Schnell durchblicken: Vergleich Schiller, „An die Freude“ mit Goethe, „Das Göttliche“ (Mat5710)

  1. Auf den ersten Blick fragt man sich, was diese beiden Gedichte eigentlich verbindet.
    1. Schillers Gedicht, ein regelrechter Gefühlsrausch, von dem möglicherweise bei genauerer Prüfung nicht viel mehr übrig bleibt, als sich wirklich nach dem Genuss von einigem Wein gegenseitig in den Armen zu liegen und von einer schönen Welt zu träumen.
    2. Goethes Gedicht dagegen ein recht durchdachter Versuch, das Wesen des Menschen zu bestimmen und ihm eine bestimmte Aufgabe zu geben – in der Hoffnung, damit die Welt ein bisschen besser zu machen.
  2. Eine gewisse Überschneidung scheint sich im Bild von den Menschen und den Göttern zu ergeben, da man  das – mit einer gewissen Mühe – auch bei Schillers Wortschwall-Gedicht herausarbeiten kann.
    1. Goethe:
      https://textaussage.de/goethe-das-goettliche

      1. Forderung an den Menschen, „edel, hilfreich und gut“ zu sein, weil das allein ihm eine Sonderstellung in der Welt des Lebens verleiht.
      2. Dabei spielt die Beziehung zu den „höhern Wesen“ eine wichtige Rolle. Man kann sie nur ahnen – aber ein entsprechendes moralisches Verhalten des Menschen „lehrt“, sie zu glauben.
        Darüber kann man lange diskutieren. was damit gemeint ist.
      3. Die Welt und das Schicksal wird demgegenüber als feindlich-desinteressierte Macht gesehen, von der man nichts zu erhoffen hat.
      4. Allenfalls gibt es bestimmte ewige Gesetze, auf die das Gedicht allerdings nicht näher eingeht.
        Hier gibt es einen gewissen Widerspruch zwischen Nr. 3 und Nr. 4
      5. Dem Menschen werden dann fast göttliche Fähigkeiten zugesprochen, die in ihrem nicht begründeten, sondern nur behaupteten Optimismus allerdings schon fast wieder Schiller-Qualität erreichen.
      6. Kurz vor dem Ende dann wieder Rückkehr zu den „Unsterblichen“ – wobei man sich fragt, inwieweit man die angesichts von Nr. 5 überhaupt noch braucht.
      7. In der letzten Strophe dann nichts als die Wiederholung des Anfangs-Appells.
      8. Fazit: Neben diesem verständlichen Appell, über dessen Grundlagen das Gedicht nur sehr optimistische und angesichts der Realität des Lebens kaum haltbare Annahmen verbreitet, hat das Gedicht erstaunlich wenig zu bieten. Es atmet eben einen Idealismus, der auf schreckliche Weise spätestens ab dem I. Weltkrieg, aber auch schon vorher angesichts von Kolonialismus und Sklaverei der Wirklichkeit nicht standgehalten hat.
        Hypothese: Das scheint dieses Gedicht mit dem Schillers zu verbinden – auch wenn der Ton ein ganz anderer ist.

Schillers Gedicht

Was nun Schillers Gedicht angeht,

    1. beginnt das schon mit Behauptungen, die einem die Frage aufdrängen, in welcher Welt Schiller eigentlich lebt, ob er nicht ebenso feurig wie trunken ist.
    2. Denn natürlich lässt einen Freude optimistisch werden – aber das gilt auch für den Fürsten, dessen General gerade die Einnahme des Nachbarlandes gemeldet hat.
    3. Die Freude ist für das Gedicht allerdings auch die Basis eines bestimmten – am Bild eines treusorgenden, lieben Vaters orientierten -Gottesbildes.
    4. Interessant dann die ungeheuerliche Aufteilung der Menschheit in die, denen der „große Wurf gelungen“ ist und denen, die als Versager „weinend aus diesem Bund“ verschwinden sollen.
      Wir kannten dieses Gedicht bisher nur als Hymne und in Ansätzen – diese Passage macht uns jetzt fassungslos. Das hat ja schon fast Nieetzsche-Qualität – Verzicht auf Mitleid.
    5. Interessant dann, dass sowohl die Guten als auch die Bösen der Freude folgen. Das entspricht ja unserer kritischen Frage weiter oben. Will Schiller etwa die glücklichen Verbrecher auch in die Reihen seines Bundes aufnehmen?
    6. Auch die Vorstellung, dass Freude das Hauptkennzeichen der Natur und der „großen Weltenuhr“ sei, lässt einen an Schillers Lebenserfahrung zweifeln. Hegel war es wohl, der davon sprach, dass die Blätter der Geschichte mit Blut geschrieben sind.
      Wir haben dieses Zitat aber nicht so schnell gefunden, wohl aber:
      „Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.“
      https://bm15blog.wordpress.com/2018/04/23/das-glueck-der-leeren-blaetter/
    7. Dann eine fast 1:1-Übernahme dessen, was von Marx und anderen Kritikern dem Christentum vorgeworfen worden ist: In diesem Leben heißt es „Duldet für die bessre Welt“ und dann das Versprechen: „Droben überm Sternenzelt/Wird ein großer Gott belohnen.“
    8. Was die Kannibalen angeht, die später angeblich „Sanftmut“ trinken – so ist es sicher gut, dass Schiller das nicht in den entsprechenden Kulturen ausprobiert hat.
    9. An dieser Stelle brechen wir ab – denn in dem frohen Verkündigungston ohne viel reale Basis geht es bis zum Schluss weiter.
    10. Am Ende dann ein Schlussbild wie in der biblischen Offenbarung des Johannes: „Auch die Toten sollen leben … Allen Sündern soll vergeben, / Und die Hölle nicht mehr sein.“
      Man ist dann am Ende aber erstaunt über die „heitre Abschiedsstunde“ mit „Leichentuch“ und dem „sanften Spruch / Aus des Totenrichters Munde.“

Fazit:

Beide Gedichte strahlen großen Optimismus im Hinblick auf die Menschen aus. Bei Goethe als Möglichkeit, die aber ein entsprechendes Verhalten voraussetzt, bei Schiller ein recht zusammengewürfeltes und nicht immer widerspruchsloses Gewirr all dessen, was Menschen sich wünschen können.

Bei Goethe gibt es ein klares Konzept der Unterscheidung von den Göttern und dem Göttlichen. Bei Schiller ein etwas kindlich gebliebenes Bild von irgendeinem himmlischen Vater, das aber nur das Leichentuch und den Totenrichter am Ende ziemlich gestört wird.

Bei Goethe gibt es auch eine realistische Sicht auf die Welt: „denn unfühlend ist die Natur“. Dem setzt er ja gerade den Menschen entgegen, der mit Humanität die Welt zumindest ein bisschen besser machen kann und soll.

Man fragt sich wirklich, was mit dem doch eigentlich philosophisch orientierten Kopf Schillers los ist – es muss wohl am Wein gelegen haben – denn gedanklich scheint dieses Gedicht wohl nur geeignet, durch schöne Musik veredelt zu werden. Bei der kommt es ja häufig auf den Inhalt nicht mehr an – Hauptsache, alles klingt gut.

Wer unserem Erst-Eindruck widersprechen möchte, der mag sich gerne an uns wenden. Wir freuen, wenn man uns ggf. hilft, bei diesem Gedicht noch mehr Tiefgang zu entdecken. Allerdings sollte sich das aus dem Text selbste ergeben und nicht aus dem literaturgeschichtlichen Germanistik-Seminar stammen.

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