Stefan Slupetzky, „Der Kondensmilchmann“ als Beispiel für „Verständnisentwicklung“ (Mat8316)

Worum es hier geht:

  • Wir stellen hier die Kurzgeschichte „Der Kondensmilchmann“ von Stefan Slupetzky vor.
  • Das Interessante an dieser Geschichte ist vor allem der Schluss.
  • Von daher lohnt es sich, die Geschichte nicht schnell zu überfliegen. Viel schöner ist es zu überlegen, worauf das am Ende wohl hinausläuft.
  • Denn die Geschichte baut da einiges Erwartungspotenzial auf, um nicht den Eindruck von Eintönigkeit und Langeweile zu hinterlassen.
  • Man nennt das Leserlenkung – aber eigentlich ist es eine Art fortlaufende Entstehung eines Verständnisses.
  • Von daher der Tipp für den Unterricht: Die Geschichte langsam mit Pausen vorzulesen und zwei Schüli-Paare zeigen an den beiden Außentafeln, was sie während des Hörens empfinden und verstehen.

Hier ein Beispiel für eine solche Parallel-Verständnis-Aufzeichnung

Als kleine Hilfe haben wir eine Art Spannungskurve unterlegt.

 

Der Einstieg in die Geschichte: Schilderung eines Supermarktes

  • Gleich zu Beginn eine recht originelle Schilderung der Situation mit geschickter Interpretation des Namens des Supermarktes.
  • Dann eine Art Kamerafahrt (schönes Beispiel für die Verfilmbarkeit von Erzählungen) hin zu den Kassen mit schon mal Einbeziehung der beiden Hauptpersonen. Nebenbei zur Ablenkung ein kleiner Seitenhieb auf ältere Männer.

Übergang zu den entscheidenden Personen und ihrer Beziehung

  • Dann der Übergang von dem alten Mann und seinen möglicherweise im Anmarsch befindlichen Enkeln zu dem „Kondensmilchmann“ (wo die Geschichte die Erklärung erst mal schuldig bleibt) und dem offensichtlichen „Objekt seiner Begierde“. Kleine Anspielung auf den berühmten Film eines bekannten Regisseurs, dessen Titel eine inzwischen fast sprichwörtliche Wendung in die Welt gesetzt hat.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Dieses_obskure_Objekt_der_Begierde
    Das läuft auf eine Art Pendant (Gegenstück) zu der Mann hinaus, nur dass es diesmal um einen Apfel geht. Das Attribut „katzenhaft“ macht die Vielfalt der Gefühle deutlich, die hier anscheinend im Spiel sind.
  • Es folgt eine Absonderlichkeit, nämlich ein gemeinsamer Einkauf immer zur gleichen Zeit, verbunden mit einigen Unannehmlichkeiten für den Mann und weitere Überlegungen, was es mit dieser Frau auf sich haben könnte.
  • Es folgen weitere Anmerkungen zu dieser seltsamen Situation mit Erklärung: „Etwas muss er kaufen. So kann er die Apfelfrau ansehen.“ Die Anspielung auf die Haltbarkeit wird man erst später verstehen.

Das scheinbare Ende aller Hoffnungen

  • Dann das Ende der einseitigen Begegnung – so denkt der Leser. Noch eine kurze Überlegung zur Situation der Frau, dann die Auflösung der Bedeutung der Haltbarkeit, nämlich eine weiträumige Lagerung all der Dosen, die gekauft und nicht genutzt worden sind. Als Leser fragt man sich, warum die Dosen nicht entsorgt worden sind. Eine interessante Variante wäre gewesen, eine Selbsthilfegruppe aufzumachen, in der man solche Zwangseinkäufe tauschen kann 😉
  • Dann als weiterer Aspekt die Ausfallzeiten dieser Begegnungen am Sonntag und in den (wahrscheinlich Semester-)Ferien. Sehr schön in der typischen Distanzierung, die die Fantasie des mitfühlenden Lesers freisetzt: „Der Kondensmilchmann hasst die Ferien. Er mag die Sonntage nicht, aber die Ferien fürchtet er. Zwei Monate ohne Apfelfrau.“
  • Dann endlich der Wechsel der scheinbaren Außen- in die direkte Innenperspektive: „Ich muss ein Zeichen setzen, stark sein, etwas wagen, denkt der Kondensmilchmann, morgen beginnen sie, die Ferien.“ Interessant die Kombination von „Ich“ und „Der Kondensmann“ wieder. Auf jeden Fall hat man den Eindruck, dass der Erzähler sich mit diesem Mann zumindest ein bisschen identifiziert, aber alles tut, um alles auf Distanz zu halten.
  • Der Versuch einer Annäherung besteht aus dem Kauf eines Apfels und der einer Nähe, die zumindest die Duftwahrnehmung der Frau.
  • Es folgt eine Gedankenkette, die der Rechtfertigung dieses Verhaltens, das ansatzweise in die Nähe des Stalkings gerät. Am Ende dann die Schwankung zwischen Mut und erneuter Verzagtheit.

Die unvollkommene Rettung der Geschichte

  • Jetzt wird es spannend: Die Gelegenheit, die Apfelfrau anzusprechen, hat sich nicht ergeben oder ist nicht genutzt worden. Es folgt die Strafe des Ferienverzichts. Was soll da diese Geschichte noch retten?
  • Dann die überraschende Wende: Zunächst der Hinweis auf das, was die Ferien immer quälend machte, aber schon recht positiv ausgestaltet bis hin zur Bezeichnung als „gute Ferien“.
  • Dann der coole Übergang zur knappen Schilderung der Lösung, die dieser Mann für sich gefunden hat. Ein aufmerksamer Leser kann sich das als Schluss nicht vorstellen. Zu große wäre die Frage: Wieso hat dieser Mann bei dieser Frau anscheinend seine Schüchternheit überwunden.

Der grandiose Schluss

  • Dann der grandiose Schluss mit der Bemerkung des Maklers über faule Studenten, dann aber verbunden mit dem die Geschichte rettenden Hinweis aurf die Ansammlung von Apfelmus.
  • Damit ergibt sich für diese Kurzgeschichte ein seltsam offener Schluss: Es geht nämlich weniger darum, was aus dem Kondensmilchmann und der Katzenfrau noch werden könnte. Vielmehr geht es darum, wie es dieser Frau ergangen ist, die anscheinend auch einem inneren Zwang gefolgt ist und ihn auf ähnliche Weise gelöst hat wie der Mann.

Kreative Anregung

  • Man stelle sich vor, die neue Frau erzeugt ungewollt eine Situation, in der zum Beispiel 5 von ihr mitgebrachte Kondensmilchdosen (zufällig im Sonderangebot) bei ihrem Mann einen Lachanfall auslösen. Und dann die Frage, wie er diese ein bisschen dunkle Geschichte aus seiner Beziehungsvergangenheit auch durch eine geschickte Erzählung partnerschaftlich auflöst. Denn eine ideale Beziehung sollte ja wohl auch die jeweils eigene Vergangenheit angemessen zu einer gemeinsamen Erinnerung werden lassen.

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