuldigen machen kann!“
      [Das ist sicher die wichtigste Stelle hier, denn sie macht deutlich, dass Emilia meint, auf Gnade angewiesen zu sein, um dem Sündigen zu entgehen. Dazu kommt, dass allein schon die Versuchung durch einen anderen als Sünde angesehen wird.]
  9. Es zeigt sich dann, dass Emilia bei ihrer Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche nicht souverän mit der Situation umgehen kann:
    • Die Mutter: „Aber weiter, meine Tochter, weiter! Als du den Prinzen erkanntest – Ich will hoffen, dass du deiner mächtig genug warest, ihm in Einem Blicke alle die Verachtung zu bezeigen, die er verdienet.“
      [Hier wird deutlich, was eine Frau in der Situation hätte tun können, die eben vorbereitet ist darauf. Das ist der Unterschied zur Situation am Schluss des Dramas. Nicht von ungefähr hat ihre Mutter das ja auch gegenüber Odoardo deutlich gemacht: „Sie ist die Furchtsamste und Entschlossenste unsers Geschlechts. Ihrer ersten Eindrücke nie mächtig; aber nach der geringsten Überlegung, in alles sich findend, auf alles gefaßt. Sie hält den Prinzen in einer Entfernung; sie spricht mit ihm in einem Tone.“ (IV,8)]
    • Für die Situation in der Kirche aber gilt Emilias Feststellung: „Das war ich nicht, meine Mutter! Nach dem Blicke, mit dem ich ihn erkannte, hatt‘ ich nicht das Herz, einen zweiten auf ihn zu richten. Ich floh‘ –“
  10. Zum Problem wird, dass die Mutter versucht, das Geschehen in der Kirche zu bagatellisieren. Sie erreicht damit zwar bei Emilia eine gewisse Erleichterung:
    • „Was für ein albernes, furchtsames Ding ich bin! – Nicht, meine Mutter? – Ich hätte mich noch wohl anders dabei nehmen können, und würde mir eben so wenig vergeben haben.“
    • Die Mutter führt dann näher aus: „Ich wollte dir das nicht sagen, meine Tochter, bevor dir es dein eigner gesunder Verstand sagte. Und ich wußte, er würde dir es sagen, sobald du wieder zu dir selbst gekommen. – Der Prinz ist galant. Du bist die unbedeutende Sprache der Galanterie zu wenig gewohnt. Eine Höflichkeit wird in ihr zur Empfindung; eine Schmeichelei zur Beteurung; ein Einfall zum Wunsche; ein Wunsch zum Vorsatze. Nichts klingt in dieser Sprache wie alles: und alles ist in ihr so viel als nichts.“
  11. Das von der Mutter empfohlene Verschweigen des Vorfalls gegenüber Appiani und vor allem Odoardo erleichtert es ungewollt, aber eben auch leichtfertig und unüberlegt, der Gegenseite ihr am Ende mörderisches Werk in Gang zu setzen. Claudia trägt damit eine Mitschuld, wobei möglicherweise auch eine Rolle spielt, dass sie sich gewisse Hoffnungen im Hinblick auf eine Verbindung zwischen dem Prinzen und Emilia macht. Das ändert sich dann, als sie erkennen muss, dass der Prinz den Überfall und damit den Tod von Emilias Bräutigam zumindest ermöglicht hat.
  12. Und für Emilia selbst geht es nicht mehr in erster Linie nur um den Prinzen, sondern die unmoralische Welt, die sie mit dem Haus des Kanzlers verbindet. Vor diesem Hintergrund ist dass Bemühen des Prinzen um sie kein galantes Werben mehr, sondern der Einstieg in einen Prozess der Verführung, dem sie nicht gewachsen sieht. So bleibt ihr nur noch die einzig mögliche Flucht, nämlich die in den Tod.