Bernhard Schlink ist mit seinem Roman „Der Vorleser“ ein außergewöhnliches Buch gelungen, vor allem lebt das Werk von der ehemaligen KZ-Aufseherin und ihrer Widersprüchlichkeit.
Wir stellen hier die wesentlichen Daten, Fakten und Überlegungen zusammen, die zu einer Charakteristik dieser Frau gehören. Basis sind dabei längere Textpassagen, die sorgfältig ausgewertet werden.
Übersicht:
- Einleitung – zur Bedeutung der Person Hannas
- Prägungen durch den Analphabetismus
- Hannas erstes Auftreten im Roman
- Hannas Umgang mit Aggression
- Hannas Hang zur Sauberkeit
- Hannas Sexualität
- Die Frage der Liebe zwischen Hanna und Michael
- Fazit: Die negative Seite von Hannas Persönlichkeit
- Positive Aspekte
- Die Frage des Selbstmords
- Die Offenheit des Schlusses
Einleitung – zur Bedeutung der Person Hannas
Schlinks Roman besteht im wesentlichen nur aus der Beschreibung des Verhältnisses zweier Personen und seiner Entwicklung. Dabei haben die beiden Figuren eine sehr unterschiedliche Rolle – der Erzähler selbst, ein zunächst ein 15jähriger Junge namens Michael Berg, ist zunächst passiv, gerät in den sexuellen Bann einer älteren Frau (Hanna Schmitz), die er schließlich durch das Vorlesen literarischer Werke in seine Welt gymnasialer Bildung einführt. Die eigentlich interessante Figur ist und bleibt diese Frau, deren Geheimnis schließlich im Rahmen eines Prozesses offenbar wird, an der ihr ehemaliger „Vorleser“ als Beobachter teilnimmt.
Was diese Hanna Schmitz vor allem prägt, ist ihr Analphabetismus, den sie mit hohem Aufwand vor der Welt und auch vor ihrem jungen Geliebten verbirgt, erst im Gefängnis lernt sie mit Hilfe von Vorlese-Kassetten des Erzählers lesen.
Prägungen durch den Analphabetismus
Man kann an verschiedenen Stellen im Roman deutlich erkennen, wie sehr diese Frau durch ihren Analphabetismus geprägt und in bestimmte, für sie verhängnisvolle Richtungen gedrängt wird:
Warum Hanna zur SS ging
Da ist einmal die Frage, warum diese ungewöhnliche Frau sich mit der SS eingelassen hat. Der Grund wird im Laufe des Verhörs sehr klar:
Ja, sie wolle stehen. ja, sie sei am 21. Oktober 1922 bei Hermannstadt geboren worden und jetzt dreiundvierzig Jahre alt. ja, sie habe in Berlin bei Siemens gearbeitet und sei im Herbst 1943 zur SS gegangen.
»Sie sind freiwillig zur SS gegangen?« »Ja.«
»Warum?«
Hanna antwortete nicht.
»Stimmt es, dass Sie zur SS gegangen sind, obwohl Ihnen bei Siemens eine Stelle als Vorarbeiterin angeboten worden war?«
Diese Textstelle auf Seite 91 der Diogenes Taschenbuchausgabe zeigt, dass Hanna im Laufe des Jahres 1943 eine bessere Arbeitsstelle angeboten wurde, die aber mit höheren Anforderungen verbunden gewesen wäre und ihren Analphabetismus offenbar hätte werden lassen. Dem Problem hat sie sich entzogen, indem sie sich von der SS für einen Dienst anwerben ließ, bei dem die Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben leichter verborgen werden konnte, wenn auch nur dadurch, dass man dafür in eine Hölle von Unmenschlichkeit und Schuld hineingezogen wurde.
Wichtig ist, dass Hanna die Frage nach dem Grund für ihren Eintritt nicht beantwortet, das kann nur zu Missverständnissen führen und ihr Verteidiger, der dann nach der Nachfrage eingreift, ist ihr keine große Hilfe.
