Worum es hier geht.
Präsentiert wird eine Ballade Goethes, die im Unterschied zu dem Gedicht „Das Göttliche“ zumindest einen Gott persönlich erfahrbar präsentiert. Besonders interessant ist die differenzierte, ausgewogene Sicht auf den Menschen.
Der Text ist u.a. hier zu finden:
Johann Wolfgang von Goethe
Der Gott und die Bajadere
Indische Legende
Anmerkungen zur Überschrift und zur Gattungsbezeichnung
Unter einer Bajadere ist eine Tänzerin zu verstehen, die mit anderen zusammen auftritt und dabei mit Darbietungen zu den Themen Liebe und Gefühle allgemein glänzt.
Es geht also nicht direkt um Prostitution, wie man meinen könnte, wenn man das Gedicht ohne diese Hinweise liest.
Das ändert aber nichts daran, dass die Ballade deutlich macht, dass diese Tänzerinnen gesellschaftlich als „gefallen“ angesehen werden.
Die Unterüberschrift verweist auf den Kulturraum Indien und präsentiert diese Ballade als „Legende“, also eine sagenähnliche Geschichte, die sich allerdings mit besonderen Menschen oder auch Göttern beschäftigt. Im Unterschied zu vielen Sagen geht es nicht um Welterklärung (warum heißt ein Felsen etwa „Teufelsstein“=, sondern es geht eher um die Präsentation einer höheren Wahrheit.
Vgl. Bertolt Brecht, „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“
https://textaussage.de/5-min-tipp-bertolt-brecht-legende-entstehung-des-buches-taoteking
Anmerkungen zu Strophe 1
Die Ballade beginnt damit, dass einer der höchsten Götter im indischen Kulturraum wieder mal die Erde besucht, um den Menschen gleich zu sein. Dazu gehört auch, dass er „Freud und Qual“ fühlt.
Der Gott wohnt bei den Menschen und lässt alles mit sich geschehen, was zum menschlichen Leben gehört.
Interessant dann der Grund für diese Aktion: Dieser Gott ist der Meinung, wenn er die Menschen „strafen oder schonen“ soll/will, dann muss er die Menschen auch so sehen, wie sie sind.
Typisch für diese Ballade ist dann die Abtrennung der letzten drei Verse, die die Handlung aber einfach weiterführen.
Auffallend ist noch, dass die „Großen belauert“ werden und „Kleine geachtet“.
Leserlenkung: Man hat den Eindruck, dass Goethe hier an „Das Göttliche“ anknüpft, denn dort geht es auch um Richten und Strafen. Nur hier sind und bleiben die Götter nicht fern, nur geahnt, sondern sie mischen sich unter die Menschen.
-
- Mahadöh, der Herr der Erde,
- Kommt herab zum sechsten Mal,
- Daß er unsersgleichen werde,
- Mitzufühlen Freud und Qual.
- Er bequemt sich, hier zu wohnen,
- Läßt sich alles selbst geschehn.
- Soll er strafen oder schonen,
- Muß er Menschen menschlich sehn.
- Und hat er die Stadt sich als Wandrer betrachtet,
- Die Großen belauert, auf Kleine geachtet,
- Verläßt er sie abends, um weiterzugehn.
Anmerkungen zu Strophe 2
Die Abendbeschäftigung dieses Gottes besteht darin, dass er einen Bereich aufsucht, in dem Mädchen sich anscheinend Männern zur Verfügung stellen. Es handelt sich in diesem Falle um ein „verlornes schönes Kind“, was die gesellschaftliche Einschätzung mit dem menschlichen Potenzial verbindet.
-
- Als er nun hinausgegangen,
- Wo die letzten Häuser sind,
- Sieht er, mit gemalten Wangen,
- Ein verlornes schönes Kind.
- »Grüß dich, Jungfrau!« – »Dank der Ehre!
- Wart, ich komme gleich hinaus.«
- »Und wer bist du?« – »Bajadere,
- Und dies ist der Liebe Haus.«
- Sie rührt sich, die Cymbeln zum Tanze zu schlagen;
- Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen,
- Sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß.
