Anders Tivag, „Sprache ist auch ein Ort der Freiheit“ – Kurzgeschichte zum Umgang mit Gedichten in der Schule

Worum es hier geht:

Wir präsentieren hier eine Kurzgeschichte, die den Gedanken der „Leserlenkung“ beim Umgang mit Gedichten einfach mal weiterentwickelt.

Anders Tivag

Sprache ist auch ein Ort der Freiheit – man muss ihn nur finden und nutzen

Als Jan sich zu Beginn der Deutschstunde meldete, stieg bei Doktor Brunner schon mal der Puls. Es war schon etwas seltsam mit diesem Schüler. Auf der einen Seite häufig ziemlich lustlos, auf der anderen Seite aber auch wie ein Tiger im Dschungel, jederzeit sprungbereit.

Und tatsächlich: Der Tiger sprang.

Jans Statement verwies zunächst auf die Hausaufgabe, die Interpretation eines Gedichtes, das sich mit dem Hochsommer beschäftigte. Dann aber die schon vermutete Überraschung:

„Wir haben doch letztens über die Leserlenkung beim Umgang mit Gedichten gesprochen. Ich wusste nicht so richtig, was ich damit anfangen konnte. Also habe ich es bei diesem Gedicht einfach mal ausprobiert.

Glücklicherweise gehörte Doktor Brunner zu den Lehrkräften, die sich nicht nur ins Unvermeidliche schicken, sondern auch versuchen, das Beste daraus zu machen.

Klingt spannend, Jan, dann lass mal hören.

Und dann ging’s los. Es war natürlich keine richtige Interpretation. Aber Jan arbeitete gut heraus, wie der Hochsommer am Anfang in Richtung Ernte beschrieben wird, sich dann aber immer mehr negative Tendenzen häufen. Während der größte Teil der Natur ruhe, konzentriere sich das lyrische Ich auf den Algenschleim auf Gewässern. Dem Efeu werde eine „kleine Totenhand“ zugeschrieben, und alles ende damit, dass die Liebenden sich in „wilden Ängsten“ umgreifen und dabei seien sie auch noch „dumpf und blind.“ Dann kam die erste dieser Bemerkungen, für die Jan bei seinen Mitschülern beliebt und bei den Lehrkräften auch ein bisschen gefürchtet war: „Das Gedicht hatte mich ja schon in eine leichte Depression gelenkt, aber dann habe ich gemerkt, da stimmt was nicht. Dieses lyrische Ich ist anscheinend steinalt und hat Angst, dass es nach Herbst und Winter das nächste Frühjahr nicht mehr erreicht. Aber was haben wir damit zu tun?“

Als Jan seinen Vortrag beendet hatte, herrschte Schweigen. Doktor Brunner war offensichtlich damit beschäftigt, das Ganze jetzt in seine Stundenvorbereitung einzuarbeiten. Aber Jan fuhr plötzlich fort: „Wie ihr gehört habt, war ich ja nicht so begeistert von diesem Gedicht. Und ich habe dann gedacht, was machst du mit dieser Leserlenkung, die dich am Ende ein bisschen depressiv zurück lässt. Ach, dachte ich: Wir werden doch immer wieder aufgefordert, kreativ mit Literatur umzugehen. Dann machen wir das doch einfach. Wir erweitern die Leserlenkung einfach ein bisschen. Wenn man jemandem etwas Blödes sagt, dann nimmt der das noch nicht einfach nur an und freut sich, dass er es verstanden hat. Nein: Er lässt sich was einfallen, um insgesamt stimmungsmäßig gut aus der Nummer rauszukommen.

Das könnten wir doch auch einfach mal versuchen. Wir überlegen, wie wir dieses Gedicht in unserem Sinne umschreiben könnten: So nach dem Motto: „Wir sind müde, der Deutschunterricht „geht zur Neige“ und auf die „kleine Totenhand“ des Efeus verzichten wir einfach. So manche Mauer wird ja schließlich durch Efeu schöner – und wir wissen: Die Wahrscheinlichkeit, dass wir Herbst und Winter überleben, ist groß.

Die Liebenden unter uns müssen sich also nicht „in wilden Ängsten“ umgreifen, sondern sie können sich einfach auf die kommenden Sommerferien.Sie haben dann auch viel mehr Zeit dafür – nicht für die Ängste, sondern für das Schöne an der Liebe.

Doktor Brunner hatte inzwischen genügend Zeit zum Nachdenken gehabt.

Er bedankte sich bei Jan  für seine Überlegungen, verwies dann aber darauf, dass es ja letztlich um die Vorbereitung auf das Abitur gehe. Und da müsse man sich an das halten, was am Ende in den Erwartungen stehe und zu Punkten führe.

Jetzt reichte es Lisa. Sie hatte sich schon häufig mit Jan darüber unterhalten, ob man mit Literatur nicht auch anders umgehen könnte, als immer nur zu schauen, ob man bei der Interpretation die Vorgaben erfüllt. Jetzt meldete sie sich einfach und meinte: „Wir sind aber noch nicht im Abitur und wir sind auch nicht in dieser tödlichen Hektik, die dieses Gedicht vermittelt. Also probieren wir Jans Idee doch einfach mal in Ruhe aus, vielleicht sogar draußen auf dem Schulhof, in Gruppen unter schattigen Bäumen. Dann fällt uns bestimmt viel zum Hochsommer und vielleicht auch zur Liebe ein.“

Also eins muss man Doktor Brunner wirklich zugestehen. Er wusste, wann man besser nachgab. So saßen kurz darauf alle draußen in Gruppen zusammen, arbeiteten an ihren Ideen für ein Gegengedicht und fühlten sich vor allem auch ein bisschen befreit.

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