Rilke, Rainer Maria, „Die Gazelle“ – Gazella Dorcas – einfach und sicher verstehen (Mat1502)

Wie versteht man ein Gedicht einfach und möglichst sicher?

  • Man beachtet die Überschrift und überlegt, worauf sie hinausläuft.
  • Dann geht man das Gedicht durch und baut dabei „induktiv“, also nach und nach Verständnis auf.
  • Außerdem überprüft man ständig die Entwicklung seines Verständnisses an den neuen Signalen des Textes (das nennt man „hermeneutisch“ vorgehen).
  • Am Ende überlegt man sich, worauf all das hinausläuft, was das lyrische Ich einem mitteilt – man ermittelt dabei die Intentionalität, indem man einfach den Satz möglichst in mehrere Richtungen fortsetzt: „Das Gedicht zeigt …“
  • Dann noch eine letzte Vorbemerkung: Am Ende werden wir sehen, dass Fachleute das Gedicht ganz anders interpretieren als wir – aber das macht nichts, denn das ist dann eine germanistische Interpretation, die Leben und Werk des Dichters mit einschließt. In der Schule wie auch im Leben allgemein geht es erst einmal um das individuelle Verständnis nur des Textes. Das darf sich gewissermaßen „germanistisch“ irren – solange es in den Spuren des Gedichtes bleibt.
  • Ein schönes Beispiel für den Unterschied zwischen Autor- und Textintention.

 

Anwendung des Modells auf das Rilke-Gedicht

Rainer Maria Rilke

Die Gazelle

Gazella Dorcas

  • Es geht offensichtlich um eine Tierart, von der man vielleicht weiß, dass sie hochbeinig und schnell ist, also eher in der Savanne beheimatet ist (Grasland).
  • Näheres erfährt man bei Wikipedia
    https://de.wikipedia.org/wiki/Gazellen
  • In einer Klassenarbeit oder Klausur müssten entsprechende Infos zur Verfügung gestellt werden, sonst kann man den Titel nicht beurteilen.
  • Den Untertitel „Gazella Dorcas“ versteht man erst mal als bilogische Gattungsbezeichnung. Dort erfährt man dann zwei Einschränkungen: Erstens ist diese Art klein und zweitens lebt sie in der Wüste. Auch das müsste bei schriftlichen Prüfungen erläuternd hinzugefügt werden.
  • Ansonsten schlagen wir vor, alle biografischen Daten zu diesem Gedicht erst mal außen vor zu lassen, weil das eine Sache der germanistischen Forschung ist. In der Schule sollte man sich auf den Text des Gedichtes konzentrieren und auf das, was es mit einem macht.

 

Verzauberte: wie kann der Einklang zweier
erwählter Worte je den Reim erreichen,
der in dir kommt und geht, wie auf ein Zeichen.
Aus deiner Stirne steigen Laub und Leier,

  • Das erste Wort klingt wie eine Anrede, was in der dritten Zeile auch deutlich wird.
  • Offensichtlich geht es um den „Einklang zweier / erwählter Worte“, was man wohl auf die Gattungsbezeichnung beziehen  muss.
  • Auf jeden Fall wird hier hervorgehoben, dass das angeredete Wesen erstens als verzaubert wahrgenommen wird und als besonders gut gereimt, also wohl harmonisch.
  • Interessant ist, dass das Harmonische „in dir kommt und geht“, also dynamisch ist. Frage: Soll das heißen, dass das Harmonische nicht immer da ist, also Kritik oder Mitleid?
  • Dann ist die Rede davon, dass die Veränderung „auf ein Zeichen“ erfolgt – und aus dem Kopf „Laub und Leier“ hervortreten. Das erinnert an griechische Sagengestalten mit Lorbeerkranz und Musikinstrument. Das ist aber nur eine Assoziation, die überprüft werden muss.
  • Wichtiger Zwischenhinweis: Dieses Gedicht zwingt zu assoziativen Hypothesen. Gemeint ist damit, dass man überlegt, was könnte damit gemeint sein. Dabei darf man auch falsch liegen, man sollte es nur eben dann korrigieren, wenn neue Textsignale auftauchen, die auch ein anderes und besseres Verständnis ermöglichen.und alles Deine geht schon im Vergleich
    durch Liebeslieder, deren Worte, weich
    wie Rosenblätter, dem, der nicht mehr liest,
    sich auf die Augen legen, die er schließt:
  • Hier haben wir zunächst mal einen sogenannten Strophensprung, d.h. der Satz geht weiter, typisch für Rilke, der gerne längere Sätze sich gewissermaßen ergießen lässt, bis man als Leser atemlos ist.
  • Dann ist wieder von Dynamik („geht“) die Rede. Wichtig ist, solche wiederkehrenden Signale zu bündeln.
  • Alles „Deine“ steht für die Ganzheit wohl weniger der Gazelle als vielmehr einer geliebten Person. Auch hier ist der Leser auf seine Verständnisnorm angewiesen, dass ein Dichter wie Rilke nicht bekannt dafür ist, Tiere anzubeten. Er nimmt hier anscheinend ein Tier als Anregung für eigene Gefühle.
  • Am Ende wird die Harmonie, die Ruhe auf den impliziten Leser, wohl das lyrische Ich und alle, die so denken und fühlen wie diese Sprecher-Instanz übertragen. Denn es wird nicht mehr gelesen, beglückt durch die „Rosenblätter“ der Worte – die schließen die Augen, offensichtlich in Ruhe und Glück.
  • Das heißt: Die Deutungshypothese erweitert sich: Nicht nur die angeredete Person steht für ruhige Bewegung (fast wie in einem asiatischen Schattentanz) und Harmonie, sondern das wirkt sich auch auf ähnliche Weise auf andere aus – wozu wohl das lyrische Ich erst mal besonders zählt.um dich zu sehen: hingetragen, als
    wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen
    und schüsse nur nicht ab, solang der Hals
  • Interessant hier, dass die Augen geschlossen werden, um das Gegenüber zu sehen. Es ist also wohl eine innere Anschauung.
  • Dann kommt die Rückkehr zum Gazellen-Bild, nämlich die Verbindung des Laufens mit Sprüngen.
  • Dabei wird das Wort „Lauf“ offensichtlich auf eine Waffe übertragen, die aber nicht abgeschossen wird.
  • Dann wieder ein Strophensprung, bei dem man als Leser gespannt ist auf das, was den Schuss des Sprungs, also die plötzlich intensivierte Dynamik aufhält.das Haupt ins Horchen hält: wie wenn beim Baden
    im Wald die Badende sich unterbricht:
    den Waldsee im gewendeten Gesicht.
  • Hier geht es darum, dass auch das Gegenüber eine Spannung zeigt, die mit „Horchen“ verbunden ist, also einer anderen Art von Wahrnehmung.
  • Das wiederum wird verglichen mit jemand, der badet – und in einem Waldsee, wobei plötzlich gestoppt wird – „im gewendeten Gesicht“, d.h. da blickt sich also jemand um.

