Goethe, „Das Göttliche“ – Was ist das – und welche Rolle spielt es für den Menschen? (Mat1134)

Worum es hier geht:

  • Im Folgenden stellen wir Goethes Gedicht „Das Göttliche“ vor und achten dabei besonders darauf,
    • was das „Göttliche“ überhaupt ist und
    • welche Rolle es im Dreieck
      • Höhere Wesen
      • Das Göttliche
      • Mensch
  • spielt.

Goethes Gedicht – von uns fortlaufend erläutert

Goethe

Das Göttliche

  • Schon die Überschrift ist sehr wichtig, dort geht es nämlich nicht um Gott oder die Götter, sondern es geht um das Göttliches, also eine Eigenschaft oder ein Prinzip.
  • Die Frage ist natürlich, gibt es für diese Eigenschaft auch einen Träger?
  • Das Menschliche macht nur Sinn, wenn man es an den Menschen bindet oder zumindest eine Idealvorstellung von Menschen.
  • Das wird also die spannende Frage sein, wenn man sich den Text genauer anschaut.

1. Strophe

01 Edel sei der Mensch,
02 Hilfreich und gut!
03 Denn das allein
04 Unterscheidet ihn
05 Von allen Wesen,
06 Die wir kennen.

  • Das Gedicht beginnt mit einer Aufforderung zu einer bestimmten Art von Verhalten, nämlich: edel, hilfreich, gut.
  • Das sollte man sich mal genauer durch den Kopf gehen lassen, was damit jeweils gemeint ist:
    • „edel“: Das bezieht sich wohl auf den Charakter und die Gesinnung eines Menschen. „Edel“ ist jemand, der in gewisser Weise einen höheren Stand hat – früher war das auf die soziale Position bezogen, heute ragt jemand eben durch sein Denken und Handeln aus der Masse heraus.
    • „hilfreich“: Ein solcher Mensch ist konstruktiv, denkt an das Ganze und auch an andere Menschen.
    • „gut“: Ein sehr allgemeiner Begriff, zum Teil deckungsgleich mit „edel“ im Sinne des moralischen Handelns
  • Man kann davon ausgehen, dass die drei Eigenschaften wohl eine nähere Bestimmung des „Göttlichen“ im Titel sind.
  • Interessant ist dann die Begründung, Es geht um eine Sonderstellung, die der Mensch hat, wenn er dieser Forderung genügt.
  • Wichtig ist dabei die Rigorosität, des Wortes „allein“.

2. Strophe

07 Heil den unbekannten
08 Höhern Wesen,
09 Die wir ahnen!
10 Ihnen gleiche der Mensch!
11 Sein Beispiel lehr uns
12 Jene glauben.

  • In der zweiten Strophe wird ganz offensichtlich von höheren Wesen ausgegangen, denen man Achtung entgegenbringt und sie unterstützen möchte, so ist wohl dieses Wort „Heil“ zu verstehen.
  • Was die Frage eines möglichen Gottesbeweis angeht, so ist hier ganz klar, dass es nur um eine Ahnung geht. Was darunter genau zu verstehen ist, bleibt offen. Auf jeden Fall aber ist es kein sicheres Wissen im Sinne einer orthodoxen Religionsvorstellung, sondern eben nur eine Kombination von innerem Gefühl und vielleicht auch ansatzweise vorhandenem Wissen, dass es diese höheren Wesen wirklich gibt.
  • Dann wird es sehr spannend, weil Goethe hier einen etwas seltsam anmutenden Kunstgriff verwendet: Der Mensch soll diesen höheren Wesen gleichen, sicherlich wieder im Hinblick auf die drei genannten Qualitätskriterien. Denn dieser Versuch der Nachahmung soll anderen Menschen helfen, vielleicht auch ihm selbst, an diese höheren Wesen zu glauben
  • Letztlich läuft es darauf hinaus, dass man Goethes Ahnungsannahme mit der Konkretisierung in die drei genannten Richtungen („edel“, „hilfreich“, „gut“)  folgen soll, um aus Ahnung über das Beispiel Glauben entstehen zu lassen.

3. Strophe

13 Denn unfühlend
14 Ist die Natur:
15 Es leuchtet die Sonne
16 Über Bös und Gute,
17 Und dem Verbrecher
18 Glänzen wie dem Besten
19 Der Mond und die Sterne.

  • In der dritten Strophe gibt es eine weitere Begründung nach der ersten, dass die Sonderstellung des Menschen eben den drei Moralkennzeichen geschuldet ist.
  • Diesmal geht es um eine Beschreibung der Welt der Natur, die ganz im Sinne der späteren Erkenntnisse Darwins (angebliches Überleben des Stärkeren, in Wirklichkeit des am besten Angepassten) gesehen wird, dass sie nach eigenen und auf jeden Fall unmoralischen Gesetzen das Gute und das Schlechte verteilt.

