Schnell durchblicken: Goethe, „Der Adler und die Taube“ – ein ungewöhnliches Gedicht aus der Zeit des „Sturm und Drang“ (Mat8278)

Worum es hier geht

Im Folgenden stellen wir ein Gedicht von Goethe vor, das kaum bekannt ist und auch einiges Stirnrunzeln auslöst – wenn man nur die Standardbeispiele aus den Schulbüchern kennt.

Wir haben das Gedicht hier gefunden:

http://www.gedichte.eu/kl/goethe/gedichte2/adler-und-taube

Erläuterung der Textsignale

Der Originaltext erscheint in Kursivschrift.

Die Anmerkungen sind eingerückt.

Adler und Taube

  1. Ein Adlersjüngling hob die Flügel
  2. Nach Raub aus;
  3. Ihn traf des Jägers Pfeil und schnitt
  4. Der rechten Schwinge Sennkraft ab.
    • Einstieg mit der Beschreibung des Unglücks eines jungen Adlers, der von einem Jäger so getroffen wird, dass die rechte Schwinge nicht mehr flugfähig ist.
  5. Er stürzt‘ hinab in einen Myrtenhain,
  6. Fraß seinen Schmerz drei Tage lang,
  7. Und zuckt‘ an Qual
  8. Drei lange, lange Nächte lang:
    • Der Adler hat Glück im Unglück und stürzt in einen kleinen Wald.
    • Dort gibt er sich erst mal drei Tage und Nächte seinem Leiden hin.
  9. Zuletzt heilt ihn
  10. Allgegenwärt’ger Balsam
  11. Allheilender Natur.
    • Es folgt eine Naturheilung.
    • Alles könnte gut sein.
  12. Er schleicht aus dem Gebüsch hervor
  13. Und reckt die Flügel – ach!
  14. Die Schwingkraft weggeschnitten –
    • Es zeigt sich dann allerdings, dass er nur noch herumschleichen kann.
    • Die Schwingkraft des Flügels ist weg.
  15. Hebt sich mühsam kaum
  16. Am Boden weg
  17. Unwürd’gem Raubbedürfniß nach,
  18. Und ruht tieftrauernd
  19. Auf dem niedern Fels am Bach;
    • Erneut gibt der Adler sich seiner Trauer hin, wenn auch jetzt aus anderem Grund.
  20. Er blickt zur Eich‘
  21. hinauf,
    Hinauf zum Himmel,
  22. Und eine Träne füllt sein hohes Aug‘.
    • Beim Anblick des Himmels kann er nur noch weinen.
  23. Da kommt mutwillig durch die Myrtenäste
  24. Daher gerauscht ein Taubenpaar,
  25. Lässt sich herab, und wandelt nickend
  26. Ueber gold’nen Sand und Bach,
  27. Und rückt einander an;
    • Die Situation verändert sich durch die Ankunft eines Taubenpaares,
    • das im Unterschied zu dem trauernden Adler als mutwillig vorgestellt wird .
  28. Ihr rötlich Auge buhlt umher,
  29. Erblickt den Innigtrauernden.
  30. Der Tauber schwingt neugiergesellig sich
  31. Zum nahen Busch, und blickt
  32. Mit Selbstgefälligkeit ihn freundlich an.
    • In derselben kritischen Haltung erfolgt auch die Beschreibung des weiteren Verhaltens des Taubenmännchens. Es ist sogar von Selbstgefälligkeit die Rede.
    • „Buhlen“ meint hier wohl, sich anbiedernd, so tun, als ob es um wirkliches Mitfühlen geht.
  33. Du trauerst, liebelt er,
  34. Sei guten Mutes, Freund!
  35. Hast du zur ruhigen Glückseligkeit
  36. Nicht alles hier?
  37. Kannst du dich nicht des gold’nen Zweiges freun,
  38. Der vor des Tages Glut dich schützt?
  39. Kannst du der Abendsonne Schein
  40. Auf weichem Moos am Bache nicht
  41. Die Brust entgegen heben?
  42. Du wandelst durch der Blumen frischen Tau,
  43. Pflückst aus dem Ueberfluß
  44. Des Waldgebüsches dir
  45. Geleg’ne Speise, letzest [löscht]
  46. Den leichten Durst am Silberquell, –
  47. O Freund, das wahre Glück
  48. Ist die Genügsamkeit,
  49. Und die Genügsamkeit
  50. Hat überall genug.
    • In einer langen Rede versucht der Tauber, dem Adler einzureden, wie schön seine Situation doch sei.
    • Man hat die Vermutung, dass das der reine Hohn ist, denn Tauben sind ja durchaus ein typisches Opfertier des Adlers.
    • D.h. hier herrscht Klarheit darüber, wovon der Adler leben kann und wovon nicht.
  51. O Weise! sprach der Adler, und tief ernst
  52. Versinkt er tiefer in sich selbst,
  53. O Weisheit! Du redst wie eine Taube!
  • Dann ein irgendwie schwaches Ende. Der Adler verweist auf etwas, was eigentlich selbstverständlich ist, nämlich, dass die Taube ihre Einschätzung natürlich aus der eigenen Perspektive abgibt.
  • Letztlich bleibt hier unausgesprochen, was der Adler wirklich denkt und fühlt und wie er sich seine Zukunft vorstellt.
  • Wenn man ein bisschen mehr darüber nachdenkt, zeigt der Adler gegenüber der Geschwätzigkeit der Taube Konzentration auf das Wesentliche. Das junge Tier scheint durch sein Leiden regelrecht gereift zu sein und spricht selbst weise, während die Taube nur vordergründige Sprüche von sich gibt.
  • Man wird erinnert an Schillers Theorie von der „schönen Seele“, die durch Leiden zu sich selbst und ihrer Bestimmung kommt und an Größe gewinnt.

