Selma Meerbaum-Eisinger, „Sehnsuchtslied“ – Beispiel für die Selbstkorrektur beim Analysieren (Mat5751)

Worum es hier geht:

Dieses Gedicht ist insofern etwas Besonderes, weil es zumindest uns als Leser etwas in die Irre geführt hat. Wir waren am Ende unserer Erst-Analyse etwas sauer, weil uns das alles zu unbestimmt zu sein schien.

Erst bei der Formulierung der Aussagen des Gedichtes ist uns aufgefallen, dass wir zwei Signale des Textes übersehen hatten, die die scheinbare Lücke ausreichend füllten. Damit hat man ein Gedicht, das genügend Anregungen für eigenes Weiterdenken liefert.

Das Gedicht ist u.a. im Schulbuch „D Eins. Deutsch Arbeitsheft“ des Westermann-Verlages zu finden,
das wir sehr empfehlen können:
ISBN 978-3-507-69016-5

Da die Autorin mehr als 70 Jahre tot ist (es lohnt sich, genauer auf ihr Leben einzugehen), kann man das Gedicht auch im Internet finden, wenn auch mit einer anderen Stropheneinteilung:
https://www.deutschelyrik.de/sehnsuchtslied.html

Die unterschiedliche Strophenstruktur kann man mal durchdenken. Uns überzeugt die Variante des Schulbuches stärker.

Anmerkung zur Überschrift

  • Hinweis auf ein Lied, das wahrscheinlich Sehnsucht ausdrückt.
  • Leserlenkung/Hypothese:
    möglicherweise, um sich innerlich Entlastung zu verschaffen.

Anmerkung zu Strophe 1

Leise schlägst in deinem Lied du einen Ton an –
und dir ist, als fehlte noch etwas.
Und du suchst verwirrt bei allen Tönen,
ob sie dir nicht sagen können,
wo’s zu finden, wo und wie und wann …
Doch der eine ist zu blaß
und zu lüstern ist der zweite
und der dritte ist so voll mit Weite –
viel zu voll.

  • Das Gedicht beginnt mit der Betonung des leisen Beginns des Liedes, als wüsste man noch gar nicht, wie die Melodie aussieht.
  • Interessant die Distanzierung des lyrischen Ichs von sich selbst, indem es für sich die 2. Person, also das „Du“ verwendet. Es redet sich gewissermaßen selbst an.
  • Dass da noch etwas fehlt, bestätigt auch die zweite Zeile.
  • Anschließend werden die Töne allerdings wohl mit inhaltlichen Fragen verbunden, worauf sich die Sehnsucht richtet.
  • Am Ende die Feststellung, dass alle Töne nicht so richtig passen:
    • „zu blass“ = drückt zu wenig aus;
    • zu „lüstern“ = geht zu sehr in die falsche Richtung der sexuellen Begierde,
    • „so voll mit Weite“ = vielleicht zu unbestimmt oder zu erschlagend, weil zu viel erfasst wird.

Anmerkung zu Strophe 2

Du suchst lange – Moll und Dur und Moll
werden lebend unter deinen Händen.
Und dann schlägst du plötzlich eine Taste an,
und – es kommt kein Ton.
Und das Schweigen ist dir wie ein dumpfer Hohn,
denn du weißt es plötzlich ganz genau:
Dieser fehlt dir. Wenn ihn deine Hände fänden,
fiele ab von deinem Lied der Bann,
wär‘ das Ende nicht mehr leer und grau.

  • Die zweite Strophe betont noch mal die Suche, diesmal in verschiedenen Tonarten.
  • Interessant, dass dabei das Gefühl des Lebendigen auftaucht, anscheinend ein Fortschritt.
  • Es folgt eine Überraschung – denn ein weiterer Tastenschlag bringt überhaupt keinen Ton.
  • Das Schweigen wird als „Hohn“ empfunden, also als negative, verletzende Reaktion auf die eigene Situation.
  • Es folgt die plötzliche Erkenntnis, was dem lyrischen Ich fehlt.
  • Es geht anscheinend um einen bestimmten Ton, der fehlt, womit der seltsame „Bann“ zusammenhängt, der die Situation bestimmt.
  • Daraus ergibt sich die Perspektive eines Endes, das nicht mehr „leer und grau“ ist.
  • Leserlenkung:
    Man fragt sich, ob das Problem wirklich ein fehlender Ton ist oder ob mehr dahintersteckt, möglicherweise ein fehlender, geliebter Mensch.