4. Strophe

20 Wind und Ströme,
21 Donner und Hagel
22 Rauschen ihren Weg
23 Und ergreifen
24 Vorüber eilend
25 Einen um den andern.

  • Das wird in den nächsten drei Strophen noch näher ausgeführt.
  • Man hat den Eindruck, dass die moralische Einsamkeit des Menschen in einer unbarmherzigen Welt für lyrische Ich ein großes Problem darstellt, dem es eben seine – von Menschen gemachte Moral – entgegensetzt.
  • So soll auf diese Art und Weise das Göttliche, das es ansonsten in der Natur vermisst, erschaffen.

5. Strophe

26 Auch so das Glück
27 Tappt unter die Menge,
28 Fasst bald des Knaben
29 Lockige Unschuld,
30 Bald auch den kahlen
31 Schuldigen Scheitel.

  • Gehört mit der 4. Strophe zusammen. Nur dass es hier nicht mehr um die Natur und ihr direktes Eingreifen geht, sondern um schon etwas übergeordentes Glück.
  • Ein „unschuldiges“ Kind kann genauso das Glück haben, auf einen Menschen zu treffen, der ihm weiterhilft, wie auch ein Erwachsener, der jede Menge Negatives auf seinem Konto hat.
  • Wem das zu wenig konkret ist: In beiden Fällen fährt zufällig ein Rettungswagen vorbei, wenn man nach einem Autounfall schwerverletzt im Graben liegt – dieses „Glück“ hat nichts zu tun damit, ob jemand es eher verdient oder nicht.
  • Auf der folgenden Seite haben wir Fälle aus der Literatur aufgeführt, in denen der Zufall sogar scheinbar für ausgleichende Gerechtigkeit sorgt:
    Anstoßtext: Gibt es Gerechtigkeit durch Ungerechtigkeit?
  • Eine reizvolle Aufgabe wäre es jetzt, sich Situationen auszudenken, wo ein Verbrecher genauso großes Glück hat wie ein Mensch, dem man es von vornherein von Herzen gönnt.

6. Strophe

32 Nach ewigen, ehrnen,
33 Großen Gesetzen
34 Müssen wir alle
35 Unsreres Daseins
36 Kreise vollenden.

  • In der nächsten Strophe geht das Gedicht einen Schritt weiter, es sieht durchaus große Gesetze, aber eben auch ein Muss, was den Umgang des Menschen damit angeht. Es spricht einiges dafür, dass diese großen Gesetze identisch sind mit dem, was vorher als Willkür der Natur beschrieben worden ist.

7. Strophe

37 Nur allein der Mensch
38 Vermag das Unmögliche:
39 Er unterscheidet,
40 Wählet und richtet;
41 Er kann dem Augenblick
42 Dauer verleihen.

  • In der 7. Strophe wird plötzlich dem Menschen doch noch einiges zu geschrieben, was seinen Wert bestimmt.
  • Und es ist zu prüfen, in welchem Verhältnis diese Fähigkeiten zu den am Anfang genannten moralischen Kategorien stehen.
  • Interessant, dass dem Menschen sogar die Fähigkeit zugeschrieben wird, „das Unmögliche“ zu schaffen.
  • Damit stößt er in die Sphäre des fast Gottseins vor, man denke an die Vorstellung vom Alter Deus (der Mensch als zweiter Gott nach dem ersten, dem eigentlichen).

8. Strophe

43 Er allein darf
44 Den Guten lohnen,
45 Den Bösen strafen,
46 Heilen und retten,
47 Alles Irrende, Schweifende
48 Nützlich verbinden.

  • In der 8. Strophe geht es wohl auch wieder um göttliche Eigenschaften, nämlich das Unterscheiden im Sinne der klaren Erkenntnis,
  • die Fähigkeit des Auswählens
  • und Beurteilens.
  • Und schließlich noch um die besondere Fähigkeit, dem Augenblick Dauer zu verleihen. Da ist möglicherweise oder wahrscheinlich wohl an die Kunst gedacht und auch hier ist der Bezug zum Göttlichen, zu den unsterblichen Göttern ganz eindeutig.
  • Auf jeden Fall gleicht der Mensch hier alles aus, was vorher bei den Aktivitäten der Natur vermisst wurde.

9. Strophe

49 Und wir verehren
50 Die Unsterblichen,
51 Als wären sie Menschen,
52 Täten im großen,
53 Was der Beste im kleinen
54 Tut oder möchte.

  • Hier wird deutlich, was aus dem Ahnen und dem Glauben geworden ist, nämlich Verehrung.
  • Das ist mehr als Glaube, weil es eine echte innere Haltung mit entsprechendem Handeln einschließt.
  • Wichtig ist der Konjunktiv: Es geht um menschengemachte Vorstellungen, eine Schaffung von Sinn. Man könnte auch von einem positiven Konstrukt sprechen.