Anmerkungen zu Strophe 3
Hier präsentiert sich das Mädchen als jemand, der sich zu verschenken bereit ist.
Interessant, dass dieser Gott nur „geheuchelte Leiden“ präsentieren kann, was seinen übermenschlichen Charakter hervorhebt.
Dann die Einschätzung des Gottes: Er „lächelt“ – und zwar, weil er „mit Freuden / durch tiefes Verderben ein menschliches Herz sieht.“ Auch hier wieder der Doppelcharakter dieser Frau, ihr Bild in der Gesellschaft und ihr wahres Selbst, das der Gott erkennt und anerkennt.
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- Schmeichelnd zieht sie ihn zur Schwelle,
- Lebhaft ihn ins Haus hinein.
- »Schöner Fremdling, lampenhelle
- Soll sogleich die Hütte sein.
- Bist du müd, ich will dich laben,
- Lindern deiner Füße Schmerz.
- Was du willst, das sollst du haben,
- Ruhe, Freuden oder Scherz.«
- Sie lindert geschäftig geheuchelte Leiden.
- Der Göttliche lächelt; er siehet mit Freuden
- Durch tiefes Verderben ein menschliches Herz.
Anmerkungen zu Strophe 4
Hier wird beschrieben, wie die beiden sich näher kommen. Zunächst sind es „Sklavendienste“, dann aber wird daraus sogar „Liebe“.
Dann wird es etwas heftig, denn der Gott prüft dieses Mädchen bis in die Schmerzregionen hinein.
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- Und er fordert Sklavendienste;
- Immer heitrer wird sie nur,
- Und des Mädchens frühe Künste
- Werden nach und nach Natur.
- Und so stellet auf die Blüte
- Bald und bald die Frucht sich ein;
- Ist Gehorsam im Gemüte,
- Wird nicht fern die Liebe sein.
- Aber sie schärfer und schärfer zu prüfen,
- Wählet der Kenner der Höhen und Tiefen
- Lust und Entsetzen und grimmige Pein.
Anmerkungen zu Strophe 5
Diese Strophe präsentiert dann eine Art von Hingabe des Mädchens, die wohl außergewöhnlich ist, denn sie spürt „der Liebe Qual“.
Am Ende wird anscheinend die Liebe auch praktiziert.
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- Und er küßt die bunten Wangen,
- Und sie fühlt der Liebe Qual,
- Und das Mädchen steht gefangen,
- Und sie weint zum erstenmal;
- Sinkt zu seinen Füßen nieder,
- Nicht um Wollust noch Gewinst,
- Ach! und die gelenken Glieder,
- Sie versagen allen Dienst.
- Und so zu des Lagers vergnüglicher Feier
- Bereiten den dunklen, behaglichen Schleier
- Die nächtlichen Stunden, das schöne Gespinst.
Anmerkungen zu Strophe 6
Am Morgen dann die schreckliche Überraschung: Das Mädchen findet seinen „vielgeliebten Gast“ tot bei sich.
Beim Begräbnis fällt das Mädchen auf, weil es sich zur Leiche hin drängt.
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- Spät entschlummert unter Scherzen,
- Früh erwacht nach kurzer Rast,
- Findet sie an ihrem Herzen
- Tot den vielgeliebten Gast.
- Schreiend stürzt sie auf ihn nieder;
- Aber nicht erweckt sie ihn,
- Und man trägt die starren Glieder
- Bald zur Flammengrube hin.
- Sie höret die Priester, die Totengesänge,
- Sie raset und rennet und teilet die Menge.
- »Wer bist du? was drängt zu der Grube dich hin?«
Anmerkungen zu Strophe 7
Hier schreit das Mädchen sein Leid hinaus.
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- Bei der Bahre stürzt sie nieder,
- Ihr Geschrei durchdringt die Luft:
- »Meinen Gatten will ich wieder!
- Und ich such ihn in der Gruft.
- Soll zu Asche mir zerfallen
- Dieser Glieder Götterpracht?