 

Anmerkung zu Strophe 3

Und du rührst und rührst die Taste –
fragst dich, wo hier wohl die Hemmung liegt,
suchst, ob nicht doch deiner Hände Weiche siegt,
deine Augen betteln voll Verlangen.
Kein Ton kommt. Einsamkeit bleibt nun zu Gaste
in dem Lied, das dir so schwer und süß gereift.

Um den ungespielten Ton wirst du nun ewig bangen,
bangen um das Glück, das dich nur leicht gestreift
in den leisen Nächten, wenn der Mond dich wiegt
und die Stille deine Tränen nicht begreift.

 

  • Jetzt beginnt ein zielgerichteres Suchen nach dem fehlenden Ton.
  • Verbunden wird das mit der Hoffnung, dass der „Hände Weiche“ siegt, also ein vorsichtiges Herantasten das Instrument bei allen Tasten zum Klingen bringt.
  • Das wird dann intensiviert dazu, dass die „Augen betteln vor Verlangen“.
  • Alles scheint vergebens zu sein, es bleibt „Einsamkeit“ (Leserlenkung: Geht es doch um eine Person?).
  • Immerhin ist das Lied „schwer und süß gereift“
    Leserlenkung: Das ist seltsam, denn bisher ergab sich ja noch keine Melodie.
  • Ebenso bleibt fragwürdig, wieso der fehlende Ton plötzlich zu einem Glück wird, das einen wenigstens „leicht gestreift“ hat.
  • Am Ende dann ein Hinweis auf die Situation des Nachts – bei Mondenschein
  • Und ein seltsamer Hinweis auf die Stille, die die Tränen des lyrischen Ichs „nicht begreift“.

 

Überlegungen zur Aussage des Gedichts

Das Gedicht zeigt:

  1. Eine besondere Defizitsituation,
  2. Die sich allerdings bis zum Ende nur auf die fehlende Melodie zu beziehen scheint,
  3. Während man annimmt, dass sich das eigentlich auf zum Beispiel einen fehlenden Menschen oder etwas Ähnliches bezieht.
  4. Diese Bezugsnotwendigkeit wird verstärkt, wenn da plötzlich von einer Taste die Rede ist, die keinen Ton produziert. In der Realität würde man mal schauen, was dahinter steckt oder einen Klavierbauer rufen.
  5. Offensichtlich ist das metaphorisch gemeint.
  6. Wofür dieses Bild aber steht, bleibt völlig offen.
  7. Jetzt gibt es eigentlich nur noch zwei Möglichkeiten:
    1. Entweder freut sich der Leser über so ein lückenhaftes Gedicht, bei dem er sich selbst überlegen kann, welcher Ton in seinem Liebeslied fehlt.

Nachträgliche Korrektur der Erst-Analyse

Vor diesem Hintergrund muss man wohl den Beginn der zweiten Strophe intensiver ausdeuten – nämlich im Hinblick darauf, dass da doch eine lebendige Melodie entsteht. Auf die wird nicht näher eingegangen.
Die Notwendigkeit der Korrektur der ersten Analyse wird aber auch bestätigt durch die Zeile in der 3. Strophe, bei dem von einem „Lied“ die Rede ist, das „so schwer und süß gereift“ ist.

  1. Damit entfällt die als ärgerlich empfundene Aussage, dass man nicht weiß, was dieses Gedicht soll. Es iste nicht so lückenhaft, wie man zunächst angenommen hat, sondern es ist ein schönes Lied entstanden, dem nur der eine Ton fehlt, um vollkommen zu sein.
  2. Insgesamt scheint das Gedicht also eine bestimmte Art von Sehnsucht im Bild eines Musikstückes zu beschreiben Das Besondere ist, dass etwas fast Vollkommenes entsteht, dem gewissermaßen der Schlussstein fehlt. Hier könnte man an eine der großen Kirchen denken, denen lange die Kuppel fehlte, bis sie schließlich von einem genialen Baumeister geschaffen wurde.
  3. Damit ergibt sich für den Leser die Möglichkeit, über den fehlenden Ton seines Lebens nachzudenken, das ansonsten hoffentlich genauso fast vollkommen ist wie das Lied in dem Gedicht.
  4. Zum Nachdenken kann einen allerdings noch der Hinweis auf die „Einsamkeit“ bringen, die bleibt. Das könnte dann doch eine ausreichende Andeutung eines unerfüllten Liebesverlangens sein.

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