Joachim Ringelnatz, „Alter Mann spricht junges Mädchen an“

Das Problem

Viele Schüler denken mit Schrecken daran, wie sie im mündlichen Abitur nach 30 Minuten Vorbereitungszeit 10 Minuten ihre Ergebnisse vortragen sollen.

Häufig sind sie nach fünf oder 6 Minuten bereits fertig und verlängern damit möglicherweise das anschließende Frage-und-Antwort-Spiel. Sie haben damit nicht nur im ersten Prüfungsteil weniger gezeigt, sondern auch noch den schwierigeren zweiten Prüfungsteil verlängert.

Ein Beispiel, wie man den eigenen Vortrag verlängern kann

Vorbereitende Aufgabe für das mögliche Abitur:

  1. Analysieren Sie das Gedicht mit besonderer Berücksichtigung der Kommunikation.
  2. Klären Sie, inwieweit man das Gedicht der Epoche der Neuen Sachlichkeit zuordnen kann.

Audio-Version unserer Lösung

Hier zunächst eine gesprochene Fassung unserer Lösung. Sie dauert etwas mehr als 8 Minuten. Wenn man in der Prüfung selbst langsamer spricht, kommt man sicherlich problemlos auf die gewünschten 10 Minuten.

 

Joachim Ringelnatz

Überschrift

“Alter Mann spricht junges Mädchen an”

  • Die Überschrift ist eher ungewöhnlich für ein Gedicht, weil es sich um einen normalen Hauptsatz handelt.
  • Allerdings liegt eine etwas verkürzte Form vor, weil zweimal der unbestimmte Artikel „ein“ weggelassen worden ist.
  • Das lässt diesen Satz dann doch wieder überschriftenartig erscheinen, also als knappe Zusammenfassung von etwas, was dann noch ausgeführt wird.

Strophe 1:

“Guten Tag! – Wie du dich bemühst,

Keine Antwort auszusprechen.

»Guten Tag« in die Luft gegrüßt,

Ist das wohl ein Sittlichkeitsverbrechen?”

  • Die erste Strophe beginnt mit einem kurzen Bericht des alten Mannes, was vorher passiert ist und wie er das einschätzt.
  • Offensichtlich hat er das junge Mädchen, um das es geht, einfach nur begrüßt und dann den Eindruck gehabt, sie bemühe sich regelrecht, darauf nicht zu antworten.
  • Wenn man sich die Situation vorstellt, spricht einiges dafür, dass das Mädchen einfach nicht von alten Männern angesprochen werden will.
  • Der alte Mann scheint die entsprechenden Probleme selbst auch im Kopf zu haben, denn er macht noch einmal deutlich, dass es ihm einfach nur um einen kurzen Gruß gegangen ist, ohne weitere Hintergedanken.
  • Die abschließende rhetorische Frage macht dann ganz deutlich und zwar in Form einer Übertreibung, wo das Problem ist: Es gehört zu den gängigen Vorurteilen In der Gesellschaft, dass alte Männer keine guten Absichten haben können, wenn sie junge Mädchen ansprechen.
  • Insgesamt fällt auf, dass in dieser ersten Strophe alles von dem alten Mann ausgegangen ist, sowohl die Aktion als auch die eigene Einschätzung der Reaktion des Mädchens.

Strophe 2:

“Jage mich nicht fort.

Ich will dich nicht verjagen.

Nun werde ich jedes weitere Wort

Zu meinem Spazierstock sagen:”

  • Zu Beginn der zweiten Strophe äußert der alte Mann eine recht weitgehende Bitte, nämlich nicht fortgejagt zu werden.
  • Offensichtlich würde er jede weitere abwehrende Reaktion des Mädchens als ein solches Wegjagen empfinden.
  • Er spricht einiges dafür, dass dieser alte Mann einsam ist und einfach nur etwas Kommunikation braucht.
  • Die letzten beiden Zeilen der Strophe sind etwas zwischen Rückzug und Ausweichmanöver, wenn er feststellt, dass seine weitere Kommunikation sich auf seinen Spazierstock beziehen wird.
  • Das ist sicherlich nicht ganz ernst gemeint. Auf jeden Fall macht er damit dem Mädchen das Angebot, dass es alles weitere nicht auf sich beziehen muss, also einfach geschehen lassen kann.

Strophe 3:

“Sprich mich nicht an und sieh mich nicht,

Du Schlankes.

Ich hatte auch einmal ein so blankes,

Junges Gesicht.”

  • Zu Beginn dieser Strophe geht der alte Mann noch einen Schritt weiter, er will das Mädchen nicht nur in Ruhe lassen, sondern auf eine besondere Art und Weise auch selbst in Ruhe gelassen werden.
  • Hintergrund ist ganz offensichtlich der Altersunterschied, den er selbst jetzt wohl als schmerzlich empfindet und an den er möglichst nicht erinnert werden will.