10. Strophe

55 Der edle Mensch
56 Sei hilfreich und gut!
57 Unermüdet schaff er
58 Das Nützliche, Rechte,
59 Sei uns ein Vorbild
60 Jener geahneten Wesen!

  • Am Ende ist der Mensch im Verlauf des Gedichtes gewissermaßen weitergekommen: Jetzt muss er nicht mehr edel sein, er ist es.
  • Es bleiben die anderen beiden Aufgaben, d.h. der Mensch ist auf dem Weg der Selbst-Bildung.
  • All seine Tätigkeiten werden auf das „Nützliche“ und das „Rechte“ konzentriert.
  • Dann der Schluss-Appell: Ein solcher Mensch soll auch ein „Vorbild“ jener nach wie vor nur „geahneten Wesen“ sein.
  • Das Göttliche ist bei Goethe eigentlich das Übermenschliche, weil der Mensch aus sich selbst heraus versucht, sich zu etwas Besserem, Größerem zu machen.
  • Das heißt aber nicht, dass die Menschen zu Göttern werden können – denn wird ja noch anderes zugeschrieben als nur „edel“, „hilfreich“ und „gut“ zu sein. Zum Beispiel Unsterblichkeit, wenn man an die griechischen Götter denkt, die Goethe sicher hier (auch) im Auge hatte.
  • Man kann wohl davon ausgehen, dass er das aufgrund seiner Anlagen braucht.
  • Aus heutiger Sicht würden wir sagen: Diese Anlagen sind Produkte der Evolution, wenn man nicht von einer göttlichen Schöpfung ausgeht.

Das Problem des Gedichtes

  • Goethes Gedicht präsentiert Forderungen,
  • hinter denen Behauptungen stehen.
  • Die werden aber nicht weiter konkretisiert.
  • Denkt er an die griechischen Götter, dann ist es bei denen mit dem „Gutsein“ nicht weit her. Denn bei denen ist es genau andersrum: Sie verhalten sich menschlich, sind eifersüchtig, nachtragend, auch grausam.
  • Denkt er an den Gott der Christen oder den des Islam? Warum spricht er dann bei monotheistischen Religionen im Plural von den „Unsterblichen“.
  • Oder aber denkt er ganz menschlich und sieht in sich einen Funken übermenschlicher Mächte, die es gut mit uns meinen?
  • Dann macht er aber ein weites Fass auf mit vielen Fragen.
  • Es ist ein sehr schmaler Boden, auf dem Goethe sich da bewegt – aber auch einer, der die Welt und das Zusammenleben der Menschen doch schöner machen kann.
  • Und seien wir ehrlich: Jeden Tag begegnen wir Menschen, die nicht nur egoistisch sind oder  hinterhältig, sondern zumindest in Ansätzen: edel, hilfreich und gut.
  • Vielleicht kann man das ja ein bisschen ausbauen – außerdem gibt es die Erfahrung ja, dass eine gute Tat auch selbst etwas Gutes mit einem macht 😉
  • Dieser Gedanke ist übrigens in dem folgenden Gedicht sehr schön aktualisiert worden.

Schaubild zu diesem Gedicht

Goethe, Das Göttliche – als Schaubild
https://textaussage.de/goethe-das-goettliche-als-schaubild

Aktualisierung von Goethes Gedicht

Vergleich mit einem anderen Gedicht der Klassik

Etwas verlustreicher beschreibt Schiller den Weg der Ideale, hält aber daran fest, dass am Ende ein kleiner Beitrag zum „Bau der Ewigkeiten“ erhalten bleibt. Interessanterweise sieht er den aber auch als Abtragen einer Schuld, also als Verpflichtung des Menschen.
https://textaussage.de/das-gedicht-die-ideale-von-schiller-als-werk-der-epoche-der-klassik

Vergleichsmöglichkeit mit Gedichten der Gegenwart

Jörg Fause, „“Berlin, Paris, New York“
Ein Gedicht, das auf den ersten Blick ein Gedicht über das Reisen zu sein scheint, sowohl im geographischen Sinne als auch im Sinne der Lebensreise und der damit verbundenen Entwicklung.
Dabei wird es aber zumindest an einer Stelle hochpolitisch, wenn es um etwas geht, was „Gesetze“ genannt wird, aber wohl viel mehr bedeutet als das, was in den Gesetzbüchern steht.
https://textaussage.de/schnell-durchblicken-bei-dem-gedicht-berlin-paris-new-york-von-joerg-fauser
Man kann das Gedicht sehr gut mit dem folgenden Text vergleichen:

Bettina Wegner, „Über Gebote“
https://textaussage.de/ein-song-als-gedicht-bettina-wegner-ueber-gebote

 

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