Beispiel für eine Szenenanalyse: „Der Besuch der alten Dame“ – Gespräch Polizist und Ill – S. 61-66 (Mat236)

Worum es hier geht:

  • Der „Besuch der alten Dame“ ist ein sehr beliebtes Theaterstück.
  • Zum einen, weil die Bereitschaft von Menschen, jemanden für Geld zu verraten, immer eine aktuelle Gefahr bleibt.
  • Zum anderen, weil es Dürrenmatt geschafft hat, wirklich sehr interessante Gesprächsverläufe zu präsentieren.
  • Dabei spielt Ills Kampf mit den Autoritäten der Stadt eine besondere Rolle.
  • Und wir nehmen uns hier mal die Polizisten-Szene vor.
  • Sie eignet sich auch sehr gut für eine Klassenarbeit.

Mögliche Aufgabenstellung

Analysieren Sie die Polizistenszene des II. Aktes (S. 61-66) unter besonderer Berücksichtigung der Voraussetzungen und der dramatischen Entwicklung!

Kommentierte Musterlösung

Klärung der Voraussetzungen
  1. Wenn man die Auseinandersetzung zwischen Ill und dem Polizisten im ersten Teil des II. Aktes richtig verstehen will, muss man zunächst einmal die Voraussetzungen prüfen, die zu einer ganz bestimmten Ausgangssituation führen.
  2. Was Ill angeht, so hat er den schönen Glauben vom Ende des I. Aktes, seine Mitbürger würden zu ihm stehen und das verlockende Angebot der Milliardärin ablehnen, inzwischen aufgeben müssen, zu deutlich war das Verhalten seiner Kunden zu Beginn des II. Aktes. Am deutlichsten wurde die Bereitschaft, zumindest schon einmal Schulden zu machen und damit letztlich eine für Ill verhängnisvolle Richtung einzuschlagen, bei den neuen gelben Schuhen. Dementsprechend war das auch der Punkt, an dem Ill nicht mehr bereit war, dieses scheinbar harmlose Spiel mitzuspielen, sondern die offene Konfrontation zu suchen, indem er seine Kunden mit Waren bewarf und aus dem Laden vertrieb.
  3. Deutlich geworden ist, dass die kluge Haltung der Milliardärin („Ich warte.“ S. 50) sich auszahlt und die Zeit gegen Ill arbeitet, die Gefahr für ihn immer größer wird. Dramatisch ausgedrückt wird das durch den Hinweis auf den fauchenden Panther unmittelbar vor Beginn der Polistenszene.
  4. Damit ist jetzt der Punkt erreicht, an dem Ill sich nach Unterstützung umsehen muss. Von seiner Familie kann er sie nicht erwarten, denn die hat ihn ja gleich zu Beginn des II. Aktes demonstrativ verlassen (die Mutter aus Müdigkeit, Sohn und Tochter, um die Chance auf eine neue Arbeitsstelle zu nutzen).
  5. Da kommt der Polizist als Vertreter von Recht und Ordnung natürlich gerade recht, auch wenn die Voraussetzungen für Ill sicher von vornherein nicht optimal sind: Schließlich nimmt dieser Ordnungshüter gleich bei seinem ersten Auftreten auf S. 28 „Achtungstellung“ vor der gerade angekommenen Milliardärin ein und reagiert auch nur verdattert auf ihre Forderung, in Zukunft „lieber beide“ Augen zu schließen. Ansonsten tut er sich keiner Weise bei seinen kurzen Auftritten hervor (S. 31/34/40), waltet seines Amtes, soweit es sich um unproblematische Aufgaben handelt, gehört einfach zur Bürgerschaft Güllens und nimmt an ihren Erwartungen auf bessere Zeiten teil.
  6. Gespannt ist man als Leser/Zuschauer sicher, wie er auf Ills Sorgen reagieren wird und dabei mit dem Konflikt zwischen seiner Aufgabe und seinen Hoffnungen auf bessere Zeiten, die nur auf Kosten Ills zu erreichen sind, klarkommt.
Anmerkung zur Klärung der Voraussetzungen:
  • Gut ist, dass zunächst eine Vorgehensweise vorgestellt und begründet wird.
  • Dann wird als erstes das geklärt, was im Vordergrund steht und offensichtlich ist, nämlich die Situation Ills.
  • Anschließend wird sie auf einer höheren Ebene ausgewertet, indem darauf verwiesen wird, dass die Rechnung der Milliardärin aufgeht.
  • Im nächsten Schritt wird die Frage einer möglichen Unterstützung diskutiert und festgestellt, dass Ill von seiner Familie keine Hilfe erwarten kann.
  • Das führt zwangsläufig zur Frage, wie sich denn die Obrigkeit in der Angelegenheit verhält – was direkt zum Polizisten als dem Vertreter von Recht und Ordnung führt.
