Positives Gegengedicht zu Wolfenstein, „Städter“ (Mat5560)

Worum es hier geht:

Wir beschreiben hier, wie man mit einem expressionistischen Gedicht kreativ umgehen kann. Zum Beispiel kann man ein Gegengedicht schreiben.

Denn man leidet schnell an der offensichtlichen Trostlosigkeit, die einem zum Beispiel in Wolfensteins Gedicht „Städter“ begegnet.

Warum also nicht mal ein Gegengedicht schreiben, das deutlich macht, wie man aus der Einsamkeit der Großstädte herauskommen kann.

Alfred Wolfenstein

Städter

  1. Dicht wie Löcher eines Siebes stehn
  2. Fenster beieinander, drängend fassen
  3. Häuser sich so dicht an, dass die Straßen
  4. Grau geschwollen wie Gewürgte stehn.

 

  1. Ineinander dicht hineingehakt
  2. Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
  3. Leute, ihre nahen Blicke baden
  4. Ineinander, ohne Scheu befragt.

 

  1. Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
  2. Dass ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
  3. Unser Flüstern, Denken … wird Gegröle …

 

  1. Und wie still in dick verschlossner Höhle
  2. Ganz unangerührt und ungeschaut
  3. Steht ein jeder fern und fühlt: alleine.

Tipps zum Anders-Schreiben:

  1. Natürlich sollte man das Ausgangsgedicht erst mal verstanden und sich
  2. darüber aufgeregt haben. Dann hat man nämlich den Stoff für ein Gegengedicht.
  3. Hier kann man den Gedanken der „Fassaden“ und der „Einsamkeit“ aufnehmen.
  4. Dann fällt einem vielleicht ein, wo die meisten Menschen heute so was erleben: Am schlimmsten dürfte es in Fahrstühlen sein, denn dort gibt es ungeschriebene Gesetze.
  5. Die lassen sich am besten durchbrechen, wenn etwas „Unordentliches“ passiert und
  6. jemand darauf menschlich reagiert.
  7. Aus dem kurzen Kontakt kann dann durchaus mehr werden.
  8. Wichtig ist, dass man nicht versucht, gleich das Reimschema nachzuahmen, das engt einen nur unnötig ein.
  9. Entscheidend ist nur die Versform, also künstlich verkürzte Zeilen – und außerdem möglichst Konzentration und vielleicht auch ein bisschen „Künstlichkeit“, indem man nicht ganz so spricht wie in der normalen Sprache.
  10. Nur Mut – wir haben es auch mal probiert und präsentieren es hier.
  11. Man kann daran auch schön sehen, wie man aus der „Not“ eine „Tugend“ machen kann. Am Ende brauchten wir eine Zeile mehr als die üblichen vier Zeilen – und – schwupps – fiel uns dazu auch ein guter Grund ein, warum die letzte Strophe anders und länger aussehen durfte als die übrigen 😉 Also nicht nur ein Gegengedicht im Inhalt, sondern auch in der Form.

Lars Krüsand,

Wenn Fassaden bröckeln

  1. Ich steige in einen Fahrstuhl
  2. und mir fällt ein,
  3. dass es dort ungeschriebene Gesetze gibt,
  4. wie man Abstand hält.
  5. Ich werde nervös,
  6. angesichts meines Gegenübers,
  7. das die Regel vielleicht besser
  8. beherrscht als ich.
  9. Vor lauter Aufregung,
  10. fallen die Blätter
  11. meiner Vorbereitung auf den Boden,
  12. schnell aufgehoben vom Gegenüber.
  13. Damit war der Bann des Gesetzes
  14. offensichtlich gebrochen.
  15. Die Blicke trafen sich
  16. Und schon ergab sich ein Gespräch.
  17. Sie hatte auch einen Termin,
  18. war nur zur Sicherheit eine Viertelstunde
  19. zu früh – warum nicht nachher wieder
  20. gemeinsam Fahrstuhl fahren
  21. und dann ins Café.

 

Diskussion:

Anhar2007 fragt, warum hier zwar schön vom „Gegenüber“ gesprochen wird, dann aber nur eine „Sie“ auftaucht und nicht ein normaler Name, der noch mehr Persönlichkeit mitbringt.

Wir haben drüber nachgedacht, sind aber beim „Sie“ geblieben, um das Gedicht allgemeingültig zu halten. Für uns wäre schön, wenn jeder den Namen dort einsetzt, der für ihn als ehemaliges Gegenüber und jetzt Partner bzw. Beziehung von Bedeutung ist.

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