Stig Dagermann, „ein Kind töten“ – eine ungewöhnliche Kurzgeschichte (Mat5728)

Worum es hier geht:

Spannend wird es immer, wenn eine Kurzgeschichte nicht so „normal“ ist, wie es den typischen Kriterien entspricht.

Das gilt für die Kurzgeschichte, die schon einen eher ungewöhnlichen Titel hat „Ein Kind töten“ – das klingt irgendwie unvollständig – wie in die Richtung: „ein Kind töten, das heißt/bedeutet“ u.ä.

Aber die Geschichte ist auch von der Erzähltechnik sehr ungewöhnlich.

Zu finden ist die Geschichte hier – und es lohnt sich, sie zu lesen und auch im Unterricht zu besprechen. Uns hat als Autofahrer das richtig getroffen, was da scheinbar teilnahmslos, aber um so mehr regelrecht erschütternd präsentiert wird.

Wir haben jedenfalls spontan beschlossen, demnächst noch vorsichtiger zu fahren.

Aber nun zur Sache:

Wir präsentieren und kommentieren erst mal die Erzählschritte:

  • 1-5: Beschreibung eines schönen Sonntages mit einer Zusammenstellung von Aktivitäten, die zu einem solchen Tag gehören können.
  • 5/6: Dann die Einmischung des Erzählers mit einer Information, die im Kontrast zum Bisherigen den Tag als schlimm charakterisiert und in äußerst distanzierter Berichtssprache etwas Ungeheures prophezeit: „Es ist der glückliche Morgen eines schlimmen Tages, denn an diesem Tage wird im dritten Dorf ein Kind von einem glücklichen Manne getötet werden.“
  • 7-9: Dann das spätere Opfer und seine Eltern, dargestellt im Gefolge eines schicksalsschweren „Noch“.
  • 10ff: Es beginnt eine Art Parallelmontage, wie man es von Filmen kennt: Eben ist das eine geschildert worden, dann wird die Gegenseite präsentiert – in diesem Falle ein „glücklicher Mann“, der im ersten Dorf sein Auto auftankt. Bezeichnend ist, dass hier das Entscheidende wiederholt wird: „der Mann, der das Kind töten wird“. Dieses Mittel der ständigen Wiederholung wird auch im weiteren Verlauf verwendet, um die schicksalhafte Verknüpfung von zwei Welten, die tödlich und todbringend zusammenstoßen deutlich zu machen.
  • Geschickt gemacht ist, dass parallel zum späteren Opfer auch der Todesfahrer ein „junges Mädchen“ dabei hat, das noch lacht.
  • Interessant am Ende der Kommentar des Erzählers, der aber gleich wieder mit dunklen Hinweisen auf Begleitphänomene des Unfalls verbunden werden.
    „Er ist kein schlechter Mann, er ist froh und glücklich, und bevor er ins Auto steigt, bleibt er einen Augenblick vor dem Kühler stehen, der in der Sonne blitzt, und hat seinen Genuß an dem Glanz und dem Duft von Benzin und von Faulbaum. Kein Schatten fällt über das Auto, und die blanke Stoßstange hat keine Beulen und ist auch nicht rot von Blut.“
    Man erkennt spätestens hier die Erzähltechnik, bei der der auktoriale Erzähler zwar distanziert, aber in der Sache auf brutalstmögliche Weise das Noch-Glück der Gegenwart mit der Prophezeiung von Schuld und Tod verbindet.
  • Ab Zeile 23 dann wieder Parallelmontage: Es geht jetzt um eine fehlende Kleinigkeit in der Opferfamilie, die zu holen das Kind losgeschickt wird – fatalerweise mit dem Hinweis des Vaters: „es solle sich eilen, das Boot warte am Strand, und sie wollten so weit fortrudern wie noch nie zuvor.“ Es wird dann auch betont, dass das Kind läuft und dabei durch einiges am Wegesrand abgelenkt wird. Der Erzähler kann es dann wieder nicht lassen, darauf hinzuweisen:
    „und niemand flüstert ihm zu, daß es nur noch acht Minuten zu leben hat, und daß der Kahn den ganzen Tag an seinem Platze liegenbleiben wird, und noch viele andere Tage.“
    Gerade die „acht Minuten“ sind charakteristisch für den Berichtsstil dieser Geschichte, die aber einen nicht-polizeilichen, sondern einen sehr menschlichen, existenziellen Schwerpunkt setzt.
  • Ab Zeile 35 laufen die Parallelmontageteile immer stärker aufeinander zu. Das Kind „läuft“ und das Auto des Unfallverursachers „fährt sehr schnell“. Das wiederum wird verbunden mit seiner Vorfreude auf die Tour auf dem Meer mit der eigenen Tochter. Dazu kommt Freude am Fahren.
  • 44ff: Noch einmal wird betont: „Er ist kein schlechter Mann. Er eilt zum Meer. Er will keiner Wespe etwas zuleide tun, und doch wird er gleich ein Kind töten.“
  • Ab Zeile 45 dann der tragische Schnittpunkt zweier Bewegungen: „Während sie auf das dritte Dorf zurasen, schließt das Mädchen wieder die Augen und sagt sich zum Spaß, daß sie sie nicht eher wieder öffnen will, bis sie das Meer sehen kann.“ Die fatale Bereitschaft der einen Seite, richtig aufs Gas zu treten, um rechtzeitig anzukommen, verbindet sich verhängnisvoll mit der kleinen Spielerei des Mädchens, schon mal – wahrscheinlich unnötig lange – die Augen – ebenfalls in Vorfreude zu schließen.
  • Ab Zeile 50 dann eine allgemeine Feststellung : „Denn so unbarmherzig ist das Leben konstruiert: “
    Verbunden mit der verdichteten Beschreibung von drei Lebenssituationen, die jetzt in einem Ereignis tragisch verbunden werden:

    • „Eine Minute, bevor ein glücklicher Mann ein Kind tötet, ist er noch glücklich,
    • und eine Minute, bevor eine Frau vor Entsetzen aufschreit, kann sie noch mit geschlossenen Augen vom Meer träumen,
    • und während der letzten Minute im Leben eines Kindes können die Eltern dieses Kindes in einer Küche sitzen und auf den Zucker warten und von den weißen Zähnen ihres Kindes sprechen und von einer Bootfahrt,
    • und das Kind selbst kann eine Pforte schließen und sich anschicken, mit ein paar Stückchen Zucker in einem weißen Papier in seiner rechten Hand eine Landstraße zu überqueren, und es kann diese ganze letzte Minute lang nichts anderes vor Augen sehen als einen langen, blanken Fluß mit großen Fischen darin und einen breiten Kahn mit stillen Rudern. „
    • Der Schluss ist wohl wichtig, denn er macht deutlich, dass das Kind nicht ausreichend aufpasst.
  • Ab Zeile 58 dann die Konzentration auf das „zu spät“. Auch hier wieder eine sehr präzise Beschreibung von Detail-Eindrücken am Unfallort, verbunden mit dem metaphorischen Hinweis auf das „Loch des Entsetzens“, das der Unfallfahrer in sich spürt. Daneben dann noch ein Rest an Verbindung zwischen dem, was eben noch war (Kaffee noch nicht getrunken) und dann ein Bild, „das sie nie wieder vergessen werden.“
  • Dann erneut eine – diesmal ausführlichere – Erzählerreflexion:
    • „Denn es ist nicht wahr, daß die Zeit alle Wunden heilt.
    • Die Zeit heilt nicht die Wunden eines getöteten Kindes,
    • und sie heilt sehr schlecht den Schmerz einer Mutter, die vergessen hat, Zucker zu kaufen, und ihr Kind über die Straße schickt, um welchen zu leihen,
    • und ebenso schlecht heilt sie die Gewissensangst eines ehedem glücklichen Menschen, der es getötet hat.“
    • Als Leser hält man hier schon mal fest, dass im Hinblick auf die Schuldfrage offensichtlich keine eindeutige Festlegung erfolgt bzw. ermöglicht wird.
    • Aktuelle Vermutung: Es geht gar nicht hauptsächlich um die Schuldfrage, sondern um Tragik und den Hinweis, wie schnell das Schicksal oder eine Verkettung unglücklicher Vorschläge zuschlagen kann.
    • Daraus – und auch das nehmen wir schon mal vorweg kann vielleicht etwas mehr Vorsicht oder Vorsorge entstehen. Wer weiß, wieviele Leben erhalten bleiben, wenn genügend Leute durch diese Geschichte zumindest kurzzeit-erschüttert worden sind.
    • Ab Zeile 69 dann die Beschreibung der Zeit nach diesem Unfall – wieder in der Haltung einer gewissermaßen mitfühlenden Traurigkeit. Jetzt fährt man „langsam“ und nirgendwo ist ein „froher Mensch“ zu sehen – das absolute Gegenteil zu der Zeit vor dem Unfall.
    • Am deutlichsten dann der Hinweis:
      • „und der Mann, der das Kind getötet hat, weiß, daß dies Stillschweigen sein Feind ist,
      • und daß er Jahre seines Lebens braucht, um es zu besiegen,
      • um es mit dem ständig wiederholten Schrei zu besiegen, es sei nicht seine Schuld gewesen.
      • Aber er weiß, daß das Lüge ist, und in den Träumen seiner Nächte wird er sich statt dessen wünschen, eine einzige Minute seines Lebens zurückzubekommen, um diese einzige Minute anders zu gestalten.
  • Das ist dann auch der Schlusskommentar des Erzählers:
    • Aber so unbarmherzig ist das Leben denen gegenüber, die ein Kind getötet haben, daß nachher alles zu spät ist.“