Unzureichende Vorbereitung auf den Prozess
Auf S. 104/5 zeigt sich eine zweite Situation, in der Hannas Analphabetismus ihr schadet. Es geht dabei um die Anklageschrift, die sie gar nicht gelesen hat, lesen konnte, erst im Prozess wird sie verlesen, was dann zu verspäteten Reaktionen der Angeklagten führt:
Für Hanna hätte die Verhandlung nicht schlechter laufen können. Schon bei ihrer Vernehmung zur Person hatte sie auf das Gericht keinen guten Eindruck gemacht. Nach der Verlesung der Anklage meldete sie sich, weil etwas nicht stimme; der Vorsitzende Richter wies sie irritiert zurecht, vor Eröffnung des Hauptverfahrens habe sie die Anklage lange genug studieren und ihre Einwendungen erheben können, jetzt sei man in der Hauptverhandlung, und was an der Anklage stimme und nicht stimme, werde die Beweisaufnahme zeigen. Als zu Beginn der Beweisaufnahme der Vorsitzende Richter vorschlug, auf die Verlesung der deutschen Fassung des Buchs der Tochter zu verzichten, da sie, von einem deutschen Verlag zur Veröffentlichung vorbereitet, allen Beteiligten im Manuskript zugänglich gemacht worden war, musste Hanna von ihrem Anwalt unter dem irritierten Blick des Vorsitzenden Richters dazu überredet werden, sich einverstanden zu erklären. Sie wollte nicht. Sie wollte auch nicht akzeptieren, dass sie bei einer früheren richterlichen Vernehmung zugegeben hatte, den Schlüssel zur Kirche gehabt zu haben. Sie habe den Schlüssel nicht gehabt, niemand habe den Schlüssel gehabt, es habe den einen Schlüssel zur Kirche gar nicht gegeben, sondern mehrere Schlüssel zu mehreren Türen, und die hätten von außen in den Schlössern gesteckt. Aber im Protokoll ihrer richterlichen Vernehmung, von ihr gelesen und unterschrieben, stand es anders, und dass sie fragte, warum man ihr etwas anhängen wolle, machte die Sache nicht besser. Sie fragte nicht laut, nicht rechthaberisch, aber beharrlich und dabei, wie ich fand, sicht- und hörbar verwirrt und ratlos, und dass sie davon redete, man wolle ihr etwas anhängen, meinte sie nicht als Vorwurf der Rechtsbeugung. Aber der Vorsitzende Richter verstand es so und reagierte mit Schärfe. Hannas Anwalt sprang auf und legte los, eifrig und hastig, wurde gefragt, ob er sich den Vorwurf seiner Mandantin zu eigen mache, und setzte sich wieder.
Hinzu kommen also noch zwei weitere Momente, einmal, dass Hanna auch das Buch der Überlebenden nicht gelesen hat, lesen konnte – und auch mit den Vernehmungsprotokollen gibt es Schwierigkeiten, weil die Beamten es ihr sicher nur gezeigt, aber nicht vorgelesen haben.
Am Ende hat sie den Richter verärgert – ihr Verteidiger hat ihr wiederum in der Situation nicht helfen können – aber er ist ja auch ohne Kenntnis des entscheidenden Punkts.
Die Übernahme der Verantwortung
Zu einer dritten Verschlechterung von Hannas Situation – wieder aus dem gleichen Grund – kommt es bei der Frage, wer den verhängnisvollen Bericht über den Vorfall beim Bombenangriff geschrieben hat.
»Haben Sie den Bericht geschrieben?«
Wir haben uns zusammen überlegt, was wir schreiben sollen. Wir wollten denen, die sich davongemacht hatten, nichts anhängen. Aber dass wir was falsch gemacht hätten, wollten wir uns auch nicht anziehen.«
»Sie sagen also, Sie haben zusammen überlegt. Wer hat geschrieben?«
»Du!« Die andere Angeklagte zeigte wieder mit dem Finger auf Hanna.
