Thomas Hürlimann, „Der letzte Auftritt“ – eine Kurzgeschichte zum Thema „Sein und Schein“ mit vielen Anregungen (Mat8361)

Worum es hier geht:

Thema:
Umgang mit Karriereende und Hoffnungslosigkeit mit Flucht in einen theatergerechten letzten Auftritt mit einer Lüge.

Wir haben die Geschichte zum Beispiel hier gefunden.

Inhaltsangabe:

In der Geschichte geht es um eine Schauspielerin, die nach einigen Anfangserfolgen für sich keine Chance sieht und jetzt noch einmal den Ort aufsucht, an ihre Karriere begann.

Sie trifft dort ehemalige Kolleginnen und Kollegen und wird von denen so enthusiastisch begrüßt, dass sie sich in die Lüge hineinflüchtet, sie sei nur auf der Durchreise zu neuen Erfolgen.

Als sie dann einmal kurz die Wahrheit andeutet, sie sei am Ende, sieht man das nur als einfaches Stressphänomen und versucht, sie zu trösten.

Als alle zu ihren Theateraktivitäten aufbrechen, tröstet sich die zurückbleibende ehemalige Schauspielerin damit, dass sie nicht gelogen, sondern ihren letzten Auftritt gehabt habe.

Aussagen:

Die Geschichte zeigt

  1. Zum einen das Ende beruflicher Hoffnungen
  2. Den Kontrast zwischen kollegialer und durchaus menschlicher Freundlichkeit und der damit verbundenen Versuchung, sich und den anderen die Lage schön zu reden.

Anmerkungen:

  • Im Zentrum steht die sicher sehr originelle Idee des Autors, so etwas wie eine Notlüge zu einem letzten Auftritt werden zu lassen.
  • Es bleibt offen, ob sich das nur auf die Schauspielkarriere bezieht oder sogar auf das ganze Leben.
  • Auf jeden Fall versperrt diese Notlüge der Schauspielerin natürlich eine normale gemeinsame Zukunft mit den alten Bekannten aus ihrer Karriereanfangszeit.
  • Die Frage ist auch, wie die Zukunft aussehen wird. Von daher hat die Kurzgeschichte wirklich einen offenen Schluss.
  • Interessant könnte es sein, für die Hauptfigur durch Fortsetzung der Geschichte einen Ausweg aus Verzweiflung und Lüge zu suchen. Das könnte etwa im Gespräch mit einer verständnisvollen Mutter geschehen oder auch in einer Begegnung mit einem anderen Menschen, der vielleicht schlimmer vor seinem letzten Auftritt steht, etwa gesundheitlich.

Sprachliche-rhetorische-literarische Mittel

  • „Sie wußte, das war das Ende. Die Existenz gescheitert, die Träume zerbrochen. Außer diesem Schminkkoffer hatte sie nichts mehr, und sie hatte Hunger, und sie war müde, zum Sterben müde.“
    Reihung mit einer gewissen Steigerung.
  • Der „Schminkkoffer“ als Symbol für die Schauspielerei, aber auch den Auftritt vor den ehemaligen Kolleginnen und Kollegen.
  • „Hübsch war sie damals gewesen, voller Lust auf Liebe, Zukunft und Kunst.“
    Weitere Reihung
  • „Unsterblich, wie es hieß, vor zwanzig Jahren sein Firs, vor vierzig sein Meister Anton.’“
    Theaterjargon
  • „Links von ihm eine kesse Blonde und rechts – nein, aber nein! Jetzt war es Ka, die schrie: „Gudrun!“ schrie sie, und Gudrun: „Kathi! Liebling! Du!“
    Kurzstil aus der Erlebnis-Perspektive der Figur heraus
  • „Umarmung, Küsse, Tränen. Da passierte es. Ohne Absicht, einfach so. Ka schwindelte.“
    Fortsetzung des Kurzstils mit Reihung und dann dem auch sprachlich fließenden Übergang in die Schwindelei hinein
  • Dann ein weiterer überraschender Gegensatz im Sinne eines Missverständnisses – wieder mit Anlehnung an die Theatersprache
    • „Ka, plötzlich: „Ich bin am Ende. Ich kann nicht mehr.“
    • „Gudrun: „Du, das versteh ich. Da rackert man sich ab, jahrelang, und dann, über Nacht, wollen dich alle zugleich, der Klaus in Wien und der Achim in Zürich.“
  • Dann ein Hinweis auf die Doppelbödigkeit der Kommunikation zwischen Schein und Sein – mit Metapher für eine Karriereetappe:
    „Mattmann sah ihr nach, mit trübem Blick. Das Frischgemüse, meinte er, sei auch nicht mehr, was es früher einmal gewesen war.“
  • Fortsetzung dieser Doppelbödigkeit mit Einbrüchen der Realität in der Wahrnehmung jetzt der Hauptfigur:
    „Mattmann war nun doch noch alt geworden, so alt wie Firs, den seine Herrschaft am Schluß des Stückes vergißt und einschließt im leeren, alten Haus. Die Lider sanken über seine nassen Augen, der Zahnarzt, der ihren Oberkiefer repariert habe, ihr Geliebter sei, „ganz nett, ehrlich, aber aus seiner Ehe steigt der Trottel nicht aus.“
  • „Ka erhob sich, schlich ab, und als sie im Tor noch einmal sich umdrehte, hockte im leeren, dunklen Garten nur noch der Alte, Mattmann, und schlief. Sie schickte ihm einen Kuß zu. Da fuhr Wind in die Platanen, und was da raschelte und rauschte – es hörte sich an wie Applaus.“
    Der Schluss ebenfalls mit mehreren Ebenen:

    • Die traurige Realität
    • Der menschlich-freundliche Abschied
    • Der Ringschluss zum Anfang und zum zentralen literarischen Mittel, nämlich einem letzten Hinweis darauf, dass hier gespielt worden ist, mit weitgehender Ausblendung der Realität.

Anregungen zum Umgang mit der Geschichte

  • Von daher kann man diese Geschichte sehr gut interpretieren mit Hilfe des Gegensatzes von Sein und Schein.
  • Vergleichen lässt sie sich auch gut mit „Momente“ von Sabrina Eisele
    https://textaussage.de/sabrina-eisele-momente-doppelt-offene-kurzgeschichte
  • Anregungen:
    • Wie schon gesagt, kann man die Geschichte weiterschreiben, auf der Suche nach einer Rückkehr in die Realität mit Rettung einer möglichen besseren Zukunft.
    • Außerdem kann man natürlich darüber diskutieren, wie sinnvoll in einem Falle die Flucht in die Unwahrheit, also den Schein ist.
    • Darüber kann noch weiter und tiefer gesprochen werden: Wieviel Schein braucht man als Mensch zum Überleben.
    • Es gibt übrigens einen Film mit dem Titel „Neid ist auch keine Lösung“
      https://www.tvspielfilm.de/kino/filmarchiv/film/neid-ist-auch-keine-loesung,8341864,ApplicationMovie.html

      • Da geht es um eine Frau, die als später als Ärztin am besten die Welt retten wollte, dann aber in der Realität eines Familienalltags gelandet ist.
      • Sie trifft plötzlich eine alte Schulfreundin, die wirklich nach oben gekommen ist und mit ihrem Mann ein großzügiges Haus bewohnt.
      • Auch hier beim Treffen eine kleine Lüge, die dann zu einem großen Problem wird, als man eingeladen wird und dann immer deutlicher zwei Welten aufeinanderprallen.

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