Worum es hier geht:
Im Rahmen unseres Interpretationswettbewerbs wurden wir auf das folgende Gedicht aufmerksam gemacht.
Wir haben dann mal versucht, es mit Hilfe der
- Induktiven und
- Hermeneutischen Methode
zu „knacken“.
genauere Informationen zu dieser Methode finden sich hier: https://textaussage.de/5-survival-tipps-zur-sicheren-interpretation-bsd-von-gedichten
Gefunden haben wir das Gedicht hier:
https://www.lyrikline.org/de/gedichte/fin-de-siecle-116
Überschrift und möglicher Kontext
- Die Überschreift präsentiert einen wichtigen Begriff der Literaturgeschichte, der von Google Bard zum Beispiel so erklärt wird, wie wir es weiter unten aufgeführt haben. Wir entnehmen dem die folgenden Punkte:
- Epoche der europäischen Kultur zwischen 1880 und 1914, also dem Ersten Weltkrieg.
- „Wandel in den Vorstellungen über die Welt und die Gesellschaft.“
- „Die traditionellen Werte und Normen wurden in Frage gestellt“
- „ und es entstand ein Gefühl von Unsicherheit und Wandel.“
- Experimente „mit neuen Formen und Stilen“ und neuer Themen
- „Zeit des Umbruchs
und der Innovation.“ - Zentrale Kennzeichen:
- „Dekadenz: Das Gefühl, dass die goldene Zeit des 19. Jahrhunderts vorbei ist und eine neue, dunklere Zeit anbricht.
- Erotik: Ein verstärktes Interesse an sexuellen Themen und Tabus.
- Tod: Das Bewusstsein, dass der Tod ein Teil des Lebens ist und dass die Welt vergänglich ist.
- Angst: Ein Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung, das durch den technischen Fortschritt, die Globalisierung und die politischen Unruhen der Zeit verursacht wurde.“
Damit hat man schon mal einen Kultur- und Zeithorizont, in den man die Aussagen des Gedichtes versuchsweise einordnen kann.
Auswertung der Textsignale
Auswertung von Strophe 1:
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- In der ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich seine Situation:
- Schnee, also Winter
- Wien
- Die Laternen bezeichnet er als die „nervösen / nachkriegs peitschen lampen“,
- Die es bezeichnenderweise „im genick“ fühlt (Belastung/Bedrohung?)
- Begegnung mit einem müden Hund, festgebunden an einem Strick
- Leserlenkung: Frage, ob das lyrische Ich sich in diesem Hund sieht
- In der ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich seine Situation:
- Auswertung von Strophe 2:
- Das lyrische Ich entdeckt dann, dass das Tier tot ist
- Und trotzdem auf es wartet (Verstärkung des Eindrucks einer Beziehung zwischen Tier und lyrischem Ich)
- Das lyrische Ich befreit das Tier, aber nur, um es ein wenig „hin & her / zu schwenken“
- Dann eine Verbindung von „haut“ und „knochen“, also abgemagert, dementsprechend leicht.
- Glockenläuten und Schneegestöber setzen ein, also eine Verbindung von religiöser Festlichkeit und Natur
- Auswertung von Strophe 3:
- Das lyrische Ich macht da mit, indem es singt – und zwar „ein kleines lied über die donau hin“
- Betont wird, dass das lyrische Ich sich dabei als Kind sieht.
- Dann die Kombination von herumgeschwenktem totem Tier und einem Element des schönen Brückenbauwerks.
- Betont wird wieder, dass das Tier dabei „leicht & groß“ rotiert.
- Aufgenommen wird wieder das Motiv der nervös wirkenden Straßenlaternen.
- Auswertung von Strophe 4:
- Dann wird eine Veränderung bei dem toten Tier beobachtet, zuerst ein Riss am Hals, dann ein seltsames Pfeifen und schließlich sogar ein Auf- und Zuklappen der Augenlider.
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- Auswertung von Strophe 5:
- Am Ende dann eine Anrede an jemanden und der Hinweis, dieser hätte die „mechanik dieses blicks geliebt“
- Und wäre zugleich „noch einsamer gewesen“.
- Am Ende dann eine Zusammenfassung der Situation mit der Kombination von „schnee, der brücke & dem alten lied“
Versuch einer Bündelung der Signale zu Aussagen:
Das Gedicht zeigt
- Eine Situation von Nervosität und Tod – auf der Ebene eines Tieres
- Und den Versuch, diesem auf mechanische, künstliche Weise zu begegnen – im Sinne einer vergeblichen Wiederbelebung
- Die Erinnerung an offensichtlich schönere Zeiten der Kindheit
- Die unklare Anrede an ein „Du“, das diese unwirklich, unlebendige Situation mit ein bisschen Erinnerung geliebt hätte
- Und dabei noch einsamer geworden wäre.
Versuch einer Interpretation:
- Das Gedicht passt zum Titel, weil es eine Situation zeigt ohne wirkliches Leben,
- Nur mit dem Bemühen, es irgendwie „mechanisch“ zu simulieren.
- Alles Menschliche ist hier darauf reduziert,
- Aber selbst das kann man anscheinend lieben – vielleicht weil man sich darin wiederfindet.
- Am Ende bleibt das Gefühl von Einsamkeit.
- Wenn man das Signal des „Nachkriegs“ aufnimmt, könnte man sich vorstellen, dass der hier beschriebenen Welt eine große Katastrophe vorausgegangen ist,
- die nur noch so bewältigt werden kann.
- Berücksichtigt man die Biografie des 1963 in der DDR geborenen Autors
https://de.wikipedia.org/wiki/Lutz_Seiler
so wird zumindest deutlich, dass hier jemand im Schatten der großen europäischen Katastrophen ab dem Ersten Weltkrieg aufgewachsen ist, - Der in diesem Gedicht ein Gefühl ausdrückt, bei dem es nur noch eine Erinnerung an die Unschuld und das relative Glück der Kindheit gibt.
- Man kann dieses Gedicht sicher recht gut der sogenannten „Postmoderne“ zuordnen – einer Zeit, in der großen, wenn auch zum Teil ideologischen Hoffnungen des späten 19. und 20. Jhdts. zu Enttäuschungen geführt haben.
- Das hatte das Ergebnis, dass sich schließlich jeder auf sich selbst konzentrierte – und sich sein eigenes Bild vom Leben und Überleben machte – und in diesem Falle sieht es eben so aus, wie das Gedicht es beschreibt.
Anregungen
- Jeder kann für sich selbst mal überlegen, wann er so ein Fin de siecle Gefühl hat.
- Man kann dem natürlich auch etwas Positives entgegensetzen – zum Beispiel dadurch, dass diesem lyrische Ich ein fröhlicherer Mensch begegnet.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Gedichte: Wie interpretiert man sie schnell und sicher?
https://textaussage.de/themenseite-gedichte-interpretieren
— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos
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