»Nein, ich habe nicht geschrieben. Ist es wichtig, wer geschrieben hat?«
Ein Staatsanwalt schlug vor, einen Sachverständigen die Schrift des Berichts und die Schrift der Angeklagten Schmitz miteinander vergleichen zu lassen.
»Meine Schrift? Sie wollen meine Schrift … «
Der Vorsitzende, der Staatsanwalt und Hannas Verteidiger diskutierten, ob eine Schrift ihre Identität über mehr als fünfzehn Jahre durchhält und erkennen lässt. Hanna hörte zu und setzte ein paarmal an, etwas zu sagen oder zu fragen, war zunehmend alarmiert. Dann sagte sie: »Sie brauchen keinen Sachverständigen holen. Ich gebe zu, dass ich den Bericht geschrieben habe.«
Besonders diese Textstelle macht deutlich, wie sehr Hanna in Panik gerät, wenn ihre Lese- und Schreibunfähigkeit in Gefahr gerät, an die Öffentlichkeit zu geraten. Lieber ist sie bereit, die ihr von ihren Mittäterinnen zugeschobene Schuld zu übernehmen, als eine Wahrheit ans Tageslicht kommen zu lassen, die strafrechtlich ohne jede Bedeutung ist, sie in dieser Hinsicht sogar massiv entlasten würde – dafür aber müsste sie etwas eingestehen, was sie zu diesem Zeitpunkt anscheinend viel stärker belastet.
Zwischen-Fazit zur Bedeutung des Analphabetismus für Hanna
Die drei Stellen dürften deutlich gemacht haben, wie sehr Hanna unter ihrem Lese- und Schreibdefizit leidet und wie viele Anstrengungen und Opfer sie auf sich nimmt, um es zu verbergen. Viel spricht dafür, dass ihr ständiger Kampf um Selbstbehauptung in einer ihr in einem entscheidenden Punkt überlegenen Welt ihren möglicherweise vorhandenen Hang zu Härte und Brutalität verstärkt.
Hannas erstes Auftreten im Roman
Eine gewisse Härte wird schon gleich am Anfang des Romans deutlich an ihrem Umgang mit dem Jungen, der da so plötzlich vor ihrer Tür zusammenbricht:
Die Frau, die sich meiner annahm, tat es fast grob. Sie nahm meinen Arm und führte mich durch den dunklen Hausgang in den Hof. Oben waren von Fenster zu Fenster Leinen gespannt und hing Wäsche. Im Hof lagerte Holz; in einer offenstehenden Werkstatt kreischte eine Säge und flogen die Späne. Neben der Tür zum Hof war ein Wasserhahn. Die Frau drehte den Hahn auf, wusch zuerst meine Hand und klatschte mir dann das Wasser, das sie in ihren hohlen Händen auffing, ins Gesicht.
Hannas Umgang mit Aggression
Später gibt es dann eine noch viel massivere Situation, die wieder direkt mit ihrem zentralen Problem zusammenhängt:
Sie hatte den schmalen ledernen Gürtel in der Hand, den sie um ihr Kleid tat, machte einen Schritt zurück und zog ihn mir durchs Gesicht. Meine Lippe platzte, und ich schmeckte Blut. Es tat nicht weh. Ich war furchtbar erschrocken. Sie holte noch mal aus. (53)
Zu diesem Gewaltakt kommt es, weil sie den Zettel nicht lesen konnte, den Michael ihr hingelegt hatte – so hatte sie zugleich die Angst, vielleicht verlassen zu werden, durchlebt, und im Bewusstsein leben müssen, dass diese Angst mit ihrer Leseunfähigkeit zusammenhing. Das Gefühl des Defizits und das Aufkommen von Aggressivität liegen hier ganz eindeutig eng beieinander.
Wichtig ist aber auch, wie die Situation sich weiterentwickelt:
Aber sie schlug nicht noch mal. Sie ließ den Arm sinken und den Gürtel fallen und weinte. Ich hatte sie noch nie weinen sehen. Ihr Gesicht verlor alle Form. Aufgerissene Augen, aufgerissener Mund, die Lider nach den ersten Tränen verquollen, rote Flecken auf Wange und Hals. Aus ihrem Mund kamen krächzende, kehlige Laute, ähnlich dem tonlosen Schrei, wenn wir uns liebten. Sie stand da und sah mich durch ihre Tränen an.
