Heinrich Seidel, „Was rauschet, was rieselt …“- oder die Kunst, von den Effekten auf die Mittel zu schließen (Mat5407)

Worum es hier geht:

  • Schülis klagen häufig zu Recht darüber, dass sie mit der Suche nach sogenannten „sprachlichen Mitteln“ regelrecht gequält werden.
  • Die Qual kann vor allem damit zusammenhängen, dass diese Aufgabe völlig isoliert gestellt wird.
  • Besser ist es schon, wenn wenigstens nach der Funktion des jeweiligen Mittels gefragt wird.
  • Das Problem dabei ist wiederum, dass das nicht in einen größeren Zusammenhang gestellt wird.
  • Dabei wäre die Sache eigentlich relativ einfach, wenn man den Spieß umdreht und nicht gleich nach den Mitteln fragt, sondern vom Effekt ausgeht.
  • Denn das ist das, was denjenigen interessiert, der zum Beispiel ein Gedicht schreibt.
  • Er will zunächst etwas ausdrücken
  • Und das soll auch noch durch entsprechende Mittel unterstützt werden.
  • Am Ende soll es eine Wirkung haben, d.h. die Lesis beeindrucken oder auch anregen, sich näher damit zu beschäftigen.
  • Wir probieren das im Folgenden mal an einem Gedicht aus, das uns zufällig erreicht hat. Wir kannten es vorher nicht, sind also ganz unvoreingenommen 😉

Zu finden ist das Gedicht übrigens zum Beispiel hier.

Zum Verfasser

Was den Verfasser angeht, so gehört er nicht zu den bekanntesten Schriftstellern in Deutschland. Aber immerhin kennt Wikipedia ihn:

https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Seidel

Das werden wir jetzt aber erst mal nicht lesen, weil wir eben unvoreingenommen an das Gedicht herangehen wollen.

Aber auf jeden Fall ist der Gliederungspunkt „Florafälscher“ interessant, der bei Wikipedia auftaucht. Das werden wir uns nach der Lektüre des Gedichtes unbedingt anschauen.

 

Versuch, von den Effekten auf die Mittel zu schließen

Nun aber zu den Effekten, die das Gedicht auslöst, inhaltlich und von der Wirkung her.

Heinrich Seidel

Was rauschet, was rieselt…

  1. Was rauschet, was rieselt, was rinnet so schnell?
  2. Was blitzt in der Sonne? Was schimmert so hell?
  3. Und als ich so fragte, da murmelt der Bach:
  4. „Der Frühling, der Frühling, der Frühling ist wach!“
  • Schon die Überschrift löst beim Lesen etwas aus: Offensichtlich geht es da ziemlich ab – und zwar in der Natur – und die Frageform deutet an, dass das lyrische Ich sich diesen Eindrücken hingibt und sie vielleicht auch näher verstehen will.
  • Die ersten Zeilen des Gedichtes weiten dann die Überschrift noch aus. Offensichtlich geht es um ein Gesamtphänomen, das sich auch auf die Sonne bezieht.
  • Dann kommt etwas, was sich sich in der Liste der sprachlichen Mittel wahrscheinlich gar nicht auftaucht, aber über den Inhalt einen ziemlich Effekt auslöst: Man fragt sich als Lesi nämlich: Was ist mit dem denn los? Der spricht mit dem Bach?
  • Und der Bach tut dem Lyrischen Ich den Gefallen, eine Antwort zu geben: Möglicherweise hält er den Fragesteller für schwerhörig oder ist selbst tief beeindruckt oder beschäftigt mit dem Phänomen, denn der Bach wiederholt das Wort „Frühling“ mehrfach.
  • Indirekt löst die erste Strophe beim Lesi den Effekt aus, dass er sich denkt: Wow, guter Einfall. Das Lyrische Ich hätte auch selbst drauf kommen können – ein Blick in den Kalender, dann in die Natur – und schon braucht man keinen Bach mehr.
  • Warum also baut der Verfasser hier dieses Zwiegespräch ein? Nun ja, vielleicht erfahren wir das in den nächsten Strophen.

