Paul Maar, „Der Mann, der nie zu spät kam“ (Mat1189)

Wie man aus einer Satire eine Kurzgeschichte macht: Paul Maar, „Der Mann, der nie zu spät kam“

Das Folgende ist ein Auszug aus unserer Video-Dokumentation.

Links werden die Handlungsschritte der Geschichte präsentiert – rechts folgen Überlegungen, wie man daraus eine typische Kurzgeschichte mit direktem Einstieg machen könnte.

Weiter unten zeigen wir dann, dass es noch eine zweite, bessere Lösung gekommen sind.

Dies soll allen Mut machen, die so etwas mal selbst probieren wollen.

Was diese Geschichte so schön macht

Die Geschichte von Paul Maar ist zunächst einfach nur mal schön.

Denn immerhin kann man dort etwas lernen, was zunächst einmal allem widerspricht, was in der Schule sonst gelehrt wird.

Jeder Schüler kennt das: Wenn er in der Schule zu spät kommt, gibt es mehr oder weniger Probleme.

In dieser Geschichte ist es nun so, dass ein Mensch dadurch gerettet wird, dass er sich verspätet.

Das Besondere dieser Geschichte

Es geht nämlich um einen gewissen Wilfried Kalk, der schon seit frühester Jugend stolz gewesen ist, nie zu spät gekommen zu sein.

Bezeichnend ist, was er seinen leicht verzweifelten Kollegen, die ihn bitten, doch endlich mal zu spät zu kommen, sagt: „Ich sehe nicht ein, welchen Vorteil es bringen soll, zu spät zu kommen.“

Das Schicksal meint es nun auf mehrfache Weise gut mit ihm:

  • Zunächst einmal wird er von seinem Chef im Rahmen einer Feier besonders gelobt.
  • Dann lernt er im Rahmen dieser Feier die Wirkung des Alkohols kennen, die sein Leben völlig aus der Bahn wirft. [Das zählen wir natürlich nur deshalb zu den guten Eingriffen des Schicksals, weil es diesem Mann hilft, aus seinem einseitigen Lebenskonzept herauszukommen! Denn die problematischen Folgen  eines unnormalen Verhaltens im sozialen Bereich werden ja durchaus angedeutet.]
  • Hemmungslos betrunken wird er nach Hause gebracht und wacht am nächsten Tag nicht rechtzeitig auf.
  • Daraus entwickelt sich der zweite Glücksfall, denn er rennt so schnell zum Bahnhof, dass er dabei stolpert und auf die Gleise gestürzt.
  • Während er, der nebenbei auch noch alle Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge auswendig gelernt hat, schon damit rechnet, jetzt auch fahrplanmäßig überfahren zu werden, ruft ihm der Bahnhofsvorsteher zu, der Zug habe Verspätung.

Aus dieser Erfahrung macht Wilfried nun ein neues Lebensprinzip, kommt sogar noch unregelmäßig zu spät und begründet das gegenüber seinem erstaunten Chef damit, dass er nun festgestellt habe, „dass Verspätungen manchmal recht nützlich sein können“.

Zur Frage des Kurzgeschichten-Charakters dieser Geschichte

Wie gesagt, eine wunderschöne Geschichte, auch wenn man natürlich die Schüler – wie schon gesagt – vor den Folgen des Alkohols warnen sollte. Außerdem könnte man sich schon Gedanken darüber machen, wie das Leben dieses Mannes weiter verläuft, wenn er jetzt ständig zu spät kommt.

Damit sind wir auch schon bei einem Kennzeichen einer Kurzgeschichte, das hier zutrifft. Es gibt ganz offensichtlich ein offenes Ende, denn das neue Leben von Wilfried wird sicher zu neuen Schwierigkeiten führen. Man weiß nicht, ob er seine neue Erkenntnis auf Dauer auf vernünftige Art und Weise wird umsetzen können.

