Thomas Hürlimann, „Der Filialleiter“ – Beziehungs- und Kommunikationssatire (Mat5284)

Worum es hier geht:

Vorgestellt wird eine Geschichte, die so sehr aus dem herausfällt, was man sich vorstellen kann, dass die Aussage satirisch überdeutlich wird.

Besonders interessant unter dem Gesichtspunkt der Kommunikationssituation

Direkter Einstieg

  • Die Geschichte beginnt mit einem direkten Einstieg
  • Der allerdings – recht ungewöhnlich für eine Kurzgeschichte – mit Informationen zur Figur beginnt.
  • Rein erzähltechnisch gibt es hier einen Erzähler, der sich unabhängig von der Figur an die Leser wendet und sie über etwas informiert.
  • Eine idealtypische Kurzgeschichte hätte etwa so beginnen können:
    „Als er den Fernseher an stellte, glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Das war ganz eindeutig seine Frau. Und Frauen von Filialleitern in Supermärkten tauchten normalerweise nicht im Fernsehen auf.“
  • Hier gibt es erzähltechnisch einen Grund für die Erwähnung der Position, denn sie ist mit den Gedanken der erzählten Figur verbunden und kommt nicht zu sehr von außen.

Der Schock

  • Der nächste Erzählabschnitt beschäftigt sich mit dem Ausgangsschock bei diesem Filialleiter, der dann perspektivisch noch durch die ungewöhnliche Frage der Moderatoren verschärft werden dürfte.

Nebeneinander von Schock 2 und scheinbarer Normalität

  • Dann kommt auch die schlimmstmögliche Antwort, die man als Ehepaar erwarten kann -vor allen Dingen in der Öffentlichkeit.
  • Dann die große Überraschung für den Leser:
  • Der Filialleiter sieht das nicht allein zu Hause, sondern er sitzt direkt neben seiner Frau und scheint sich ihr auch noch mit einer vertrauten Geste, fast schon hilfesuchend, zuzuwenden.
  • Das ist natürlich eine maximal groteske Situation, die hier präsentiert wird.
  • Ganz nebenbei erfährt der Leser noch zwei weitere Dinge:
    • Dieses Ehepaar verfügt über ein abendliches Ritual, das nach einer Ehe aussieht, die einen gewissen Gewohnheitsgrad erreicht hat und weit von jeder Romantik entfernt ist.
    • Verbunden wird das mit dem Hinweis auf die gemeinsame Arbeit dieses Ehepaars im Supermarkt.
  • Ein aufmerksamer Leser wird sich an dieser Stelle möglicherweise schon fragen, was die anscheinend sich anbahnende Scheidung mit dem gemeinsamen Arbeitsverhältnis macht.
  • Auch hier merkt man wieder, wie lohnend es ist, Kurzgeschichten unter dem Gesichtspunkt der Leserlenkung zu betrachten.

Der Schock Nr. 3

  • Die Kurzgeschichte wendet sich jetzt wieder den aktuellen Geschehen zu.
    • Die wahrscheinliche Konfrontation zwischen dem Geschehen auf dem Bildschirm und dem Geschehen zu Hause und damit auch zwischen den Eheleuten spitzt sich weiter zu.
    • Denn hier ist zum einen von Hass die Rede, zum anderen liegt der schon zurück. D.h.: Die Probleme dieses Paars gibt es schon länger.

Der Schock Nr. 4

  • Die Doppelgleisigkeit der Erzählung setzt sich fort.
    • Auf der einen Seite wird es auf dem Bildschirm immer schlimmer.
    • Auf der anderen Seite sieht man die wachsende, auch körpersprachlich sichtbare Erregung des Mannes.

Check der Situation auf der Suche nach Normalität

  • Jetzt ändert sich die Kommunikationssituation etwas.
    • Als Leser bekommt man – wieder etwas von außen – die Information, was weiter auf dem Bildschirm passiert.
    • Davon wohl etwas abgelöst ist das Verhalten des Filialleiter.
    • Angesichts der Ungeheuerlichkeit dessen, was er sehen muss, versucht er, sich der Normalität seiner Umgebung zu vergewissern.

Schein-Normalität ermöglicht Flucht in Behaglichkeit

  • Was sich ihm da präsentiert, scheint alles so zu sein wie immer
  • Dann wird noch einmal die Seltsamkeit der Situation verdeutlicht.
    • Seine Frau taucht, ermöglicht durch das Medium Fernsehen, gleichzeitig an zwei verschiedenen Stellen und mit zwei völlig unterschiedlichen Haltungen auf.
    • Hier stoßen Normalität und das Gegenstück dazu mit fast schon nicht zu überbietender Härte aufeinander.

Kurzzeit-Realisierung der Realität

  • Im nächsten Schritt wird verdeutlicht, wie dem Filialleiter bewusst wird, dass er in der scheinbar normalen Situation zugleich der ist, über dessen emotionales Defizit gesprochen wird – und das noch ausgelöst durch seine Frau.
  • Die bildet gewissermaßen das Verbindungsstück zwischen diesen beiden Welten.

Nichtwissen in Beziehungsfragen – böse Ahnung in Berufsfragen

  • Der Filialleiter macht sich dann klar, dass seine Frau da heimlich etwas hinter seinem Rücken gemacht hat.
  • Er versteht nicht, warum sie das getan hat. Es sieht aber aus seiner professionell beruflichen Perspektive, dass das gleichzeitig die Zerstörung seiner beruflichen Existenz ist.

Satire: Normalität in Unterhosen

  • Die Ungeheuerlichkeit dieser Geschichte setzt sich nun auf eine andere Art und Weise fort. Denn statt der normalerweise zu erwartenden Auseinandersetzung macht dieses Ehepaar so weiter wie bisher.
  • Der Unterschied wird nur dadurch sichtbar gemacht, dass der Filialleiter sich jetzt in einer für sein Selbstverständnis und seine Rolle sehr ungünstigen Art und Weise präsentiert.

Scheinbares Happy End

  • Der Schluss der Geschichte macht dann deutlich, dass hier nichts geklärt worden ist, sondern man das normale Nebeneinanderherleben, einfach fortsetzt.

Aussagepotenzial der Geschichte

Insgesamt eine Geschichte,

  • die einem recht unwahrscheinlich vorkommt
  • und wohl nur auf schon satirische Weise deutlich machen soll, dass manche Menschen so wenig gefühlsmäßig mitbekommen, dass selbst die schon fast größte Eskalation bei ihnen zu keiner Veränderung führt.
  • Vielleicht ist es gerade der innere Protest der Leser
    – „So etwas gibt es doch nicht, das ist doch gar nicht möglich“ –
    der das erreicht, was mit der Geschichte erreicht wird
    – und wenn wir eine mögliche Intention des Autors mit einbeziehen –
    auch erreicht werden soll.

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