Ich hätte sie in meine Arme nehmen sollen. Aber ich konnte nicht. Ich wusste nicht, was tun. Bei uns zu Hause weinte man nicht so. Man schlug nicht, nicht mit der Hand und erst recht nicht mit einem Lederriemen. Man redete. Aber was sollte ich sagen?
Sie machte zwei Schritte zu mir, warf sich an meine Brust, schlug mit den Fäusten auf mich ein, klammerte sich an mich. jetzt konnte ich sie halten. Ihre Schultern zuckten, sie schlug mit der Stirn an meine Brust. Dann seufzte sie tief und kuschelte sich in meine Arme. (53/4)
Hier merkt man, dass diese Frau nicht nur aus Aggressivität besteht und sich ihr hemmungslos hingibt, sie verfügt über genügend Bewusstsein, um sich nach dem ersten Ausbruch kontrollieren zu können und die Zuneigung zu dem Jungen dominiert sehr schnell jedes andere Gefühl, auch wenn es im Unter- und Hintergrund noch nachwirkt – aber es wird jetzt anders geäußert, nicht mehr auf die so schrecklich autoritär-brutale Art und Weise wie am Anfang.
Hannas Hang zur Sauberkeit
Neben einer gewissen Härte spielt bei Hanna ein extremer Hang zur Sauberkeit eine große Rolle. Im Zusammenhang mit der Beschreibung ihrer ersten Beziehungsphase stellt der Erzähler fest:
Sie war von peinlicher Sauberkeit, hatte morgens geduscht, und ich mochte den Geruch nach Parfum, frischem Schweiß und Straßenbahn, den sie von der Arbeit mitbrachte. Aber ich mochte auch ihren nassen, seifigen Körper; ich ließ mich gerne von ihr einseifen und seifte sie gerne ein, und sie lehrte mich, das nicht verschämt zu tun, sondern mit selbstverständlicher, besitzergreifender Gründlichkeit. (33)
Es liegt nahe zu vermuten, dass dieser Waschzwang (nicht von ungefähr ist von „peinlicher“ Sauberkeit die Rede) etwas mit Hannas Bemühen zu tun hat, ihre Vergangenheit und ihre Schuld abzuwaschen. Wichtig ist, dass sie später, als sie sich mit ihrer Schuld auseinandersetzt hat, nicht mehr so viel Wert auf absolute Reinlichkeit legt:
Sie hatte immer auf sich gehalten, war bei ihrer kräftigen Gestalt doch schlank und von peinlicher, gepflegter Sauberkeit. Jetzt fing sie an, viel zu essen, sich selten zu waschen, sie wurde dick und roch. Sie wirkte dabei nicht unglücklich oder unzufrieden. (196)
Offensichtlich hat sie ihre Situation angenommen und dabei auch Frieden gefunden.
Hannas Sexualität
Kehren wir noch einmal zurück zu der Stelle auf S. 33: Neben Hannas Sauberkeitstick kommt dort etwas zum Tragen, was sicher für die 50er Jahre, in denen der Roman spielt, nicht selbstverständlich war: Diese Frau hat nicht nur Defizite, die sie in schreckliche Verstrickungen und Schuld gebracht haben, diese Frau zeigt nicht nur viel Härte bei ihrem Selbstbehauptungswillen, diese Frau geht auch ungewöhnlich offen und natürlich mit ihrer Sexualität um.
Zwar empfindet der junge Michael Berg Hanna beim Sexualakt auch als durchsetzungsstark, ja besitzergreifend, aber sie kann doch auch sehr zärtlich und liebevoll sein. Dennoch bleibt die Frage, ob ein solches Verhältnis, bei dem eine erwachsene Frau sich einen Jugendlichen hörig macht, nicht nur strafrechtlich problematisch ist (Unzucht mit Minderjährigen), sondern auch letztlich Michael belastet und ebenfalls negativ prägt – aber das ist ein eigenes Thema und soll in einer entsprechenden Charakteristik der zweiten Hauptfigur behandelt werden.
