Theodor Mommsen und seine Einschätzung der Expansion der alten Römer (Mat5836)

Worum es hier geht:

Wir zeigen im Folgenden, wie man den Gedankengang eines Historikers analysieren und im Rahmen des Möglichen kommentieren  kann. Es geht um Theodor Mommsen, einen der berühmtesten deutschen Historiker. Er beschäftigt sich in seinem monumentalen Werk zur Geschichte des Römischen Weltreichs mit dessen Expansionsdrang und wie man den einschätzen sollte.

Noch einmal zur Klarstellung: Wir zeigen hier das Fach Deutsch eher als Hilfswissenschaft für das Fach Geschichte. Es ist also hier eine Art methodisches Grundlagenfach, dessen Erkenntnisse und Kompetenzen auch in anderen Fächern nutzen kann.

Zu finden ist der Textauszug hier.

Wir präsentieren ihn in den Originalpassagen und werten die dann auch gleich aus – einschließlich einer kritischen Kommentierung.

Dabei geht es uns nicht um die „historische Wahrheit“, sondern nur um die Analyse des Textes und eine Kritik, die man direkt an ihm festmachen kann.

Da es sich um einen Sachtext handelt, ist ein Blick auf den Kontext wichtig.
Theodor Mommsen (1817-1903) gehört zu den berühmtesten Historikern des 19. Jhdts. Der Auszug gehört zu seiner großen „Römischen Geschichte“, für die er 1902 den Literaturnobelpreis bekam.

Der Originaltext in kursiver Schrift.

Danach eingerückt der Kommentar.

