Theodor Fontane, „Der blinde König“ (Mat4433)

Anmerkungen zur Überschrift

Der blinde König

  • Bei der Überschrift weiß man nur, dass es um einen Herrscher geht.
  • Unklar bleibt, ob das Attribut „blind“ sich auf ein körperliches Problem bezieht oder auf ein geistiges.
  • Es kann ja durchaus sein, dass dieser König innerlich blind ist, zum Beispiel bestimmten Ratgeber zu sehr vertraut.

Anmerkungen zu Strophe 1

Ein Bettler steht gebückt am Wege
Und harrt des Königs stundenlang.
Das er zum Mitleid ihn bewege,
Wozu sein Elend jeden zwang.
Jetzt naht der König mit den Seinen,
Er geht vorüber, lacht und spricht;
Der blinde König würde weinen.
Doch ach, der König sieht es nicht.

  • Die erste Strophe präsentiert die Notlage eines Bettlers, der stundenlang auf den König wartet, um ihn um Hilfe zu bitten.
  • Das lyrische Ich macht durch den Hinweis auf das Lachen des Königs deutlich, dass dieser in einer ganzen anderen Welt lebt und sich für die notleidenden Schichten seines Volkes überhaupt nicht interessiert.
  • Etwas unklar sind die letzten beiden Zeilen. Sie werden wohl am besten so verstanden, dass ein blinder König weinen würde, wenn er von der Notlage dieses Bettlers erfährt.
  • Doch dieser König ist wohl in einem übertragenen Sinne blind – eben für die Nöte des Volkes.
  • Anmerkung:
    Das wäre übrigens eine fantastische Gelegenheit gewesen, durch eine Rhythmusstörung auf die Störung im Verhältnis zwischen verschiedenen Königstypen und ihrem Volk aufmerksam zu machen.

Anmerkungen zu Strophe 2

Es murrt das Volk; des Königs Räte
Bedrücken das verarmte Land,
Und mit der Blütezeit der Städte
Die Liebe zu dem Fürsten schwand.
Die Not und tiefer Kummer einen
Sich blass auf manchem Angesicht;
Der blinde König würde weinen,
Doch ach, der König sieht es nicht.

  • Die zweite Strophe macht dann deutlich, dass es sich hier nicht um ein individuelles oder punktuelles Problem handelt. Denn entweder sind die allgemeinen Verhältnisse so asozial, so blind für die Not des Volkes, die sogar verstärkt wird.
  • Oder dieser König lässt seinen Räten, seinen Beamten, einfach freie Hand und ist nur an einem für ihn positiven finanziellen Ergebnis interessiert.
  • Zum zweiten wird deutlich gemacht, dass es hier nicht nur um diesen Bettler und seine Not geht. Viel mehr werden viele im Land unterdrückt und dabei sogar die selbstbewussten und erfolgreichen Bürger in den Städten.
  • Das dürfte auf Dauer wie Machtbasis des Königs verringern und schlimmstenfalls zu einer Revolution führen.
  • Das ist ja zu Fontanes Lebzeiten 1848 hier in Deutschland auch geschehen.

Anmerkungen zu Strophe 3

Der König reist durch seine Lande;
Allüberall der Jubel schweigt.
Zerrissen sind die Liebesbande,
Und Missmut jedes Auge zeigt.
Nur hier und dorten treibt es einen
Zur Huldigung aus Furcht und Pflicht; –
Der blinde König würde weinen,
Doch ach, der König sieht es nicht.

  • Diese Strophe wiederholt und verstärkt noch mal den Hinweis auf die zunehmende Distanz zwischen König und Volk.
  • Außerdem wird darauf hingewiesen, dass allenfalls noch Zwang oder die Angst vor Strafe einige dazu bringt, scheinbar diesem König zu huldigen, d.h. Verehrung auszusprechen.

Anmerkungen zu Strophe 4

Der König starb; an seiner Bahre
Ist jedes Auge tränenleer.
Und weil’s getrauert viele Jahre,
Drum trauert jetzt das Volk nicht mehr.
Man sieht die Hoffnung wieder scheinen
Auf manchem bleichen Angesicht;
Der blinde König würde weinen,
Wohl ihm, wohl ihm, er sieht es nicht.

  • Die letzte Strophe sieht als einzigen Ausweg aus der Misere den natürlichen Tod des Königs.
  • Sehr geschickt gemacht ist die Verbindung der zu großen Trauer um eigene Verluste und der ausbleibenden Trauer um den Tod des Königs.
  • Verbunden wird das mit der zumindest ansatzweise vorhandenen Hoffnung, dass der Nachfolger dieses Königs möglicherweise eine andere Politik machen könnte.
  • Anregung:
    Es wäre übrigens eine spannende Recherche, nach Beispielen zu suchen, in denen ein Thronwechsel eine Besserung der Politik mit sich gebracht hat.

    • Bei Friedrich dem Großen war es zumindest so, dass nach seiner verlustreichen, am Ende aber doch erfolgreichen Kriegspolitik der ersten Regierungszeit eine Phase kam, in der er sich wirklich um sein Volk gekümmert hat.
      „Verdient machte er sich um die Entwicklung des Rechts, insbesondere des Allgemeinen Landrechts. Zu den weiteren innenpolitischen Taten nach 1763 gehörte in der Landwirtschaft die Förderung der Kartoffel als Nahrungsmittel“
      https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_II._(Preu%C3%9Fen)#Wiederaufbau_im_Inneren
    • Ein anderes Beispiel ist der russische Zar, der wohl 1861 die Bauern befreite in seinem Land von der Unterdrückung durch den Adel. Diese volksfreundliche Politik wurde dann aber schnell ins Gegenteil umgekehrt, nachdem es Attentate auf ihn gegeben hatte.
      „Kernstück der Reformen war die Bauernbefreiung: Bereits zwölf Tage nach der Unterzeichnung des Pariser Friedens sagte der Kaiser vor Moskauer Adeligen, „es sei besser, die Leibeigenschaft abzuschaffen, als darauf zu warten, dass sie zerbreche.““
      Zwei Attentate „übten auf den Kaiser einen nachhaltigen Eindruck aus und ließen seine Neigung zu Reformen schwinden. Die Zensur wurde in alter Strenge wiederhergestellt und ein umfassendes polizeiliches Überwachungssystem eingerichtet. “
      https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_II._(Russland)#Die_%E2%80%9EGro%C3%9Fen_Reformen%E2%80%9C

Zusammenfassung

  • Ein Gedicht das ganz auf der Linie der Kritik an den sozialen und politischen Verhältnissen im 19. Jahrhundert liegt. Dabei geht es um die soziale Frage in der Folge der Industriellen Revolution.
  • Interessant in dem Zusammenhang ist, dass es unter dem sehr konservativen Bismarckturm nach 1871 Sozialreformen gab, die von dem damals herrschenden König beziehungsweise Kaiser unterstützt wurde.

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