Olaf N. Schwanke, „Fußgängerzone“ – ein erstaunlich einseitiges Gedicht

Das Gedicht und seine Fundorte

Analyse und kritische Anmerkungen zu dem Gedicht „Fußgängerzone“ von Olaf n. Schwanke

Zu  finden ist es u.a. in dem Lesebuch:

Deutschbuch P.A.U.L. D. 9, Ausgabe 2022, S. 32, ISBN 978-3-14-127419-6

Außerdem kann man es in dem folgenden Reclam-Band finden:

Großstadtlyrik, Hrsg.: Wende, Waltraud, Reclam: Stuttgart 1999, S. 241 (ISBN: 978-3-15-009639-0)

Zur Überschrift

  • Die Überschrift enthält nur eine Ortsangabe
  • Mit ihr verbindet man in erster Linie, dass es dort keine Auto -Parkplätze gibt und man sich dort auch ungestört als Fußgänger bewegen kann.

Zur 1. Strophe

  • Die erste Strophe macht dann gleich deutlich, dass es nicht um Ruhe geht, sondern um Hektik.
  • Die hängt mit der Zeit zusammen, es ist kurz vor Geschäftsschluss und das Gedicht konzentriert sich auf die Menschen, die noch schnell etwas einkaufen wollen.
  • Anmerkung:
    • Das ist natürlich völlig in Ordnung.
    • Aber es ist auch klar, dass hier der Schwerpunkt von etwas Schönem (ruhiger Ort zum Spazierengehen und sicher auch zum Shoppen) verschoben wird.
    • Es geht hier nicht mehr um die Vorteile eines solchen Ortes, sondern um einen der wenigen Nachteile.
    • Das könnte man sich schon mal notieren, wenn es um eine Stellungnahme oder um eine kreative Bearbeitung geht.

Zur 2. Strophe

  • Die zweite Strophe verstärkt jetzt noch die negative Sicht des Gedichtes.
  • Plötzlich geht es um Frost. Und wenn der nicht schon vorher da war, könnte das im übertragenen Sinne gemeint sein. Wärme wäre dann mit Offenheit der Geschäfte verbunden. Frost eben mit dem Zustand, wenn man hier nichts mehr kaufen kann.
  • Dann wird zurückblendet in das Thema der ersten Strophe, nämlich die Hektik. Dem lyrischen Ich präsentieren sich „verzerrte Fast Gesichter.
  • Dem lassen sich zwei Dinge entnehmen:
    • Zum einen verlieren nach Meinung des lyrischen Ich’s Menschen, die noch schnell einkaufen wollen, ihre wirklichen Gesichter.
    • Zum zweiten für die mögliche Anstrengung des noch schnell in den Laden-Schaffens verbunden mit dem negativen Wort verzerrt.
    • Das Wort „verzerrt“ heißt ja soviel wie: aus der Form gebracht. Normalerweise wird es verbunden mit Gefühlsregungen wie hemmungsloser Wut.
  • Auch die blauen Dämmerungslichter werden nicht mit Romantik verbunden, sondern zu einer Bedrohung für das Innere der Menschen.
    • Anmerkung: Man fragt sich dann schon, warum in einer Demokratie mit Marktwirtschaft den Menschen so etwas angetan wird.
  • Es verstärkt sich der Eindruck, dass dieses Gedicht selbst verzerrt ist, also kein wirkliches Gesicht einer Einkaufsstraße präsentiert.
  • Da es keine näheren Erläuterungen gibt, muss man wohl annehmen, dass hier jemand entweder seine eigenen Depressionen oder aber seine Ressentiments gegenüber Einkaufsfreude ausdrückt.