  1. Werfen wir zum Schluß einen Blick zurück auf den von Rom seit der Einigung Italiens bis auf Makedoniens Zertrümmerung durchmessenen Lauf, so erscheint die römische Weltherrschaft keineswegs als ein von unersättlicher Ländergier entworfener und durchgeführter Riesenplan, sondern als ein Ergebnis, das der römischen Regierung sich ohne, ja wider ihren Willen aufgedrungen hat.
    • Ausgangspunkt: Verteidigungsthese:
      Es könne zunächst einmal bei der römischen Weltherrschaft nicht von „unersättlicher Ländergier“ gesprochen werden
    • Und es sei auch kein „von einem entworfener und durchgeführter Riesenplan“
    • Sondern, die Ausdehnung Roms zu Lasten anderer Völker sei das „Ergebnis, das der römischen Regierung sich ohne, ja wider ihren Willen aufgedrungen hat.“
  2. Freilich liegt jene Auffassung nahe genug – mit Recht läßt Sallustius den Mithradates sagen, daß die Kriege Roms mit Stämmen, Bürgerschaften und Königen aus einer und derselben uralten Ursache, aus der nie zu stillenden Begierde nach Herrschaft und Reichtum hervorgegangen seien; aber mit Unrecht hat man dieses durch die Leidenschaft und den Erfolg bestimmte Urteil als eine geschichtliche Tatsache in Umlauf gesetzt.
    • Hier bezieht Mommsen eine romkritische antike Quelle ein, dass die Kriege Roms „aus der nie zu stillenden Begierde nach Herrschaft und Reichtum hervorgegangen seien;
    • Dieses „durch die Leidenschaft und den Erfolg bestimmte Urteil “ wird dann einfach als solches abqualifiziert. Es darf nach Mommsen nicht als „geschichtliche Tatsache in Umlauf gesetzt“ werden.
    • Hier wird einfach etwas behauptet und nicht bewiesen.
  3. Es ist offenbar für jede nicht oberflächliche Betrachtung, daß die römische Regierung während dieses ganzen Zeitraums nichts wollte und begehrte als die Herrschaft über Italien, daß sie bloß wünschte nicht übermächtige Nachbarn neben sich zu haben und daß sie, nicht aus Humanität gegen die Besiegten, sondern in dem sehr richtigen Gefühl den Kern des Reiches nicht von der Umlage erdrücken zu lassen, sich ernstlich dagegen stemmte erst Afrika, dann Griechenland, endlich Asien in den Kreis der römischen Klientel hineinzuziehen, bis die Umstände jedesmal die Erweiterung des Kreises erzwangen oder wenigstens mit unwiderstehlicher Gewalt nahelegten.
    • Hier steigt Mommsen ganz tief ab in die Tiefen der negativen Betrachtung anderer Meinungen, wenn er dort nur eine „oberflächliche Betrachtung“ sieht.
    • Wenn man nach Mommsen tiefer blickt, muss man zu dem Ergebnis kommen, „daß die römische Regierung während dieses ganzen Zeitraums nichts wollte und begehrte als die Herrschaft über Italien, daß sie bloß wünschte nicht übermächtige Nachbarn neben sich zu haben
    • Da fragt man sich doch schon mal, wieso denn die Herrschaft über Italien rechtmäßig war. Es spricht doch einiges dafür, dass erfolgreiche Eroberer auch weitermachen.
    • Und der Hinweis auf „übermächtige Nachbarn“ ist doch Ansichtssache und kann schnell für einen angeblich notwendigen Präventivkrieg genutzt werden. Also ganz problematisch.Wir führen diese Analyse noch fort, hoffen aber, schon mal gute Anstöße gegeben zu haben.
  4. Die Römer haben stets behauptet, daß sie nicht Eroberungspolitik trieben und stets die Angegriffenen gewesen seien; es ist dies doch etwas mehr als eine Redensart. Zu allen großen Kriegen mit Ausnahme des Krieges um Sizilien, zu dem hannibalischen und dem antiochischen nicht minder als zu denen mit Philippos und Perseus, sind sie in der Tat entweder durch einen unmittelbaren Angriff oder durch eine unerhörte Störung der bestehenden politischen Verhältnisse genötigt und daher auch in der Regel von ihrem Ausbruch überrascht worden.
    • Hier übernimmt Mommsen weitgehend das, was die Römer selbst von sich sagen bzw. behaupten. Es fehlt jede Reflexion in Richtung kritischem Abstand zu dem, was jemand über sich selbst sagt.
    • Dann kommen wieder Behauptungen, die man geschichtlich überprüfen müsste, was hier nicht geschehen soll.
    • Es reicht, dass Mommsen immerhin zugibt, dass es mindestens drei Kriege gegeben hat, die von den Römern ausgegangen sind. Das liegt doch gut in der Verlängerung der schon angesprochenen Zwangseinigung Italiens.
    • Zumindest einen dieser Überfälle böser Feinde hätte Mommsen aufführen können.
  5. Daß sie nach dem Sieg sich nicht so gemäßigt haben, wie sie vor allem im eigenen Interesse Italien es hätten tun sollen, daß zum Beispiel die Festhaltung Spaniens, die Übernahme der Vormundschaft über Afrika, vor allem der halb phantastische Plan den Griechen überall die Freiheit zu bringen, schwere Fehler waren gegen die italische Politik, ist deutlich genug.
    • Auch hier ist plötzlich von Nicht-Mäßigung die Rede, was voll auf der Italien-Sizilien usw. Linie liegt. Mommsen gibt es eigentlich selbst zu (wenn auch nur indirekt), dass es letztlich eine Art von römischem Imperialismus gegeben hat.
    • Besonders dreist ist es, „die Festhaltung Spaniens, die Übernahme der Vormundschaft über Afrika“ auch noch als Verstoß gegen die Interessen der Römer einzuschätzen. Auch hier wieder keine nähere Begründung.
    • Am schärfsten ist dann aber „der halb phantastische Plan den Griechen überall die Freiheit zu bringen„, mit dem die Diskussion plötzlich von der unrechtmäßigen Ausdehnung verschoben wird auf die Ebene, dass die Römer sich zu viel Gutes für die Griechen vorgenommen haben.
  6. Allein die Ursachen davon sind teils die blinde Furcht vor Karthago, teils der noch viel blindere hellenische Freiheitsschwindel; Eroberungslust haben die Römer in dieser Epoche so wenig bewiesen, daß sie vielmehr eine sehr verständige Eroberungsfurcht zeigen.
    • Hier wieder reine Behauptungen, die mit den realen Eroberungen nicht in Einklang zu bringen sind.
  • Überall ist die römische Politik nicht entworfen von einem einzigen gewaltigen Kopfe und traditionell auf die folgenden Geschlechter vererbt, sondern die Politik einer sehr tüchtigen, aber etwas beschränkten Ratsherrenversammlung, die um Pläne in Cäsars oder Napoleons Sinn zu entwerfen der großartigen Kombination viel zu wenig und des richtigen Instinkts für die Erhaltung des eigenen Gemeinwesens viel zu viel gehabt hat.
    • Hier argumentiert Mommsen im Stil von „Männer machen Geschichte“ und zeigt kein Gefühl für eine geopolitische Gemengelage – das kann man ihm verzeihen.
      Schwieriger wird es mit seiner seltsamen These, dass die Römer zu wenig große Pläne gehabt haben (sollten sie die ganze damalige Welt erobern? Außerdem haben die Germanen im Jahre 9 n.Chr. spätestens den Römern die Grenzen aufgezeigt. Aber vielleicht liegt das schon jenseits von Mommsens Untersuchungsbereich.
  • Die römische Weltherrschaft beruht in ihrem letzten Grunde auf der staatlichen Entwickelung des Altertums überhaupt. Die alte Welt kannte das Gleichgewicht der Nationen nicht und deshalb war jede Nation, die sich im Innern geeinigt hatte, ihre Nachbarn entweder geradezu zu unterwerfen bestrebt, wie die hellenischen Staaten, oder doch unschädlich zu machen, wie Rom, was denn freilich schließlich auch auf die Unterwerfung hinauslief.
    • Hier wird es regelrecht lustig – denn der bisher bestrittene Imperialismus wird jetzt zur antiken Normalität gemacht.
  • Ägypten ist vielleicht die einzige Großmacht des Altertums, die ernstlich ein System des Gleichgewichts verfolgt hat; in dem entgegengesetzten trafen Seleukos und Antigonos, Hannibal und Scipio zusammen,

