Literarische Erörterung: Wie weit geht Mendels Glaubensabfall in Roths Roman „Hiob“? (Mat160)

Worum es hier geht:

Wir wollen am Beispiel der Frage zu einem größeren literarischen Werk klären, wie eine literarische Erörterung aussehen kann. Es geht darum, wie weit der Glaubensabfall der Hauptperson im Roths Roman „Hiob“ geht.

Weiter unten gibt es eine Druckvorlage unserer Ausführungen.

Die Erörterung

Im Folgenden geht es um die Frage, „Wie weit entfernt sich Mendel von Gott und welche Bedeutung hat das für das Verständnis des märchenhaften Schlusses?“ Zitiert wird nach der „EinFach Deutsch“-Textausgabe des Schöningh-Verlages, 2012.

Erster Teil der Lösung:

Ausgangspunkt ist die Seite 118, Zeile 8 bis 21: Dort findet sich zunächst einmal ein Zornesausbruch: „und brüllte und stampfte mit den Füßen“ (118,8/9). Das ist zunächst einmal sehr ungewöhnlich für diesen in der Regel ruhigen, eher schwach wirkenden Mann.

Wichtig ist zunächst die Klärung des Kontextes: Wie kommt es zu diesem Ausbruch? Direkter Ausgangspunkt ist der Besuch Mendels bei der ins Krankenhaus eingelieferten Mirjam (112ff) – acht Tage nach dem Verzweiflungs-Tod Deborahs. Das Schicksal der Tochter empfindet er als Folge ihrer Sünde (vgl. 113,32ff), kurzzeitig fragt er sich, ob sie nicht besser in Russland geblieben wären, trotz aller moralischen Gefahren (115,10ff), hält den Gedanken dann aber gleich für eine Einflüsterung des Teufels – interessanterweise im Zusammenspiel mit Gott: „Gott hat meine Gedanken verwirrt, der Teufel denkt aus mir…“ – eine sehr nahe Anspielung an die Rahmenwette zwischen den beiden in der Bibel.

Direkte Folge der Konfrontation mit seinem aktuellen Schicksalsschlag ist ein erstaunlicher Umschlag in Härte, ausgedrückt in dem Bild des Doktors: „Seine Majestät der Schmerz … ist in den alten Juden gefahren.“ (116,14/15).

Schnell wird deutlich, dass dieser Schmerz auch mit einer Aufkündigung des Vertrauens in göttliche Hilfe verbunden ist (vgl. 116,18/19). Zwar endet seine kurze Rede an Vega mit „Gott kann helfen!“ (116,20), aber das ist wohl nur noch eine ironische Wiederholung der Arzt-Behauptung, sie steht im Widerspruch zu Mendels nachfolgenden Aktionen.

„Endlich bin ich klug geworden“ (116,30) – so sieht er sich, im Hinblick auf seine Familie stellt er fest: „Er hatte alle Beziehungen gelöst.“ (117,7/8).  Dann geht es nach den irdischen Verhältnissen um das zu Gott: „Jetzt, endlich genoss er sein Weh mit Triumph. Es galt nur noch eine Beziehung zu kündigen. Er machte sich an die Arbeit.“ (117,14-16).

Mit klarem Verstand – ohne Gefühlsausbrüche geht es an die Vorbereitung der Verbrennung all dessen, was ihn an Gott und Gottesdienst erinnert (vgl. 117,17ff). Deutlich wird die Lust, die er in seiner Fantasie schon empfindet ((vgl. 117,22ff).

Dann kommt es ab Zeile 32ff zu einer Steigerung ins Ekstatische hinein mit einer Kombination aus Trauer und Anklage.

Zurück zum gegebenen Text: Es handelt sich also um keine spontane Wut-Attacke, sondern um den Höhepunkt einer gedanklich begleiteten Gefühlsentwicklung.

Dann kommt es in 118,10ff zu einem plötzlichen Wechsel: „… aber er warf es nicht hinein … Sein Herz war böse auf Gott, aber in seinen Muskeln wohnte noch die Furcht vor Gott.“  Entscheidend ist dann der Hinweis auf die Macht der Gewohnheit, der Tradition. Es gibt keinen rationalen, keinen inneren Grund, den Bruch mit Gott auch äußerlich endgültig zu vollziehen. Interessant ist zudem, dass nur ein Teil des Körpers noch der Gewohnheit gehorcht, Mund und Füße sind schon einen Schritt weiter. Also vorläufiges Fazit: Nur noch ein kleiner Rest, der nichts mit Verstand oder Gefühl zu tun hat, hält Mendel noch ab, endgültig von Gott abzufallen, also die maximale „Sünde“ zu begehen. Und dieser Rest ist ein Zeichen von Tod, von nicht gelingender Bewegung bzw. Veränderung, die alles Leben ausmacht.

Was am Ende im Vordergrund steht, ist „Mendels Zorngesang“ (118,20/21), auf den ein „großer schmerzlicher Jubel“ (118,27) folgt. Dieser Mensch hat sich weitestgehend befreit von einem falschen Glauben, alles spricht dafür, dass es ihm auch noch gelingt, die letzten Bindungen durch eine neue Gewohnheit zu lösen. Hier könnte der Roman enden.

Druckvorlage

Ma160 Texterörterung Wie weit geht Mendels Glaubensabfall in Roths Roman Hiob

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