Strophe 2

  1. Was knospet, was keimet, was duftet so lind?
  2. Was grünet so fröhlich? Was flüstert im Wind?
  3. Und als ich so fragte, da rauscht es im Hain:
  4. „Der Frühling, der Frühling, der Frühling zieht ein!“
  • Als Lesi fühlt man sich hier gleich auf vertrautem Boden, weil das Schema der Äußerungen fortgesetzt wird.
  • Diesmal geht es nur in eine etwas andere Richtung, nämlich gewissermaßen die 2. Stufe der Entwicklung im Frühling. Jetzt reagieren die Pflanzen auf die Umweltsituation. Die Wortwahl lässt vermuten, dass das lyrische Ich das Sanfte und Fröhlich-Machende betonen will
  • Ansonsten sucht sich das lyrische Ich einen neuen Gesprächspartner. Auf den Bach allein kam es also nicht an. Jetzt geht es um den „Hain“, ein Waldstück.
  • Am Ende dann wieder ein literarisches Mittel, das in den normalen Listen wohl nicht auftaucht: Es wird nämlich eine Wendung aus der 1. Strophe wieder aufgenommen und im Sinne der Entwicklung abgewandelt: Aus „ist wach“ wird jetzt „zieht ein“.
  • Man erkennt rein sprachlich eine Dynamisierung.

Strophe 3:

  1. Was klingelt, was klaget, was flötet so klar?
  2. Was jauchzet, was jubelt so wunderbar?
  3. Und als ich so fragte, die Nachtigall schlug:
  4. „Der Frühling, der Frühling!“ – da wußt‘ ich genug!
  • Auch hier wieder die gleiche Struktur, nur dass jetzt besondere Verben auftauchen, die in Richtung menschliche Gefühle oder sogar Kunst gehen: „klaget“, „flötet“, „jauchzet“, „jubelt“.
  • Am Ende dann ein Wort, das zur Romantik passt „wunderbar“. Gute Lehrkräfte haben ihre Schülis darauf vorbereitet, dass Dichter auch um 1900 das Recht hatten, auf Elemente der Romantik, die epochenmäßig einige Jahrzehnte zurückliebt, zurückzugreifen.
  • Der Rest ist wieder weitgehend ähnlich, nur dass hier die „Nachtigall“ antwortet. Es geht also jetzt ist das lyrische Ich nach Bach und Hain bei den Lebewesen angelangt – und gleich bei einem, das in besonderer Weise für schöne Kunst steht.
  • Interessant ist das etwas offene Ende: Denn das lyrische Ich scheint etwas langsam im Begreifen zu sein – oder will sich ganz sicher sein. Denn es hat ja schon zweimal gehört, was Sache ist.
  • Aber diese Irritation könnte beim Lesi die Erkenntnis auslösen, dass es jetzt eben erst „genug“ ist. Der Frühling muss sich entwickeln vom Aufwachen und Ankommen zu einer angemessenen Situation der über die Pflanzen hinausgehenden Welt. Dann erst hat er seine volle Kraft entfaltet.

Zusammenfassung:

  1. Insgesamt zeigt das Gedicht die zunehmende Wahrnehmung eines sich entwickelnden Frühlings
  2. Zentrale literarische Mittel sind
    1. die Aneinanderreihung von Naturphänomenen in Frageform
    2. die Wiederholung von Fragen nach der Bedeutung – gerichtet an unterschiedliche Naturelemente
    3. das Pänomen der Steigerung bei den Phänomen, aber auch bei den Befragten, von Pflanzen hin zu Tieren
    4. die Nennung eines ganz bestimmten Tieres, dafür Romantik und Kunst steht
    5. schließlich der überraschende Wechsel am Ende, der die Bedeutung der Endstufe: Kunstreaktion der dazu fähigen Lebewesen auf den voll entfalteten Frühling

Kreative Anregung:

  • Man könnte das zentrale literarische Mittel, das in diesem Gedicht verwendet wird, mal auf eine andere, schüli-nahe Situation übertragen lassen.
  • Beispiel: Man fährt zu einer Geburtstagsfeier oder einer Fete.
  • Und dann präsentiert man in ein paar Strophen die Beobachtungen und Fragen, die man sich stellt, ähnlich wie in dem Gedicht.
  • Strophe 1:
    • Man erreicht das Haus, kein Fahrrad, kein Licht, trübe Gedanken
  • Strophe 2:
    • Man traut sich doch und klingelt
    • Und blickt in den Garten hinter dem Haus.
    • Jede Menge Fahrräder
    • Und auch echt was im Angebot und gute Stimmung
  • Strophe 3:
    • Dann sieht man ihn, das Objekt von Träumen und Begierde
    • Im innigen Gespräch mit einem anderen Mädchen
    • Man will den Abend schon streichen oder sogar umkehren.
  • Strophe 4:
    • Dann die Erlösung
    • Das „Objekt“ sieht das lyrische Ich, rennt darauf zu
    • Und stellt ihm seine Schwester vor.

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