    • Als einzige Alternative wird Ägypten gesehen. Es ist erstaunlich, dass Mommsen nicht eher Karthago zum Vergleich heranzieht. Hannibal wird hier nicht als Verteidiger gegen römische Übergriffe gesehen, sondern anscheinend den großen Imperialisten gleichgestellt.
  • und wenn es uns jammervoll erscheint, daß all die andern reich begabten und hochentwickelten Nationen des Altertums haben vergehen müssen um eine unter allen zu bereichern und daß alle am letzten Ende nur entstanden scheinen umbauen zu helfen an Italiens Größe

    • Dann ist zwar von Jammer die Rede, dass so viele Nationen vergehen mussten, aber überzeugender ist die Freude über die Bereicherung Roms.
  • und, was dasselbe ist, an Italiens Verfall, so muß doch die geschichtliche Gerechtigkeit es anerkennen, daß hierin nicht die militärische Überlegenheit der Legion über die Phalanx, sondern die notwendige Entwickelung der Völkerverhältnisse des Altertums überhaupt gewaltet, also nicht der peinliche Zufall entschieden, sondern das unabänderliche und darum erträgliche Verhängnis sich erfüllt hat.

    • Interessant ist, dass Roms Verfall irgendwie seiner Größe zugesellt wird.
      Dann taucht eine „notwendige Entwickelung der Völkerverhältnisse des Altertums“ auf – und dann sogar ein „Verhängnis“.
      Man hat hier den Eindruck, dass Mommsen zu den Historikern gehört hat, der ein vorbestimmtes Walten in der Geschichte gesehen hat. Vielleicht war er Hegelianer.

Insgesamt ist dieser Ausschnitt voller unbewiesener Behauptungen und zum Teil auch Widersprüche, die anscheinend einzig das Ziel verfolgen, Rom zu verteidigen und zu einer Art Held in der Geschichte zu machen. Der musste zwar am Ende auch vergehen, hat aber eben ganz viel Kultur hinterlassen, von der man im 19. Jahrhundert noch begeistert zehrte.

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