Bleibt die Frage nach den anderen Kennzeichen der Kurzgeschichte:

  • Einen direkten Einstieg gibt es überhaupt nicht, denn das Leben dieses Mannes wird bis zum Wendepunkt Schritt für Schritt vom Erzähler präsentiert.
  • Mit dem Wort „Wendepunkt“ ist schon deutlich geworden, dass dieses Kennzeichen vorhanden ist.

Wie man die Geschichte umwandeln könnte

Somit bleibt jetzt nur noch die Aufgabe, diese Geschichte so umzuwandeln, dass daraus eine Kurzgeschichte wird, die alle Bedingungen des normalen Typus erfüllt.

Wer sich unsere Überlegungen kurz in einem Video erklären lassen möchte, der findet es hier:

  • Wie einfachste Lösung wäre, mit dem Sturz auf den Bahnsteig zu beginnen und im Kopf von Wilfried all das ablaufen zu lassen, was an Vorgeschichte da ist, bis hin zu der großen Veränderung, die jetzt eintritt.

Wir präsentieren hier noch mal die erste Seite der Video-Dokumentation:

Probieren wir das einmal in groben Zügen aus.

„Noch während er stürzte, wurde ihm klar, dass das die letzte Aktion in seinem Leben sein würde. Wozu hatte er schließlich den gesamten Fahrplan des Bahnhofs auswendig gelernt. Jetzt wusste er, dass sein Sturz und die Einfahrt des Zugs Nummer 1072 zusammen fallen würden“

Jetzt haben wir natürlich das Problem, dass die ganze Vorgeschichte irgendwie auftauchen muss.

Am besten lässt man Wilfried in irgendeinem Schockzustand oder halb gelähmt auf dem Gleis liegen und in der Zeit zieht sein gesamtes bisheriges Leben vor seinem inneren Auge vorbei.

  • nie zu spät im Kindergarten – erinnert sich an die Situation, wenn die Mutter hereinkam und er schon angezogen in seinem Zimmer saß
  • nie zu spät in der Schule – wenn der Hausmeister das Schultor aufschloss, stand er schon davor
  • nie zu spät zum Mittagessen, weil er nach der Schule gleich nach Hause rannte
  • nie zu spät zur Arbeit, weil er immer schon sehr früh am Bahnhof war, wenn die anderen ankamen, saß er schon an seinem Schreibtisch
  • nie zu spät zum Zug, siehe den vorigen Punkt
  • stolz darauf
  • Chef stellt ihn als Vorbild hin
  • Die Kollegen fragen ihn, ob er nicht wenigstens einmal zu spät kommen könnte (auf die damit verbundenen Akzeptanzprobleme im sozialen Umfeld geht die Geschichte, die stark aus der Perspektive von Wilfried geschrieben ist, nicht ein. Er hat das gar nicht auf dem Schirm.
  • Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Antwort des pünktlichen Kollegen, er sehe keinen Vorteil im Zuspätkommen.
  • Dann die Episode in einem Kino, wo er scheinbar zu spät kommt, dann aber erklärt, er sei zu früh, weil er eben erst den nachfolgenden Film sehen wolle.
  • Neben dem Überpünktlichsein gibt es noch eine zweite Besonderheit im Leben dieses Mannes, er lernt nämlich den Fahrplan auswendig, soweit er ihn betrifft.
  • Es folgt der Schicksalstag, an dem ihn zu ehren nach 25 Jahren eine Feier veranstaltet wird, bei der er zum ersten Mal Alkohol trinkt. Dies setzt ihn so außer Gefecht, dass er völlig betrunken von Kollegen nach Hause gebracht werden muss.
  • Dies führt dann dazu, dass er am nächsten Tag nicht rechtzeitig aufwacht und verspätet zum Bahnhof hättest. Dabei kommt es dann zu dem Sturz ins Bahngleis.
  • An dieser Stelle kann man dann anders einsteigen, weil der Autor freundlicherweise die Gedanken präsentiert, die Wilfried in dem Moment durch den Kopf gehen: An dieser Stelle kann man dann anders einsteigen, weil der Autor freundlicherweise die Gedanken präsentiert, die Wilfried in dem Moment durch den Kopf gehen:
    „Noch während des Sturzes wusste er: Alles ist aus. Dies ist der Bahnsteig vier, folglich fährt hier in diesem Augenblick der 9-16-Uhr-Zug ein, Zugnummer 1072, planmäßige Weiterfahrt 9 Uhr 21. Ich bin tot!“

