Enzensberger,  „Call it love“ – Ein sehr modernes Liebesgedicht aus den 50er Jahren (Mat447 )

Diese Seite beschreibt und interpretiert ein Gedicht Enzensbergers aus den 50er Jahren, das sich auf schon erstaunlich moderne und auch heute noch aktuelle Weise dem sehr menschlichen Phänomen von Liebe und Lust zu nähern versucht.

Dabei geht es um eine induktive, und damit für Schüler sehr gut nachvollziehbare Herangehensweise, die die Textsignale ernstnimmt.

Das Gedicht ist urheberrechtlich geschützt, man kann es aber u.a. im Internet hier finden.
Seite 9.

Hinweise zur Interpretation

Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich bei den folgenden Erläuterungen um eine induktive, und damit für Schüler sehr gut nachvollziehbare Herangehensweise handelt, die die Textsignale ernstnimmt.

 

 

Erster Eindruck und äußere Form

  • Das Gedicht besteht aus einer einzigen Versgruppe, bestehend aus 16 Verszeilen, die zum Teil durch Einrückung auf besondere Art und Weise angeordnet sind.  Ein Reimschema ist ebenso wenig zu erkennen wie ein festes Versmaß. Es handelt sich also um ein modernes Gedicht, bei dem auf eine besondere äußere sprachliche Form verzichtet worden ist.

Inhaltserläuterung

  • Eine erste sprachliche und inhaltliche Einheit bilden die Zeilen 1 bis 6: Der Sprecher betont die gerade aktuelle Situation, indem er ein Zeitadverb an den Anfang stellt. Schon die erste Zeile kann dabei verwirren, weil von „nackten Häusern“ die Rede ist, in denen „Körbe auf und nieder“summen. Glücklicherweise ist man durch die Überschrift ja auf die Liebesthematik eingestimmt, so dass von daher Licht auf diesen Anfang fällt: Offensichtlich geht es um eine besonders erotische Situation, in der es zum Hormonrausch gekommen ist – dafür sprechen die ‚summenden Körbe’ – das „auf und nieder“ lässt fast auf einen Liebesakt schließen. Die „nackten Häuser“ passen insofern dazu, als in ihnen alle (menschlichen und sonstigen) Fassaden verschwunden ist, das direkt Animalische stattfindet.
  • Das zweite Bild, die ‚betäubend lodernden Lampen’ nimmt den starken Anfangseindruck etwas zurück, das Gedicht bleibt aber auf der Linie erotischer und emotionaler Erregung, zu der auch das Betäubende (der Verstand wird betäubt, der Mensch wird auf Urinstinkte konzentriert) gehört.
  • Die Zeile 5 macht dann deutlicher, welche Situation vorliegt, man denkt beim April unwillkürlich an Frühling – und diese Jahreszeit passt ja zum Frühlingserwachen auch der Körper und Seelen. Noch deutlicher wird die Zeile 6, wo es darum geht, dass den Frauen die „Pelze“, also die Winterbekleidung, „aufspringt“ – dieser Punkt hat eine ganz normale Seite: Die Menschen öffnen die Pelze, dazu kommt aber auch wieder die erotische Sicht.
  • Einen Wechsel gibt es dann in der Zeile 7, der Satz wird zwar fortgesetzt, aber das Thema scheint sich zu verändern: Plötzlich geht es um die Berufschancen der Diebe – real würde das in die Situation passen, weil überall nur noch die Schlafzimmer in Betrieb sind und man im Übrigen die Wohnung leicht heimsuchen kann.
  • Dann aber kommt mehrere Vergleichssätze, die sich sehr ins Symbolische, fast Surreale verlieren. Man hat dabei vom Sprachstil her den Eindruck, dass der Sprecher hier mehrmals ansetzt, um das rechte Wort, die passende Formulierung regelrecht ringt.
  • Kern dieser Zeilen ist „die Verschollene“ (10), „die Ausgewiesne“ (11), wobei unklar ist, wer damit gemeint ist. Es wird offensichtlich ein großes, fast mythisches Bild gestaltet, in dem eine Frau, vielleicht steht sie stellvertretend für die Liebe, die aus dem normalen Leben entfernt worden ist (sogar „ohne Pass“, „ohne Schuhe“, 13), die vergessen, aber dennoch gejagt wurde, plötzlich hervortritt, sich dabei nicht nur den Jägern stellt, sondern sich auf sie „niederlässt“, also von oben kommt, was Größe und Hoheit erahnen lässt. Das Ganze ist – wie gesagt – nichts als ein großes Bild, das vergleichend herangezogen wird, um das zu verstehen, was an einem Aprilabend sexuell „abgeht“ in einer Stadt.
  • Das Ende endet lakonisch mit der Feststellung: „Schön ist der Abend“, was man wohl zum Nennwert nehmen muss, es ist wohl kaum ironisch gemeint, dagegen spricht der hohe Ton im zweiten Teil des Gedichtes.