Die Frage der Liebe zwischen Hanna und Michael
Bleibt die Frage, ob es sich aus Sicht Hannas bei ihrem Verhältnis um Liebe handelt. Wichtig ist hier zunächst einmal die Textstelle:
Aber als ich am nächsten Tag kam und sie küssen wollte, entzog sie sich. »Zuerst musst du mir vorlesen.« (43)
Hier scheint die Priorität ganz klar zu sein, aber man darf nicht vergessen, dass sich das erneute Vorlesen (nach den Erfahrungen im Arbeitslager) erst nach der ersten sexuellen Begegnung ergab. Offensichtlich stand Begehren bei Hanna am Anfang, aber ob es nicht auf irgendeine Art von Nutzverhältnis abzielte, muss natürlich offen bleiben.
Zumindest gibt es ganz eindeutige Stellen, die dieses Verhältnis als Zweikampf beschreiben, bei dem der jüngere Partner nur verlieren kann:
Ich hatte nicht nur diesen Streit verloren. Ich hatte nach kurzem Kampf kapituliert, als sie drohte, mich zurückzuweisen, sich mir zu entziehen. In den kommenden Wochen habe ich nicht einmal mehr kurz gekämpft. Wenn sie drohte, habe ich sofort bedingungslos kapituliert. Ich habe alles auf mich genommen. Ich habe Fehler zugegeben, die ich nicht begangen hatte, Absichten eingestanden, die ich nie gehegt hatte. Wenn sie kalt und hart wurde, bettelte ich darum, dass sie mir wieder gut ist, mir verzeiht, mich liebt. Manchmal empfand ich, als leide sie selbst unter ihrem Erkalten und Erstarren. Als sehne sie sich nach der Wärme meiner Entschuldigungen, Beteuerungen und Beschwörungen. Manchmal dachte ich, sie triumphiert einfach über mich. Aber so oder so hatte ich keine Wahl. (50)
Man gerät hier in Grenzbereiche der Beschreibung von Beziehungen und Befindlichkeiten, die nur noch subjektiv beurteilt werden können – zumindest was die Frage der Liebe angeht. Deutlich wird aber die hinter allem stehende Sehnsucht nach „Wärme“ – Hanna ist ein Opfer ihrer Zeit und ihrer Entwicklung.
Fazit: Die negative Seite von Hannas Persönlichkeit
Schließen wir diesen negativen Punkt der Charakteristik Hannas ab mit einer Textstelle, die noch einmal sehr gut den Außenseiterstatus von Hanna deutlich macht:
Sie hatte kein Gefühl für den Kontext, für die Regeln, nach denen gespielt wurde, für die Formeln, nach denen sich ihre Äußerungen und die der anderen zu Schuld und Unschuld, Verurteilung und Freispruch verrechneten. (105)
Positive Aspekte
Von einer für die damalige Zeit außerordentlich großen Bereitschaft zu natürlichem Umgang mit Sexualität war schon die Rede, positiv hervorgehoben werden muss auch noch Hannas Verhalten und Entwicklung während ihrer Gefängniszeit: Sie setzt sich für ihre Mitgefangenen ein, erreicht sogar durch einen Sitzstreik die Rücknahme von Kürzungen im Bereich der Gefängnisbibliothek – also in dem Bereich, der ihr selbst zunächst am fernsten lag. Aber sie hat an sich gearbeitet, hat mühsam Lesen gelernt, wieder auf eine sehr ungewöhnliche, eigenständige Weise, indem sie die besprochenen Kassetten mit den Büchern verglich.
Sie hat sich auseinandergesetzt mit ihrer Vergangenheit und – wie schon erwähnt wurde – dabei ihren Frieden gefunden. Ihr letzter Wunsch gilt dem Versuch, Versöhnung mit den überlebenden Opfern zu erreichen.