 

Was zeigt das Gedicht, was sagt es aus? (Intentionalität)

Das Gedicht

  1. Das Gedicht hält ganz offensichtlich einen besonderen Eindruck fest, den eine Gazelle bzw. ein menschliches Gegenüber auf das Lyrische Ich macht.
  2. Dabei spielen die folgenden Elemente eine Rolle:
    1. Harmonie in der Bewegung,
    2. die plötzliche Entstehung von etwas Neuem („Laub und Leier“), was möglicherweise für Kunst und besonders Poesie steht,
    3. die besondere Wirkung auf den Betrachtenden, bei dem eine innere Schau entsteht,
    4. die wiederum konzentriert sich auf einen besonderen Moment, nämlich den der Spannung des nächsten Sprungs, der noch verzögert wird
    5. durch „Horchen“. Man kennt das, wenn man in der Ferne etwas meint zu hören und dann ein ganz auf das Hören ausgerichtetes Gesicht macht.
  3. Insgesamt ist es Rilke gelungen, auf seine typische Weise eine Beobachtung bei einem Gegenüber bis in die letzten Feinheiten festzuhalten, indem es mit bildhaften Vergleichen verbunden wird.
  4. Am besten versteht man das Gedicht, wenn man sich selbst in eine Situation hineindenkt, bei der das Auf- und Ab einer Bewegung plötzlich angehalten wird und alles sich auf eine Wahrnehmung konzentriert.
  5. Wenn man das Gedicht als Liebesgedicht versteht, dann könnte das der Moment sein, indem man den Geliebten in einem besonderen Moment innerlich für sich festbannt – vgl. das erste Wort des Gedichtes. Auch hier sind der individuellen Sinngebung keine Grenzen gesetzt – von daher ein wunderschönes Beispiel dafür, dass Kunst im Auge des Betrachters entsteht – zunächst des Lyrischen Ichs, dann aber auch bei jedem Leser.

 

Und nun das, was die germanistischen Fachleute zu dem Gedicht herausgefunden haben

  • Erfreulicherweise gibt es heute so etwas wie Google Books – und dort gibt es Auszüge aus gedruckten Werken.
  • In diesem Falle haben wir Glück, dass in dem Buch von Adrianna Hlukhovych „…wie ein dunkler sprung durch eine helle tasse“, S. 165-168 eine überaus kluge Interpretation zu finden ist, die Rilkes dichterische Situation in der Zeit der Entstehung des Gedichtes (1907) mit berücksichtigt.
  • Dort wird das Gedicht nämlich als „Musterbeispiel der Verwandlung eines Dings ins Gedicht, in den Rhythmus der skandierenden poetischen Sprache“ (165) verstanden.
  • Das heißt, das Gedicht geht aus von dem Bild der springenden Gazelle – das stimmt mit unserer schülergerechten „induktiven“ Interpretation überein.
  • Dann aber geht es gar nicht mehr um ein konkretes Wesen, sei es das Tier oder auch der geliebte Mensch, sondern „die Dichtung selbst, die dichterische Sprache in ihrer rhythmischen Bewegung“ (166).
  • Dementsprechend wir der aufgehaltene Schuss auf eine Pause, eine „Unregelmäßigkeit des Rhythmus“ (167) bezogen.
  • Die Badende im Waldsee wird dann genauso verstanden, wie wir es getan haben.
  • Das heißt: Letztlich gehen bei diesen beiden Interpretationen nur die Bedeutungsebenen auseinander: Wir haben es letztlich auf eine geliebte Person übertragen  und halten das nach wie vor für sinnvoll. Die Germanisten mit ihrer Kenntnis der ganzen Gedichte, die Rilke um 1907 herum schrieb, übertragen es auf die dichterische Sprache.
  • Aber das ergibt sich nicht zwingend aus dem Gedicht selbst.
  • Wir verfolgen das hier auch nicht weiter, weil das wirklich etwas für das Studium der Germanistik ist. In der Schule würde ein näheres Eingehen darauf Schüler nur in ihren Vorbehalten gegenüber Lyrik bestärken – nach dem Motto: „Wie soll ich das denn wissen oder erkennen?“
  • Und wir schlagen für den Deutschunterricht vor: „Gar nicht! Es reicht, wenn du für dich und uns andere auch das induktive und hermeneutische Verständnis-Verfahren so weit fortttreibst, wie es nur irgendwie geht. Und wenn sich dabei nicht ausreichend Sinn ergibt, dann gehört das Gedicht nicht in die Schule.

Wer noch mehr möchte …