Intention/Aussage

  • Das Gedicht beschreibt aus der Perspektive eines Außenstehenden, was an Gefühlen und an Erotik an einem Frühlingsabend „abgeht“, um diese hier sehr treffende umgangssprachliche Wendung noch einmal zu verwenden.
  • Hervorgehoben wird dabei vor allem das Aufbrechen der Fassaden, zu denen auch die Pelze gehören – was dabei herauskommt, ist direkte Nacktheit.
  • Das Gedicht versucht aber offensichtlich auch, dem Geheimnis der Liebe (bzw. dessen, was dafür gehalten wird!) näherzukommen, kann dies aber nur in sehr mythisch-symbolischen Passagen tun, womit wir beim Kunstcharakter wären.

Künstlerische Eigenart

  • Dieses Gedicht lebt von seiner Dreiteilung, den relativ direkten Beschreibungen im ersten Teil, dann den mythisch-symbolischen Annäherungsversuchen an das Phänomen der Liebe im zweiten Teil und schließlich der unvermittelten Rückkehr in die Alltagswelt klarer Feststellungen: „Schön ist der Abend.“ Zum letzten Punkt passt auch die Überschrift, die ja einfach nur feststellt: Wir nennen das, was da vorgeht, Liebe. Was Liebe wirklich ist, wissen wir nicht, wir ahnen es vielleicht.
  • Zu den künstlerischen Mitteln gehören die direkten Metaphern am Anfang: „nackte Häuser“, „gläsernes Laub“, ergänzt etwa durch die Personifizierung in der 5. Zeile.
  • Ein weiteres wichtiges Element sind die komplizierteren, ein Gesamtbild abgebenden metaphorischen Annäherungsversuche im zweiten Teil, wobei der mehrfach erneute Zugriff bezeichnend ist: „als hätte unvermutet und weiß und schimmernd“, „die Verschollene“, „die Ausgewiesne“, „ohne Gedächtnis verbannt“, „ohne Pass ohne Schuhe“.

Sinn/Einschätzung des Gedichts

  • Für seine Zeit war es sicherlich ein sehr modernes Gedicht, das damals wohl kaum in einem Lesebuch unterzubringen war – dafür waren die Anspielungen zu deutlich.
  • Was dem Gedicht über die Zeit nicht verloren gegangen ist, ist seine Verbindung von intensiver Beschäftigung mit dem jeden Menschen beschäftigenden Phänomen von Liebe und Lust und dem schnoddrig-distanzierten Rahmen. Die Liebe ist und bleibt ein Geheimnis, das tiefste und höchste Gefühle auslöst, sie bleibt aber auch etwas, dem man sich nur mühsam begrifflich nähert und das man manchmal auch einfach so stehen lassen muss: „Call it love“

Weitere Infos, Tipps und Materialien 

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