Wichtig ist auch ihr Verhältnis zu den Mitgefangenen – sie akzeptieren sie als Autorität, lassen sich gerne von ihr helfen. An dieser kleinen, scheinbar nebensächlichen Stelle wird auch noch einmal deutlich, welches Potenzial in diesem Menschen steckte, das aufgrund äußerer Umstände nicht nur nicht genutzt wurde, sondern sogar in einem verbrecherischen Umfeld zu Schuld wurde.
Die Frage des Selbstmords
Rein äußerlich – kein Grund für einen Selbstmord
Bleibt die Frage, warum eine solche Frau sich umbringt – am Tag vor der Freilassung, obwohl sie weiß, dass für eine bessere Zukunft alles vorbereitet ist.
Die Bedeutung der letzten Begegnung
Wie immer lohnt es sich am meisten, sich eine Textstelle genauer anzuschauen – in diesem Fall die Schilderung des letzten Treffens der Beiden (S. 184-188).
1. Schritt: Negativer erster Eindruck des Erzählers von Hanna
Es beginnt damit, dass der Erzähler die Veränderungen bei Hanna feststellt, die nicht zu ihrem Vorteil sind:
„Hanna? Die Frau auf der Bank war Hanna? Graue Haare, ein Gesicht mit tiefen senkrechten Furchen in der Stirn, in den Backen, um den Mund und ein schwerer Leib. Sie trug ein zu enges, an Brust, Bauch und Schenkeln spannendes hellblaues Kleid.“ (184)
2. Schritt: Aus Hannas Freude wird ein „müdes Lächeln“.
Das zweite Moment ist die Veränderung, die bei Hanna zu Beginn der Begegnung vorgeht:
„Ich sah die Erwartung in ihrem Gesicht, sah es in Freude aufglänzen, als sie mich erkannte, sah ihre Augen mein Gesicht abtasten, als ich näherkam, sah ihre Augen suchen, fragen, unsicher und verletzt schauen und sah ihr Gesicht erlöschen. Als ich bei ihr war, lächelte sie ein freundliches, müdes Lächeln. (184/185)
Wichtig ist, dass Hanna zunächst voll froher Erwartung ist – dann aber stellt sie Dinge fest, mit denen sie Probleme hat, jedenfalls lassen sie die Freude bei ihr verschwinden – am Ende ist nur noch ein „müdes Lächeln“ da. Es mag sein, dass der Grund vor allem in dem liegt, was sie selbst sagt: „»Du bist groß geworden, Jungchen.« Aber gemeint ist mehr als nur die Veränderung durch Alter – vielmehr ist es nicht mehr der unschuldige Junge, den sie formen, dem sie etwas geben konnte – vielmehr ist er selbst etwas geworden, jetzt ist er in der Situation, etwas gewähren zu können. Wahrscheinlich ist Hanna ein gewisses Maß an Überlegenheit wichtig gewesen, das ist jetzt vorbei oder hat sich sogar ins Gegenteil verkehrt.
3. Schritt: Der Erzähler „kann Hanna nicht mehr riechen“.
Es folgen ausführliche Feststellungen des Erzählers zum Geruch, der von Hanna ausgeht – er kann sie im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr so gut riechen wie früher:
Ich saß neben Hanna und roch eine alte Frau. Ich weiß nicht, was diesen Geruch ausmacht, den ich von Großmüttern und alten Tanten kenne und der in Altersheimen in den Zimmern und Fluren hängt wie ein Fluch. Hanna war zu jung für ihn.
Zwar stellt er durchaus noch fest, dass Hanna eigentlich zu jung für diesen Geruch ist, aber sie hat ihn eben, was die Sache sicher noch schlimmer macht.