Am Ende dieses in Sekunden ablaufenden Prozesses fühlt Wilfried dann eine Hand an seiner Schulter und der Bahnhofsvorsteher hilft ihm aus dem Gleis und erklärt ihm, warum er noch lebt.

Das Ende der Geschichte könnte man insofern verändern, als man ihn nur seinen Beschluss fassen lässt, dessen Umsetzung kann man sich eigentlich ersparen.

Dabei taucht allerdings die Frage auf, ob der Schlusseffekt der realen Geschichte, der ja in einer Antwort auf die Frage des Chefs besteht, dann noch in gleicher Weise gegeben ist, wie wenn er das nur denkt. Das kann aber jeder „Umwandler“ der Geschichte an der Reaktion der Zuhörer auf seine Lösung testen.

Was man hier sehr schön sehen kann

Man sieht hier deutlich, dass das Wesen der Kurzgeschichte darin besteht, an der Stelle anzusetzen, wo es auf den Wendepunkt hinausläuft. Was man aus der Vorgeschichte braucht, muss man auf irgendeine Art und Weise erzählerisch einfügen.

Es wird aber auch deutlich, dass diese Vorgeschichte sehr lang ist und den Leser eher von der zentralen Problematik ablenkt, deshalb haben wir noch eine zweite Variante entwickelt, die bei der Rede des Chefs auf der Lobesfeier ansetzt.

Und dann hier am Schluss noch eine kurze Zusammenfassung unserer Umwandlungsaktion:

Nachtrag: Diese Geschichte als Satire

Wir haben uns hier auf den Kurzgeschichten-Charakter konzentriert.

Natürlich kann man auch noch – eher nebenbei – mit den Schülern zusammen  prüfen, ob es sich bei dieser Geschichte nicht eher um eine Satire handelt. Dabei kann man dann andere vergleichbare Geschichten heranziehen, etwa von Heinrich Böll.
Vgl. etwa die „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“
Bölls „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ – Anregungen für Schule und Unterricht

Ausgehen kann man etwa von der Wikipedia-Definition, die wir hier gleich schon mal in ihre Bestandteile zerlegen und kommentieren:
(https://de.wikipedia.org/wiki/Satire – abgerufen 23.12.2019, 19:50)

  • Satire ist eine Kunstform, mit der Personen, Ereignisse oder Zustände kritisiert, verspottet oder angeprangert werden.“
    [Hier geht es um eine Person bzw. ein extremes Verhalten, das wohl am ehesten ein bisschen verspottet wird.]
  • „Typische Stilmittel der Satire sind die Übertreibung als Überhöhung oder die Untertreibung als bewusste Bagatellisierung bis ins Lächerliche oder Absurde.“
    [Hier liegt auf jeden Fall eine schon fast krankhafte Übertreibung vor. Inwieweit es sich um „Lächerliches“ oder „Absurdes“ handelt, könnte gesondert geprüft werden.]
  • „Üblicherweise ist Satire eine Kritik von unten (Bürgerempfinden) gegen oben (Repräsentanz der Macht) vorzugsweise in den Feldern Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur.“
    [Dieses Merkmal ist hier nicht gegeben – man hat eher den Eindruck, dass hier doch eher auf der mitmenschlichen Ebene erzählt und gedacht wird.]

Wer noch mehr möchte …