  • Geschickt ist es am Ende, die Erwartungen des Lesers bzw. des Zuschauers zu formulieren. Dieser weiß oder ahnt zumindest zwar, dass Ill wohl keine Hilfe erhalten wird, ist aber gespannt, wie die Obrigkeit ihr Nichtstun begründen wird.
Analyse des Gesprächs
  1. Das Gespräch beginnt schon gleich nicht besonders gut für Ill: Der Polizist schlägt ihm gegenüber einen sehr amtlichen Ton an und reagiert auf seine Besorgnisse, die er durchaus feststellt („Sie zittern“, 61) damit, dass er sich „gemächlich“ eine Pfeife stopft und eine sehr distanzierte Haltung einnimmt: „Äußerst merkwürdig.“ (S. 61)
  2. Konnte man bis hierhin vielleicht noch glauben, dass sich diese Bemerkung auf das Verhalten der Milliardärin und der Bevölkerung bezieht und damit eine gewisse Chance auf Verständnis und Unterstützung enthält, wird diese Interpretation gleich anschließend zerstört, indem der Polizist es nicht mehr für sicher hält (vgl. S. 61), dass Ill auch wirklich Bürgermeister wird, was dieser zu seinen Gunsten ins Spiel gebracht hatte. Dies ist übrigens auch schon ein recht problematischer Punkt, denn Ill konnte als einfacher Bürger den Schutz des Staates beanspruchen, dass er meint, seine mögliche zukünftige Amtsstellung als Bürgermeister ausnutzen zu müssen, zeigt, wie wenig er noch auf das Recht setzt. Eigentlich lässt er sich hier auf die offensichtlich schon korrumpierten Verhältnisse in Güllen ein.
  3. Im nächsten Schritt (vgl. S. 62/63) kommt es zu einer seltsamen Auseinandersetzung über das richtige Rechts- und Amtsverständnis: Während Ill völlig zu Recht auf die zumindest indirekte Anstiftung zum Mord hinweist, stellt der Polizist die Ernsthaftigkeit der Forderung der Milliardärin in Frage oder auch ihren Geisteszustand – obwohl es genügend Anzeichen dafür gibt, dass sich die Mitbürger Ills bereits auf den Vorschlag einlassen – bezeichnenderweise auch der Polizist selbst, der es sich ebenfalls recht gut gehen lässt, Pfeife raucht und Bier trinkt.
  4. Als Ill nicht locker lässt und auf die real vorhandene Bedrohung hinweist, verlangt der Polizist „einen Mann, der ein Gewehr“ (S. 63) auf Ill richtet, also den extremsten Grad der Bedrohung, bei dem es schon schnell zu spät ist. Außerdem verweist er auf die längst nicht mehr aktuelle Solidaritätsbekundung im Goldenen Apostel.
  5. Als Ill auf die Veränderung hinweist, die er seitdem in seinem Laden erlebt hat, interpretiert der Polizist das nur als Zeichen für ein besser gehendes Geschäft. Zugleich konterkariert er aber seine eigene Beruhigungspille, indem er in unbewusster, vielleicht sogar gewollter Selbstironisierung darauf hinweist, dass er selbst bei einem der Kunden abends den gekauften Kognak probieren werde, womit er ganz offen gemeinsame Sache mit dieser Art von Mitbürgern macht (vgl. S. 63/64)
  6. Die anschließende Steigerung, nämlich, dass auch der Polizist gelbe Schuhe trägt, ist nur der offene Ausdruck dieses schon deutlich gewordenen Sachverhalts. Der Polizist ist sich nicht einmal dafür zu schade, selbst darauf hinzuweisen. Ill kann nur noch feststellen, dass der Polizist auch teureres Bier trinkt.
  7. Im nächsten Schritt werden dann die Reaktionen des Polizisten immer kürzer, offensichtlich langweilt ihn das Gespräch inzwischen, geht er immer mehr auf Distanz zu dem verängstigten Ill. Wieder wird deutlich („Seine Angelegenheit“ – „Meine Angelegenheit“, 64), wie sehr er gemeinsame Sache mit den anderen macht.
  8. Als der Polizist durch Telefon zu Amtsgeschäften gerufen wird, versucht Ill ein letztes Mal, ein ernsthaftes Gespräch mit ihm zu führen und ihn auf den neuralgischen Punkt der Entwicklung („Meine Kunden, womit sollen die bezahlen? […] mit mir werden sie zahlen.“ 65). Aber seine äußerst präzise Analyse der Situation (vgl. 65) löst nur noch die unwillige Reaktion aus: „Sie fabeln.“ Ja der Polizist geht sogar soweit, Ill vorzuwerfen, er habe zu viel Schnaps getrunken, was angesichts der realen Verhältnisse regelrechten Hohn darstellt.