Der Hintergrund für die Veränderung bei Hanna
Später wird die Gefängnisleiterin die Hintergründe für die Veränderung näher durchleuchten:
Sie hatte immer auf sich gehalten, war bei ihrer kräftigen Gestalt doch schlank und von peinlicher, gepflegter Sauberkeit. Jetzt fing sie an, viel zu essen, sich selten zu waschen, sie wurde dick und roch. Sie wirkte dabei nicht unglücklich oder unzufrieden. Eigentlich war es, als hätte der Rückzug ins Kloster nicht mehr genügt, als gehe es selbst im Kloster noch zu gesellig und geschwätzig zu und als müsse sie sich daher weiter zurückziehen, in eine einsame Klause, in der einen niemand mehr sieht und Aussehen, Kleidung und Geruch keine Bedeutung mehr haben. Nein, daß sie sich aufgegeben hat, war falsch gesagt. Sie hat ihren Ort neu definiert, in einer Weise, die für sie gestimmt, aber die anderen Frauen nicht mehr beeindruckt hat.«
Damit wird ein weiteres Mal deutlich, dass die beiden Menschen sich auseinander gelebt haben – jeder ist seinen Weg gegangen – sie nach baldiger Erkenntnis, dass die Unterschiede zwischen ihnen für eine dauerhafte Beziehung Liebe zu groß waren, und dann noch weiter entfernt durch den Prozess und die anschließende Haft – Michael Berg auf Dauer geprägt durch die anfangs überlegene reife Frau und ihren letzten Gewalt-Akt ihm gegenüber, indem sie ihn einfach verließ. Anschließend war er zu ganz normalen Beziehungen nicht mehr fähig.
4. Schritt: Distanz im Gespräch
Auch das anschließende Gespräch zwischen Hanna und Michael bei ihrem letzten Treffen macht die große Distanz deutlich:
Ich rückte näher. Ich hatte gemerkt, dass ich sie zuvor enttäuscht hatte, und wollte es jetzt besser und wiedergutmachen.
»Ich freue mich, dass du rauskommst.« »ja?«
»Ja, und ich freue mich, dass du in der Nähe sein wirst.« Ich erzählte ihr von der Wohnung und Arbeit, die ich für sie gefunden hatte, von den kulturellen und sozialen Angeboten im Stadtviertel, von der Stadtbücherei. »Liest du viel?«
»Es geht so. Vorgelesen bekommen ist schöner.« Sie sah mich an. »Damit ist jetzt Schluss, nicht wahr?
»Warum soll damit Schluss sein?« Aber ich sah mich weder Kassetten für sie besprechen noch ihr begegnen und vorlesen. »Ich habe mich so gefreut und dich so bewundert, dass du lesen gelernt hast. Und was hast du mir für schöne Briefe geschrieben!« Das stimmte; ich hatte sie bewundert und mich gefreut, darüber, dass sie las und darüber, dass sie mir schrieb. Aber ich spürte, wie wenig meine Bewunderung und Freude dem angemessen waren, was Hanna das Lesen- und Schreibenlernen gekostet haben musste, wie dürftig sie waren, wenn sie mich nicht einmal dazu hatten bringen können, ihr zu antworten, sie zu besuchen, mit ihr zu reden. Ich hatte Hanna eine kleine Nische zugebilligt, durchaus eine Nische, die mir wichtig war, die mir etwas gab und für die ich etwas tat, aber keinen Platz in meinem Leben.
Aber warum hätte ich ihr einen Platz in meinem Leben zubilligen sollen? Ich empörte mich gegen das schlechte Gewissen, das ich bei dem Gedanken bekam, sie auf eine Nische reduziert zu haben. »Hast du vor dem Prozess an das, was in dem Prozess zur Sprache kam, eigentlich nie gedacht? Ich meine, hast du nie daran gedacht, wenn wir zusammen waren, wenn ich dir vorgelesen habe?«
»Beschäftigt dich das sehr?« Aber sie wartete nicht auf eine Antwort. »Ich hatte immer das Gefühl, dass mich ohnehin keiner versteht, dass keiner weiß, wer ich bin und was mich hierzu und dazu gebracht hat. Und weißt du, wenn keiner dich versteht, dann kann auch keiner Rechenschaft von dir fordern. Auch das Gericht konnte nicht Rechenschaft von mir fordern. Aber die Toten können es. Sie verstehen. Dafür müssen sie gar nicht dabei gewesen sein, aber wenn sie es waren, verstehen sie besonders gut. Hier im Gefängnis waren sie viel bei mir. Sie kamen jede Nacht, ob ich sie haben wollte oder nicht. Vor dem Prozess habe ich sie, wenn sie kommen wollten, noch verscheuchen können.«
Sie wartete, ob ich etwas dazu sagen würde, aber mir fiel nichts ein. Dass ich nichts verscheuchen könne, hatte ich zunächst sagen wollen. Aber es stimmte nicht; man verscheucht jemanden auch, indem man ihn in eine Nische stellt.