Zur 3. Strophe

  • Auch die nächste Strophe bietet eine Verzerrung der Wirklichkeit. Das Schließen (Ruhen der Geschäfte) wird mit Einsamkeit verbunden.
  • Dass die Leute, die die Geschäfte betreiben, sich jetzt hoffentlich auf ihr Zuhause freuen, Gerät nicht einmal ansatzweise in den Blick.
  • Auch dass der eine oder andere sich über gute Geschäfte freut, wird nicht thematisiert.
  • Stattdessen spricht das lyrische Ich sich selbst an, möchte vielleicht auf diese Art und Weise Bestätigung erreichen. Denn viele begeisterte Zuhörer würde es beim Vorlesen dieser Zeilen wohl kaum finden. Wer möchte schon mit negativen Gefühlen vollgepumpt werden.
  • Auf jeden Fall mach das lyrische Ich seine Außenseiterposition deutlich, denn es wird nicht weiter nachgedacht darüber, wer vielleicht sonst noch den Geschäftsschluss als „heilsam“ empfinden sollte.
  • Wenn man davon ausgeht, dass Schriftsteller mit Sprache sorgfältig umgehen, dann wird hier also anscheinend Geschäftstätigkeit mit Krankheit gleichgesetzt.
  • Dann in der letzten Zeile zumindest der Ansatz eines weiterführenden Blicks. Aber da, wo es jetzt spannend wird, schweigt das Gedicht. Vielleicht weiß das lyrische Ich gar nicht, wie ein möglicherweise anderes Leben aussehen könnte.
  • Natürlich kann man das Gedicht auch verteidigen und darauf hinweisen, dass die Suche nach Alternativen – wahrscheinlich zum Konsum – den Lesern überlassen bleibt. Aber es ist nicht besonders geschickt, wenn ein Text nur negative Dinge präsentiert. Dann auch noch solche, die in sich nicht einmal Hinweise auf ein besseres Leben enthalten.
  • Denn wenn man den Konsum einstellt, auf alles verzichtet, worauf man manchmal auch in letzter Minute zugreift, wird man nicht mehr lange Gedichte lesen können oder wollen.
  • Aber es gibt ja bei diesem Gedicht noch eine vierte Strophe, wieder mit drei Zeilen. Also handelt es sich insgesamt um ein Sonett. Und diese Gedichte präsentieren ja nach den beiden so genannten Quartetten (vierzeilige Strophen) dann ja die eigentliche Aussage des Gedichtes. Und die drei Fortführungspunkte am Ende der dritten Strophe wecken ja auch Erwartungen.

Zur 4. Strophe

  • Hier kommt, dass man befürchten musste:
  • die Fortführung, ja Steigerung der Verengung des Blickes.
  • Die gesamte Verkaufswelt wird reduziert auf „Schmuck und Glitter“, also potentiell teure Dinge, die aber zwar schön aussehen (glitzern) aber nicht viel wert sind.
  • Was dem gegenüber wirklich etwas wert sein könnte, wird – und man erwartet schon nichts anderes mehr – ausgelassen.
  • Im Gegensatz zu angedeuteten Wertlosigkeit dessen, was im Geschäft herum liegt, werden dann aber Gitter heruntergelassen. Das haben eigentlich nur Geschäftie nötig, die Edles verkaufen – einer der vielen Widersprüche im Text.
  • Aber vielleicht ist das lyrische Ich so in seinen Vorurteilen gefangen, dass es sich einen genaueren Blick auf die Auslagen erspart hat. Vielleicht sind die ja doch noch etwas wert und einer der letzten Kunden wollte noch schnell etwas für einen geliebten Menschen kaufen und freut sich schon auf dessen Freude am Geschenk.
  • Am Ende geht das Gedicht zu seinem Ausgangspunkt zurück. Und je nachdem, wie man die Zeile liest, kann man ihr durchaus ein Gefühl der Befriedigung entnehmen .

Zur Aussage des Gedichtes (Intentionalität) mit Kritikpunkten

Insgesamt zeigt das Gedicht

  1. etwas, was eigentlich schön sein könnte, Ruhe ausstrahlt, Gelegenheit zum Gespräch gibt,
  2. das aber auf einen einzigen problematischen Punkt reduziert wird, nämlich das Ende der täglichen Geschäftstätigkeit und damit der Möglichkeit, sein eigenes Leben mit etwas zu bereichern.
  3. Da es im Gedicht selbst nichts gibt außer der Behauptung, dass in den Geschäften nur Glitter verkauft werde, muss man davon ausgehen, dass hier jemand seine Ressentiments (seine mit besonders negativ verbundenen Vorurteile) raushaut.
  4. Möglicherweise bedient er sich der Literatur und besonders der schönen Form des Sonettes, weil ihm das eine sachliche Darstellung und Auseinandersetzung erspart.
  5. Er muss dann aber auch in Kauf nehmen, dass die Leser des Gedichtes sich keine unklaren negativen Gefühle aufdrängen lassen wollen und dem Autor allenfalls noch einmal eine kurze zweite Chance geben, ihnen etwas Nachdenkenswertes zu präsentieren.

Wem dieses Urteil zu hart oder zu voreilig vorkommt, der findet hoffentlich zumindest Argumente, mit denen man sich ja auch kritisch auseinandersetzen kann.

Weiterführende Hinweise