Mereau, Sophie Friederike, „An einen Baum am Spalier“ – Vom Naturgedicht zum politischen Gedicht (Mat4340)

Anmerkungen zur Überschrift

An einen Baum am Spalier

  • Hier muss man wissen, was ein „Spalier“ ist:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Spalier
    Es handelt sich um eine gitterartige Holzkonstruktion, die Pflanzen zwingt, in eine bestimmte Richtung zu wachsen – sich z.B. an Hauswände anzuschmiegen.
  • Dann ist wichtig, dass das lyrische Ich sich hier an einen Baum wendet, der solchermaßen eingebunden ist.

Anmerkungen zu Teil 1

Armer Baum! An deiner kalten Mauer
Fest gebunden, stehst du traurig da,
Fühlest kaum den Zephir, der mit süßem Schauer
In den Blättern freier Bäume weilt
Und bei deinen leicht vorübereilt.

  • Gleich am Anfang ein klagender, mitfühlender Ton.
  • Dann der Hinweis auf die kalte Mauer, das Fest-Gebunden-Sein und die Traurigkeit des an eine Mauer gefesselten Naturgewächses.
  • Die beiden Zeilen danach zeigen die Alternative in freier Natur, bei der ein solcher Baum einen schönen Frühlingswind spüren kann.

Anmerkungen zu Teil 2

O! dein Anblick geht mir nah!
Und die bilderreiche Phantasie
Stellt mit ihrer flüchtigen Magie
Eine menschliche Gestalt schnell vor mich hin,
Die, auf ewig von dem freien Sinn
Der Natur entfernt, ein fremder Drang
Auch wie dich in steife Formen zwang.

  • Dann eine noch intensivere Anrede und das Bekenntnis von Mitgefühl in Form von Nähe.
  • Es folgt eine Erweiterung des Blicks auf die Situation:
    Mit Hilfe der Fantasie wird aus dem Baum eine menschliche Gestalt.
  • Die letzten drei Zeilen präsentieren dann die Gemeinsamkeit
    • Sowohl der Baum wie auch der Mensch wurden aus ihrer natürlichen Situation mit den entsprechenden Wachstumschancen entfernt
    • Ein „fremder Drang“ wurde ihnen übergestülpt,
    • „steife Formen“ erzwingt.

Insgesamt ein Gedicht,

  1. das ausgeht von einer konkreten Situation,
  2. dabei Mitgefühl mit dem geschundenen Naturgeschöpf Baum empfindet,
  3. das dann überträgt auf den Menschen,
  4. indem das lyrische Ich die Gestalt des Baums in einen Menschen verwandelt sieht
  5. und abschließend als Gemeinsamkeit feststellt, dass beide die Freiheit der Natur nicht (mehr) genießen können, einem fremden „Drang“ ausgesetzt sind, der vor allem „steife“, also unechte, künstliche „Formen“ erzwingt.

Interpretation

  1. Man kann das Gedicht zunächst mal als Naturgedicht interpretieren und kritisch den Umgang des Menschen mit Naturwesen betrachten, in diesem Fall mit einem Baum.
  2. Dann kann man es auch als politisches Gedicht wahrnehmen, das den Baum als Bild für etwas noch Wichtigeres betrachtet.
  3. Dann ist man bei der Gattungsfrage, ob der erste Teil des Gedichtes nicht auch als Gleichnis betrachtet werden kann.
  4. Schließlich kann man den Ansatz auf viele weitere Bereiche des Umgangs des Menschen mit der Natur übertragen, etwa Massentierhaltung u.ä.
  5. Beim Menschen kann man sich natürlich auch fragen, ob Einschränkungen etwa der „Höf-lichkeit“ nicht auch nötig bzw. sinnvoll sind. Natürlich bedeutet es eine Einschränkung der Natürlichkeit, wenn man sich nicht in Bus drängt oder einem anderen nicht den Parkplatz wegnehmen soll – aber wo kämen wir hin, wenn es diese Einschränkungen nicht beachten würden. Das kann man beliebig ausdehnen.
  6. Man kann aber auch genauer recherchieren, was es mit dieser Autorin auf sich hat, die in einer Zeit Gedichte veröffentlicht hat, wo das für Frauen nicht selbstverständlich möglich war.
  7. Man kann diesen Ansatz dann weiter verfolgen, indem man sich zum Beispiel von Annette von Droste-Hülshoff das Gedicht „Am Turme“ anschaut.

Kreative Anregung

Man könnte einen fiktiven Ehemann des lyrischen Ichs sich mal richtig „natürlich“ ausleben lassen, nachdem seine dichtende Frau ihm das Gedicht vorgelesen hat. Am besten wäre es, wenn man dann auch noch ein klärendes Gespräch folgen lassen würde.

 Wer noch mehr möchte …