Fazit: Selbstmord nicht selbstverständlich, aber eine in sich konsequente Möglichkeit
Der Mann handelt allenfalls noch aus Nostalgie oder auch Pflichtgefühl (nicht von ungefähr heißt es auf S. 190: „es war mir alles zuviel“) – hat nicht mehr als eine Nische für seine ehemalige Geliebte übrig – diese aber möchte vor allem verstanden werden, möchte vielleicht auch weiter echte Wärme bekommen, wie es ansatzweise beim Vorlesen als der Voraussetzung für den anschließenden Liebesakt wohl zu spüren war. Aber das bekommt diese Hanna nicht mehr in dieser Welt (oder zu spät, vgl. S. 198/199) – und so ist ihr Weg in den Tod – zwar nicht für jeden selbstverständlich oder bis zur letzten Konsequenz nachvollziehbar, wohl aber in sich konsequent.
Die Offenheit des Schlusses
So scheint alles ganz klar zu sein – aber beim genauen Hinsehen zeigt sich doch noch ein Bruch in diesem scheinbar klaren Zusammenhang: Da war schon die Andeutung, dass Hanna eigentlich zu jung für den Geruch des Alters war – nun gut, das verstärkt unter Umständen den Eindruck des Alterungsprozesses noch.
Aber am Ende der Gemeinsamkeit steht nach der Beschreibung des letzten gemeinsamen Telefonats der Satz: „Ihre Stimme war ganz jung geblieben.“ (191) Dazu kommt ein eher humorvolles Lachen und eine dazu passende Bemerkung: „Ärgere dich nicht, Jungchen, ich hab’s nicht böse gemeint.« (191) – Damit bleibt eine große Spannung in diesem Roman – nichts ist mehr ganz klar, zumindest präsentiert er am Ende ein großes Sympathiepotenzial mit dieser Frau, die an schrecklichen Orten zu einer Verbrecherin geworden ist, die sich aber doch im Laufe der Romangegenwart aus diesen Zusammenhängen herausarbeitet, zwar nichts ungeschehen machen kann, wohl aber mit dem Geschehenen ins Reine kommt. Dementsprechend ist der Roman auch in seinem Schluss konsequent – ihr „Opfer“ wird angenommen, ja sie kann sogar ein ganz klein wenig wiedergutmachen, weil die überlebende Jüdin die Dose behält – übrigens steht auch dort am Ende ein Lachen, es scheint schließlich doch Täterin und Opfer zu verbinden.
Gerade die Tatsache, dass am Schluss dieses Romans viele Fragen offen sind, zeigt seinen literarischen Wert – dass er darüber hinaus auch mit der Beschreibung des Lebens dieser Frau wirklich etwas zu erzählen hat, macht ihn zu einem großen Gewinn besonders für die Schule.
Schlussbemerkung:
Wenn in dieser Charakteristik wenig von Hannas Situation und Verhalten als Lageraufseherin die Rede war, dann deshalb, weil unserer Meinung nach dieses nur Hintergrund und Anlass für das eigentliche Romangeschehen darstellt: Es geht in ihm nicht so sehr um das Schuldigwerden einer Frau, sondern vielmehr um ihren Umgang mit dieser Schuld, vielleicht auch ihr erneutes Schuldigwerden – jetzt an einem 15jährigen Jungen, den sie für sein ganzes Leben prägt – aber das ist ein Theme für eine eigene Seite.
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