- Mein! er war es, mein vor allen!
- Ach, nur eine süße Nacht«
- Es singen die Priester: »Wir tragen die Alten,
- Nach langem Ermatten und spätem Erkalten,
- Wir tragen die Jugend, noch eh sie’s gedacht.
Anmerkungen zu Strophe 8
Die Priester verweisen dann darauf, dass sie ja nicht die Gattin des Toten ist und ihm deshalb auf den Scheiterhaufen nicht zu folgen braucht.
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- Höre deiner Priester Lehre:
- Dieser war dein Gatte nicht.
- Lebst du doch als Bajadere,
- Und so hast du keine Pflicht.
- Nur dem Körper folgt der Schatten
- In das stille Totenreich;
- Nur die Gattin folgt dem Gatten:
- Das ist Pflicht und Ruhm zugleich.
- Ertöne, Drommete, zu heiliger Klage!
- O nehmet, ihr Götter! die Zierde der Tage,
- O nehmet den Jüngling in Flammen zu euch!«
Anmerkungen zu Strophe 9
Das Mädchen lässt sich aber nicht abhalten, sondern springt „in den heißen Tod“.
Dann die Überraschung: Der „Götterjüngling“ entsteigt dem Feuer und nimmt das Mädchen mit zu sich.
Am Ende dann eine Art Kommentar des Balladen-Erzählers: Er erklärt sich das so, dass hier eine Gottheit sich „der reuigen Sünder“ freut. Das wird dann zu der allgemeinen Feststsellung ausgeweitet, dass die Unsterblichen „verlorene Kinder“ in den Himmel emporheben.
Das erinnert ein bisschen an das Ende von Faust II, der von seinem Gretchen, die inzwischen die himmlische Mutter Gottes geworden ist, dem Teufel entrissen und zu sich in das Reich der himmlischen Liebe entführt wird.
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- So das Chor, das ohn Erbarmen
- Mehret ihres Herzens Not;
- Und mit ausgestreckten Armen
- Springt sie in den heißen Tod.
- Doch der Götterjüngling hebet
- Aus der Flamme sich empor,
- Und in seinen Armen schwebet
- Die Geliebte mit hervor.
- Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;
- Unsterbliche heben verlorene Kinder
- Mit feurigen Armen zum Himmel empor.
Insgesamt eine Ballade, die
- Von einem Götterbesuch auf der Erde ausgeht,
- Bei dem man sich auf die Menschen einstellen, sie verstehen will,
- Um dann gerecht urteilen zu können.
- Dieses ein bisschen an die Götter in „Der gute Mensch von Sezuan“ erinnernde Szenario bekommt dann eine persönliche Note,
- Weil die Bajadere, das Freudenmädchen, sich in den Gott verliebt und mit ihm eine Liebesnacht verlebt.
- Während der Gott nur seinen toten Körper zurücklässt, will das Mädchen sich damit nicht abfinden und mit der angeblichen Leiche zusammen verbrennen.
- Daraus wird aber nichts, weil der Gott offensichtlich das Ganze weiter im Blick hat, das wahre Wesen und die Liebe des Mädchens erkannt hat und es zu sich in die Welt der Götter mitnimmt.
- Letztlich enthält die Ballade ein Plädoyer für das genaue Hinsehen bei Menschen und das Differenzieren zwischen möglicherweise gesellschaftlich geächteten Verhaltensweisen und dem wahren inneren Herzenskern.
- Interessant, dass Goethe hier im Unterschied zum Gedicht „Das Göttliche“ die Himmlischen nicht nur ahnen lässt (eine sehr moderne Vorstellung), sondern sie im Stil der alten Kulturen auch konkret auftreten lässt.
- Noch einmal der Hinweis, dass das Götterbild bei Goethe noch sehr positiv ist, idealistisch, während in Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ die Götter gewissermaßen vom Sockel gestoßen werden und der Mensch sein Schicksal allein in den Griff bekommen muss.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Balladen – allgemeine Themenseite: Infos, Tipps und Materialien
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