Anmerkungen von Erich Trunz, in der Hamburger Ausgabe der Gedichte Goethes

Goethe. Gedichte, Hrsg. U. kommentiert von von Erich Trunz, Verlag C.H. Beck, München 1981, S. 57/500
ISBN: 3 406 45215 9

Deutlich wird hier, das Goethe mitten im „Sturm und Drang“ schon schreibt wie später in der Klassik. Denn das Verhalten des Adlers entspricht ja der Vorstellung von der „schönen Seele“, wie Schiller sie entwickelt hat. Größe kann auch darin bestehen, dass man sein Schicksal annimmt.

„S. 57. DER ADLER UND DIE TAUBE. Text nach dem ersten Druck: Göttinger Musenalmanach 1774. Entstanden wohl nicht lange davor. – Freie Rhythmen zur Darstellung des Genies, dessen Wesen beleuchtet wird durch zwei Gegensätze, den äußeren zum Bürgeridyll und den inneren zu einem Schicksal, das ihm die seelische Schwingkraft nimmt. Wo Größe ist, ist auch größeres Leid, und wer jene bejaht, muß auch zu diesem bereit sein.“

Deutung des Gedichtes mit Blick auf die Epoche des „Sturm und Drang“

  1. Auf den ersten Blick ist man erstaunt, dass Goethe mitten in der Zeit des Sturm und Drang ein Gedicht schreibt, das man eher der Aufklärung zuordnen würde.
  2. Von Lessing gibt es ja bereits ein Gedicht, das zwar auch nicht den Ton des Sturm und Drang präsentiert, wohl aber schon etwas vom späteren Geniekult:
    https://www.einfach-gezeigt.de/abitur-m%C3%BCndlich-lessing-marpurg
  3. Hier hat man zunächst eine Fabel, was auch eher zur Aufklärung passt.
  4. Wenn man sich Sturm und Drang aber auskennt, dann fallen einem drei Dinge auf:
    1. zum einen der Lobpreis der Natur als Ort der Heilkraft. Goethe hätte im „Werther“ das sicher anders ausgedrückt, aber der Gedanke wäre der Gleiche gewesen.
    2. Dann natürlich die Darstellung des Schmerzes, die schon recht gefühlsintensiv ist.
    3. Dann am Ende die schmerzliche Andeutung, dass ein Adler eben andere Bedürfnisse hat als eine Taube. Dahinter steckt etwas in Richtung „Geniekult“ – der Adler als Lebewesen, das den höchsten Höhen zustrebt und ansonsten wirklich ein König der Lüfte ist.
      Wie schon angedeutet, zeigt sich hier eine reife Zurückhaltung, die dem entspricht, was später der Klassik als Ideal vorschwebte: Auch im Leiden kann man Größe gewinnen und zeigen. Und das tut der Adler hier gegenüber einer Taube, die im Gedicht in maximale moralische Tiefen und dümmliche Pseudoweisheiten versenkt wird.
      Hierzu passt das, was im Kommentar kurz zusammengefasst wird:
      Wo Größe ist, ist auch größeres Leid, und wer jene bejaht, muß auch zu diesem bereit sein.