Reinhold Ziegler, „Die Brücke“ – personale Erzählhaltung (Mat1540)

Das Problem der Erzählhaltung

Im Folgenden geht es um die sogenannte „personale“ Erzählhaltung. Für sie ist typisch, dass der Erzähler sich mit eigenen Gedanken  und Kommentaren zurückhält und sich ganz eng an die Figuren hält, also mit ihren Augen sieht und eben auch ihre Gedanken wiedergibt.

Die Kurzgeschichte „Die Brücke“ von Reinhold Ziegler ist ein schönes Beispiel für die Möglichkeiten, aber auch die Schwierigkeiten, so etwas im Einzelfall zu bestimmen.

 

Analyse der Geschichte unter dem Aspekt der Erzählhaltung

  1. Die Kurzgeschichte „Die Brücke“ von Reinhold Ziegler, ist vor allem unter dem Gesichtspunkt der Erzählhaltung interessant:
  2. Sie beginnt, typisch für eine Kurzgeschichte, mit einem direkten Einstieg, in dem aus der Sicht der Figuren der Eindruck wiedergegeben wird, den eine große Brücke über die Seine auf sie macht.
  3. Im zweiten Abschnitt erfährt der Leser, dass die Mutter der Hauptfigur, die Jan heißt, genauso wenig diese Brücke besteigen möchte wie Susan, seine Schwester. Entscheidend ist die Information, die der Erzähler über Jans Motivation äußert, sich der Herausforderung der Besteigung der Brücke zu stellen:
    „Mit frischem Abitur in der Tasche hatte er dem letzten gemeinsamen Urlaub mit den Eltern zugestimmt, nun wollte er auch zeigen, dass es ihm Ernst war, mit ‚gemeinsam'“.
  4. Im dritten Abschnitt erfahren wir weiterhin, was Jan bemerkt, nämlich sowohl bei seinem Vater als auch bei sich ein merkwürdiges Schlenkern der Arme, das aber letztlich nicht geklärt wird, sondern einfach als Naturphänomen akzeptiert wird. Man wird erinnert an das berühmte Zitat: „‚Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt‘ [AWS] – Hamlet – The Tragedy of Hamlet, 1. Akt, 5. Szene, Hamlet“
    aus: https://de.wikiquote.org/wiki/William_Shakespeare
  5. Im vierten Absatz wird dieser Gedanke noch erweitert in Richtung des Sprechens über Gott. Hier verfällt der Erzähler jetzt sogar in die erlebte Rede, die ja deutlich eine Verschmelzung des Inhalts des Denkens der Figur mit dem Erzähler sichtbar macht, während der Erzähler durchaus eine gewisse Distanz beibehält, die sich eben den Personalpronomen auch im Tempus des Präteritums zeigt:
    „Es gab mehr in diesen 75 Kilo Körpermasse, als die zwei Jahre Biochemie-Leistungskurs vermitteln konnten, und für einen Augenblick dachte er an das, was er unter Gott verstand oder verstehen wollte.“
  6. Es folgt ein langer Absatz, in dem Vater und Sohn sich über ihre Situation und ihre Gefühle austauschen. Das wird vorwiegend in szenischer Darstellung präsentiert.
    Es gibt eine Stelle, an der man nicht genau weiß, ob der Erzähler jetzt kurzzeitig auch in die Figur des Vaters hineinschlüpft oder ob er präsentiert, was der Sohn über ihn denkt:
    „Der Vater sah ihn an, zog die Unterlippe zwischen die Zähne, wie er es immer tat, wenn er nicht wusste, ob es klug war, etwas auszusprechen.“
    Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings größer, dass hier ein optisches Signal vom Sohn interpretiert wird, der Erzähler also in der Figur bleibt.
  7. In einem weiteren langen Abschnitt geht es um das Thema des Todes. Auch hier erfahren wir wieder etwas aus dem Leben von Jan, bei dem man nicht weiß, ob es jetzt seine Gedanken sind oder die des Erzählers: „Normalerweise hasste es Jan, wenn sein Vater so zu reden versuchte, wie er dachte, dass Jugendliche es täten. Das klang so nach Pädagogik, so nach trickreichem Einschleusen wohlüberlegter Erziehungskonzepte – in jedem Fall ein Grund, auf Abstand zu gehen.“
  8. Noch interessanter ist die Stelle, an der es heißt: „Aber Jan hielt ihn hart im Klammergriff, bis der Vater seinen gespielten Widerstand aufgab.“ Hier weiß man wirklich nicht, ob der Erzähler hier spricht oder Jan sich das vorstellt.
  9. Der Kern der Geschichte wird jetzt dann wieder so wiedergegeben, dass der Erzähler mit der Figur verschmilzt: „Jan wusste nicht, ob er den Satz wiederholen sollte. Wusste nicht, ob es nicht lächerlich war, so etwas zu sagen, zu seinem Vater zu sagen, wenn man schon fast neunzehn war und im Begriff, das Haus zu verlassen.“
  10. Eine weitere interessante Stelle findet sich, wenn der Vater sagt: „‚Das ist in Ordnung so‘, sagte er glücklich und nickte dabei, ‚das muss so sein.'“
    Hier ist auch wieder die Frage, ob der Erzähler nicht an dieser Stelle mit der Figur des Vaters verschmilzt.
  11. Der Schluss der Geschichte zeigt den Erzähler dann wieder als neutralen Beobachter, der sich nur mit dem beschäftigt, was von den Figuren zu sehen und zu hören ist.
    Inhaltlich wird als Schlusspunkt gesetzt, dass Vater und Sohn eine große Gemeinsamkeit zeigen. Beide sagen, sie hätten „runtergeguckt“ und gehen nicht weiter darauf ein, was darunter zu verstehen ist.
    Mutter und Schwester werden das sicherlich nur als die normale Beschreibung verstehen, während Vater und Sohn damit eine tiefe Erfahrung verbinden.

 Wer noch mehr möchte …