Die Schuldfrage

  • Damit ist möglicherweise auch die Schuldfrage geklärt. Alles deutet daraufhin, dass es hier um die Unbarmherzigkeit des Lebens geht.
  • Das ist vorher schon mehrfach erwähnt worden.
  • Wenn man das Verhalten der Beteiligten prüft, so sind mehrere daran beteiligt:
    • Der Unfallfahrer ist wohl ziemlich schnell gewesen und vielleicht zu glücklich beim Fahren.
    • Aber das Kind hat offensichtlich auch nicht genügend aufgepasst, war mit den Gedanken woanders und hat möglicherweise noch ein gefährliches Augen-zu-Spiel gemacht.
    • Damit ist man bei seinen Eltern, die sich sicher fragen werden, ob man nicht selbst wegen des Zuckers hätte gehen oder zumindest das Kind begleiten können.
  • Vielleicht liegt die eigentliche Bedeutung dieser Geschichte wirklich darin, dass es auf das Schicksal als Faktor des Lebens aufmerksam macht, also etwas, was man nicht in der Hand hat und dem man möglicherweise mit mehr Achtung begegnen sollte, als man es in der Normalität des Alltags tut.
  • Uns erinnert diese Kurzgeschichte an Dürrenmatts Theaterstück „Die Physiker“, wo der Physiker Möbius klagt: „Aber meine Weisheit zerstörte meine Gottesfurcht“.
    Dabei muss es nicht um Religion gehen, sondern hat vielleicht eher etwas mit Albert Schweitzers Prinzip der „Ehrfurcht vor dem Leben“ zu tun.
    Und bezogen auf diese Kurzgeschichte: Nichts gegen Fröhlichkeit und auch Ausgelassenheit im Leben. Aber wer den dunklen Schatten des Schicksals zumindest mit im Kopf hat, wird vielleicht anders mit seinem und dem Leben anderer umgehen als das hier in dieser Geschichte geschieht.
    Das muss aber jeder für sich selbst entscheiden. Uns hat diese Geschichte jedenfalls sehr nachdenklich gemacht. Hoffentlich hält das ein noch ein wenig an.

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