Martin Buber, „Die Legende des Baalschem“ – Interpretationsansätze (Mat4422)

  1. Präsentiert wird der Text als Legende, also als eine Erzählung von einer besonderen Person, die berühmt ist und als Vorbild dient.
  2. Der erste Satz macht deutlich, dass es sich um die Wiedergabe einer Geschichte handelt, die ein berühmter jüdischer Weisheitslehrer erzählt hat und die von Martin Buber in seiner Sprache wiedergegeben wird.
  3. In der Geschichte selbst wird durch einen König eine Ausgangssituation geschaffen, die durch Größe und Pracht gekennzeichnet ist und Gelegenheit gibt, die unter ihm stehenden Fürsten zu sich zu rufen.
  4. Das Besondere ist nun, dass die Fürsten nach dem Eintreten in den Palast sich einer unklaren Situation ausgesetzt sehen. Die ist gekennzeichnet dadurch, dass es anscheinend viele Türen und viele Wege gibt. Das führt dazu, dass sie nicht wissen, wie sie jetzt zum König gelangen können.
  5. Das Problem wird dann durch den Sohn des Königs geklärt, der erkennt, dass es sich hier um lauter Spiegelungen handelt, die den Zugang zum König eher erschweren als ermöglichen.
  6. Offen bleibt, wie der Sohn zu dieser Erkenntnis kommt im Unterschied zu den Fürsten.
  7. Die Legende geht in direkt über zu einer Auswertung im Hinblick auf die religiöse Frage der Gnade.
  8. Die wird verstanden als ein Geheimnis, das nicht aufzulösen sei.
  9. Als Nächstes wird die Situation – und damit verbunden wohl auch die Aufgabe eines jeden Menschen – festgestellt. Er soll sein Leben lang die Gnade suchen. Dabei wird davon ausgegangen, dass am Ende auch das Finden möglich ist.
  10. Das würde bedeuten, dass es nicht an der Person liegt, sondern an der Dauerhaftigkeit des Suchens.
  11. Am Ende steht die These, dass Gott genau diesen Prozess des ständigen Suchens will. Das wird verbunden mit der als Frage formulierten Erwartung, dass Gott die gleiche Sehnsucht hat gefunden zu werden, wie der Mensch die Sehnsucht hat, ihn zu finden.
  12. Die Geschichte lässt Fragen offen, zum Beispiel die, warum der Sohn gleich das Geheimnis dieses Saales durchschaut hat. Hier kann man nur Hypothesen aufstellen: Der Grund könnte die innere Beziehung zu seinem Vater sein. Oder aber man denkt an einen Spruch aus der Bibel: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …
    https://www.bibleserver.com/EU/Matth%C3%A4us18
  13. Ansonsten erinnert der Ansatz dieser Legende an einen Text von Lessing, in dem er sich an Gott wendet und flehentlich darum bittet, dass er nie ans Ziel seines Suchens kommen möge, weil das dann zu Ende sei. Offensichtlich ist ihm das dauerhafte Suchen der Inbegriff dessen, was er will.
  14. Das erinnert auch ein bisschen an die häufig benutzte Wendung: Der Weg ist das Ziel.
  15. Es bleibt dem Leser überlassen, dieser Auffassung von der Bedeutung des Suchens zu folgen und dabei zumindest die Hoffnung zu behalten, dass am Ende doch irgendwie ein finden steht.
  16. Allerdings dürfte Lessing da konsequenter sein als dieser Autor. Denn es gibt natürlich den Widerspruch zwischen dem Vorgang der endlosen Suche und der Möglichkeit des Findens.
  17. Bezeichnenderweise präsentiert die Legende auch keinen direkten Ratschlag an die Fürsten:
    • Sollen sie jetzt in dem Raum herumirren, bis sie verhungert sind.
    • Oder aber stoßen Sie bei genügend langer Suche gewissermaßen per Zufall auf den König
    • und hat sein Sohn nur das Glück gehabt, sehr früh auf den Vater zu stoßen. Er könnte zum Beispiel seine Nähe gespürt haben.
  18. Auf jeden Fall passt diese Legende sehr gut zu Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“. Sie ist aber – typisch für diesen Autor – mit einer negativen Perspektive versehen, steht also im Gegensatz zu dem religiös fundierten Martin Buber beziehungsweise seinem Vorabautor aus dem Bereich des Chassidismus.
  19. Man kann auch eine Beziehung herstellen zur Schlossparabel von Lessing: Die Verbindungslinie wäre denn eine falsche Suche. Es geht hier offensichtlich nicht um den einen richtigen Weg, sondern eben das eigene Bemühen. Und auch diese Fürsten können ja durch Zufall bei ihrem Herumtasten in der Spiegelwelt auf den Thron des Königs treffen, jeder auf seine Weise.
  20. Übrigens handelt es sich bei dem Text eigentlich nicht um eine Legende, weil es ja nicht um eine berühmte Person geht, die mit irgendetwas „legendär“ geworden ist. Vielmehr ist es eine typische Parabel, bei der eine Geschichte erzählt wird, um daran etwas anders zu verdeutlichen.

Wer noch mehr möchte …