  9. Allerdings bekräftigt er nach außen hin noch einmal den formalen Anspruch Ills auf den Schutz der Staatsorgane. Dass es damit nicht weit her ist, wird deutlich, als Ill den neuen Goldzahn im Mund des Polizisten entdeckt und dieser dann selbst das Gewehr auf ihn richtet und damit eigentlich die Bedingung erfüllt, die er vorher als Voraussetzung für sein Eingreifen genannt hat (vgl. S. 63). Auch dies wieder zumindest ungewollte Satire, wenn nicht sogar Ausdruck beginnender Aggression, denn schließlich versperrt ein ein noch lebender Ill den Zugang zu dem Geld, mit dem auch der Polizist seine Schulden bezahlen kann.
  10. Die Szene endet damit, dass der Polizist die Benutzung des Gewehrs mit dem entlaufenen Panther begründet, während Ill ihm ganz eindeutig und zutreffend hinterherruft: „Mich jagt ihr, mich.“ (S. 66)
Anmerkung:
  • Wichtig ist hier, dass von Anfang an sehr genau auf die Details des Textes eingegangen wird, eben auch auf die äußeren Umstände und die Atmosphäre des Gesprächs.
  • Etwas kompliziert und sehr anspruchsvoll ist die Analyse des Bürgermeister-Aspekts.
  • Im nächsten Schritt ist wichtig, dass man generalisiert bzw. abstrahiert, was da eigentlich abläuft, nämlich eine Auseinandersetzung um das richtige Amtsverständnis des Polizisten.
  • Eine besondere Bedeutung spielt sicher das Motiv des angelegten Gewehrs, das ja weiter unten noch einmal aufgenommen wird.
  • Was die geschäftlichen Aspekte angeht, so ist wichtig, die Steigerung herauszuarbeiten und die damit verbundene dramatische Zuspitzung.
  • Im Schlussteil spielen dann atmosphärische Dinge wieder eine Rolle, nämlich die immer kürzer werdenden Antworten des Polizisten. Dazu kommt das Element der offensichtlichen Teilhabe am allgemeinen Bürgerverhalten und damit auch an der Bedrohung Ills.
  • Wichtig ist auch, erkannt zu haben, wie präzise Ill am Ende seine Lage analysiert.
  • Insgesamt kam und kommt es darauf an, die Szene in kleine Einheiten zu zerlegen und diese präzise unter dem Gesichtspunkt des Ausgangskonflikts und seiner Entwicklung zu analysieren.
Auswertung der Szene
  1. Von vornherein ist deutlich geworden, wie wenig Sympathie, Mitgefühl und Achtung diesem Ill vom Polizisten entgegengebracht wird.
  2. Sein Anliegen wird zudem nicht ernst genommen, vielmehr mit seltsamen, ja zum Teil abstrusen Argumentationen gekontert.
  3. Die realen Gründe für das Desinteresse des Polizisten an Ills Sorgen werden von Anfang an deutlich und verstärken sich dann im Laufe der Szene immer mehr: Dieser Polizist ist tief in den Konsum, die Schulden, die Hoffnung auf das Geld der Milliardärin und damit in die wachsende Bereitschaft, gegen Ill vorzugehen, verstrickt.
  4. Seine Funktion als Amtsträger übt er bereits in zweierlei Weise real gegen Ill aus, indem er zum einen sein Gewehr auf ihn richtet und damit selbst in seiner Denkweise die reale Bedrohung Ills beweist und zum anderen dadurch, dass er sich auf die Jagd nach dem schwarzen Panther begibt – und dieser steht ja ganz eindeutig für Ill, der von Claire in früher so genannt wurde.
  5. Die Frage ist nun, ob Ill bei einem der anderen Amtsträger oder auch bei irgendeinem seiner einfachen Mitbürger Hilfe findet. Gelegenheit, das herauszufinden, ergibt sich nach der behandelten Szene in den anschließenden Gesprächen mit dem Bürgermeister und dem Pfarrer sowie schließlich in der Szene auf dem Bahnhof.

Anmerkung:

  • Hier kann man sich am besten noch einmal an dem orientieren, was man im Einzelnen bereits festgestellt hat, nur, dass man es eben zusammenfasst: Dementsprechend geht es zuerst um die allgemeine Einstellung und Haltung des Polizisten gegenüber Ill und seinen Sorgen.
  • Im nächsten Schritt wendet sich die Lösung dann der Teilhabe des Polizisten am allgemeinen Verhalten der Bürger zu, das ja sein Verhalten erklärt.
  • Schließlich geht es um das, was der Polizist real tut, seine Bedrohungshaltung gegenüber Ill bzw. seinem Pendant, dem schwarzen Panther.
  • Nicht ungeschickt ist es, am Ende die neue Situation am Ende der analysierten in Form einer Frage bzw. einer Erwartung zu formulieren

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