Schnell durchblicken bei Lutz Seiler, „Fin de Siècle“ (Mat8092)

Worum es hier geht:

Im Rahmen unseres Interpretationswettbewerbs wurden wir auf das folgende Gedicht aufmerksam gemacht.

Wir haben dann mal versucht, es mit Hilfe der

  • Induktiven und
  • Hermeneutischen Methode

zu „knacken“.

genauere Informationen zu dieser Methode finden sich hier: https://textaussage.de/5-survival-tipps-zur-sicheren-interpretation-bsd-von-gedichten

Gefunden haben wir das Gedicht hier:

https://www.lyrikline.org/de/gedichte/fin-de-siecle-116

Überschrift und möglicher Kontext

  1. Die Überschreift präsentiert einen wichtigen Begriff der Literaturgeschichte, der von Google Bard zum Beispiel so erklärt wird, wie wir es weiter unten aufgeführt haben. Wir entnehmen dem die folgenden Punkte:
    • Epoche der europäischen Kultur zwischen 1880 und 1914, also dem Ersten Weltkrieg.
    • „Wandel in den Vorstellungen über die Welt und die Gesellschaft.“
    • „Die traditionellen Werte und Normen wurden in Frage gestellt“
    • „ und es entstand ein Gefühl von Unsicherheit und Wandel.“
    • Experimente „mit neuen Formen und Stilen“ und neuer Themen
    • „Zeit des Umbruchs
      und der Innovation.“
    • Zentrale Kennzeichen:
      • „Dekadenz: Das Gefühl, dass die goldene Zeit des 19. Jahrhunderts vorbei ist und eine neue, dunklere Zeit anbricht.
      • Erotik: Ein verstärktes Interesse an sexuellen Themen und Tabus.
      • Tod: Das Bewusstsein, dass der Tod ein Teil des Lebens ist und dass die Welt vergänglich ist.
      • Angst: Ein Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung, das durch den technischen Fortschritt, die Globalisierung und die politischen Unruhen der Zeit verursacht wurde.“

Damit hat man schon mal einen Kultur- und Zeithorizont, in den man die Aussagen des Gedichtes versuchsweise einordnen kann.

Auswertung der Textsignale

Auswertung von Strophe 1:

    • In der ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich seine Situation:
      • Schnee, also Winter
      • Wien
      • Die Laternen bezeichnet er als die „nervösen / nachkriegs peitschen lampen“,
      • Die es bezeichnenderweise „im genick“ fühlt (Belastung/Bedrohung?)
      • Begegnung mit einem müden Hund, festgebunden an einem Strick
      • Leserlenkung: Frage, ob das lyrische Ich sich in diesem Hund sieht
  1. Auswertung von Strophe 2:
    • Das lyrische Ich entdeckt dann, dass das Tier tot ist
    • Und trotzdem auf es wartet (Verstärkung des Eindrucks einer Beziehung zwischen Tier und lyrischem Ich)
  • Das lyrische Ich befreit das Tier, aber nur, um es ein wenig „hin & her / zu schwenken“
  • Dann eine Verbindung von „haut“ und „knochen“, also abgemagert, dementsprechend leicht.
  • Glockenläuten und Schneegestöber setzen ein, also eine Verbindung von religiöser Festlichkeit und Natur
  1. Auswertung von Strophe 3:
  • Das lyrische Ich macht da mit, indem es singt – und zwar „ein kleines lied über die donau hin“
  • Betont wird, dass das lyrische Ich sich dabei als Kind sieht.
  • Dann die Kombination von herumgeschwenktem totem Tier und einem Element des schönen Brückenbauwerks.
  • Betont wird wieder, dass das Tier dabei „leicht & groß“ rotiert.
  • Aufgenommen wird wieder das Motiv der nervös wirkenden Straßenlaternen.

 

  1. Auswertung von Strophe 4:
  • Dann wird eine Veränderung bei dem toten Tier beobachtet, zuerst ein Riss am Hals, dann ein seltsames Pfeifen und schließlich sogar ein Auf- und Zuklappen der Augenlider.
  1. Auswertung von Strophe 5:
  • Am Ende dann eine Anrede an jemanden und der Hinweis, dieser hätte die „mechanik dieses blicks geliebt“
  • Und wäre zugleich „noch einsamer gewesen“.
  • Am Ende dann eine Zusammenfassung der Situation mit der Kombination von „schnee, der brücke & dem alten lied“

Versuch einer Bündelung der Signale zu Aussagen:

Das Gedicht zeigt

  1. Eine Situation von Nervosität und Tod – auf der Ebene eines Tieres
  2. Und den Versuch, diesem auf mechanische, künstliche Weise zu begegnen – im Sinne einer vergeblichen Wiederbelebung
  3. Die Erinnerung an offensichtlich schönere Zeiten der Kindheit
  4. Die unklare Anrede an ein „Du“, das diese unwirklich, unlebendige Situation mit ein bisschen Erinnerung geliebt hätte
  5. Und dabei noch einsamer geworden wäre.

Versuch einer Interpretation:

  • Das Gedicht passt zum Titel, weil es eine Situation zeigt ohne wirkliches Leben,
  • Nur mit dem Bemühen, es irgendwie „mechanisch“ zu simulieren.
  • Alles Menschliche ist hier darauf reduziert,
  • Aber selbst das kann man anscheinend lieben – vielleicht weil man sich darin wiederfindet.
  • Am Ende bleibt das Gefühl von Einsamkeit.
  • Wenn man das Signal des „Nachkriegs“ aufnimmt, könnte man sich vorstellen, dass der hier beschriebenen Welt eine große Katastrophe vorausgegangen ist,
  • die nur noch so bewältigt werden kann.
  • Berücksichtigt man die Biografie des 1963 in der DDR geborenen Autors
    https://de.wikipedia.org/wiki/Lutz_Seiler
    so wird zumindest deutlich, dass hier jemand im Schatten der großen europäischen Katastrophen ab dem Ersten Weltkrieg aufgewachsen ist,
  • Der in diesem Gedicht ein Gefühl ausdrückt, bei dem es nur noch eine Erinnerung an die Unschuld und das relative Glück der Kindheit gibt.
  • Man kann dieses Gedicht sicher recht gut der sogenannten „Postmoderne“ zuordnen – einer Zeit, in der großen, wenn auch zum Teil ideologischen Hoffnungen des späten 19. und 20. Jhdts. zu Enttäuschungen geführt haben.
  • Das hatte das Ergebnis, dass sich schließlich jeder auf sich selbst konzentrierte – und sich sein eigenes Bild vom Leben und Überleben machte – und in diesem Falle sieht es eben so aus, wie das Gedicht es beschreibt.

Anregungen

  1. Jeder kann für sich selbst mal überlegen, wann er so ein Fin de siecle Gefühl hat.
  2. Man kann dem natürlich auch etwas Positives entgegensetzen – zum Beispiel dadurch, dass diesem lyrische Ich ein fröhlicherer Mensch begegnet.

Weitere Infos, Tipps und Materialien