Strophe 4:

“Wie viele hatten,

Was du noch hast.

Schenke mir nur deinen Schatten

Für eine kurze Rast.”

  • Es folgt eine Art resignierende Zusammenfassung seiner Erfahrungen, dass eben Jugendlichkeit irgendwann eine Angelegenheit der Vergangenheit ist.
  • Am Ende dann doch wieder Zuwendung zu dem Mädchen. Der alte Mann macht sich dabei ganz klein und will nur den Schatten des Mädchens haben und zwar als „eine kurze Rast“. 
  • Da irgendwo im Gedicht von einer Ruhebank die Rede ist, ist das wohl im übertragenen Sinne zu verstehen.
  • Der Mann möchte einfach in Gegenwart des Mädchens für eine kurze Zeit aus seiner Situation des Alters und wahrscheinlich auch der Gebrechlichkeit herauskommen. Diese kurze Unterbrechung scheint ihm gut zu tun und ihm wieder Kraft zu geben für seinen weiteren Weg.

Aussagen des Gedichtes (Intentionalität)

Insgesamt zeigt das Gedicht

  1. die Schwierigkeiten der Kommunikation in bestimmten Situationen, weil sie von Unterschieden und Vorurteilen bestimmt ist.
  2. Das Gedicht zeigt aber auch viel Einfühlungsvermögen bei dem alten Mann und auch die Bereitschaft beziehungsweise Fähigkeit, über den Schatten der Ausgangssituation zu springen und dem Mädchen seine weitere Anwesenheit leicht zu machen.
  3. Außerdem wird deutlich, was der alte Mann von dem Mädchen will, nämlich nur eine kurze Pause in seinem Leben im Alter, die ihm anscheinend Kraft gibt.

 

Künstlerische Eigenart des Gedichtes:

  • Das Besondere an diesem Gedicht ist die Tatsache, dass es sich eigentlich nur um einen Monolog handelt, der aber die Reaktion der anderen Seite mit einbezieht und darauf mit einem Vorschlag und einer Erklärung reagiert.
  • Ein spezielles künstlerisches Mittel ist der Gegensatz zwischen „in die Luft gegrüßt“ und „Sittlichkeitsverbrechen“. Dadurch wird das Ausmaß möglicher Missverständnisse sehr gut deutlich gemacht.
  • Ein weiteres Mittel bis die zweimalige Verwendung des Wortes „jagen“. Es macht deutlich, wie angespannt oder sogar gefährlich die Situation empfunden werden kann. Bei dem Mädchen würde es sich um ein Missverständnis handeln, während der alte Mann von sich aus klarmacht, dass ihm das gar nicht im Sinne ist.
  • Ein schöner Einfall ist natürlich die spielerische Personifikation des Spazierstocks, die die Spannung aus der Situation nimmt und beiden Beteiligten ein vorläufiges Ausweichen und damit die Verhinderung einer Konfrontation ermöglicht.
  • Ein besonderes Mittel liegt vor, wenn der alte Mann das Mädchen  plötzlich reduziert auf sein Schlanksein. Damit meint er zusammenfassend all das, was die Jugendlichkeit und damit auch die ganz besondere Schönheit des Mädchens für ihn ausmacht.
  • Das letzte Mittel, nämlich die Reduzierung der Wünsche auf den „Schatten“ ist ein weiterer guter Einfall, der abschließend alle Reste von Missverständnis und Konfrontation aus der Situation herausnehmen dürfte.
  • Dazu kommt der Begriff der “Rast”, der in seiner Kontextlosigkeit den Leser des Gedichtes endgültig zum Nachdenken bringt über die besonderen Bedürfnisse des alten Mannes, aber auch die besonderen Chancen eines solchen Kontaktes, auch wenn es beim Monolog bleiben sollte.
  • Auf jeden Fall ist es reizvoll, sich vorzustellen, was zwischen den beiden Menschen sich noch ergeben könnte im Sinne eines echten Austausches über das, was jeden vielleicht gerade bewegt.

 

Zur Aufgabe zwei:

  1. Das Gedicht gehört schon mal zeitlich in die Epoche der Neuen Sachlichkeit.
  2. Dabei handelt es sich um eine nachfolgende Gegenbewegung zum Expressionismus. Sie bemühte sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg um eine nüchterne Betrachtung der Wirklichkeit.
  3. Das schloss  allerdings nicht aus, dass bestimmte Situationen sehr gut sichtbar gemacht wurden. Berühmt ist von Kästner ja das Gedicht „Sachliche Romanze“, In dem ganz nüchtern und damit auch umso erschreckender gezeigt wird, wie einem Paar die Liebe verloren gehen kann.
  4. In diesem Gedicht wird auf ähnliche Weise, aber sehr viel positiver, auf das Verhältnis der Generationen eingegangen und eine Möglichkeit aufgezeigt, wie in der Kommunikation Vorurteile überwunden werden können.

Weiterführende Hinweise