Anders Tivag, „Wenn eine berühmte Kurzgeschichte eine kreative Reaktion herausfordert“ (Mat5980)

Worum es hier geht:

Wer uns kennt, der weiß, dass wir Literatur lieben – aber Liebe heißt nicht, dass man auch die realen oder vermeintlichen Schwächen zum Beispiel einer Kurzgeschichte sieht.

Wir zeigen am Beispiel der berühmten Kurzgeschichte „Wanderer, kommst du nach Spa…“ von Heinrich Böll, dass man sie

  1. in ihrer Großartigkeit anerkennt.
    1. Denn jede Geschichte braucht eine originelle Ausgangsidee.
    2. Heinrich Böll hat in der Geschichte wunderbar einen typischen Heldenspruch früherer Zeiten im wahrsten Sinne „dekonstruiert“.
      1. Zum einen hat der ihm schon mal die letzten drei Buchstaben weggenommen.
      2. Zum anderen hat er aber auch sehr schön deutlich werden lassen, wohin so ein Spruch führt, nämlich in  ein Lazarett und in ein wahrscheinlich in eine traurige Überlebensrealität, wenn es sie denn überhaupt gibt.
      3. Vor allem hatte er den genialen Einfall, die Hintergründe einer falschen Kriegs- und Heldenbegeisterung aufzudecken – und alles miteinander in einem Handlungsablauf zu verbinden.
  2. dass man sie aber auch weiterdenken kann –
    1. und hier stand auch ein Einfall am Anfang einer entsprechenden Kurzgeschichte.
    2. Es fiel nämlich auf, dass die Geschichte im Ablauf etwas mühsam ist – dieses ganze Wiedererkennen – und Doch-nicht-erkennen und dann die ganzen bemühten Versuche, sich der Einsicht zu verschließen.
    3. Viel spannender erschien es,
      1. erst im Zeichen-Operationssaal die Erkenntnis wie einen Donnerschlag durchbrechen zu lassen –
      2. und dann – nach Schritt für Schritt treppenhausabwärts an sich die propagandistisch genutzten Kunstwerke an sich vorüberziehen zu lassen –
      3. mit zunehmendem Zorn
      4. bis hin zur verzweifelten Erkenntnis, dass die dazu beigetragen haben, dass sein Name möglicherweise bald auf der Kriegstotenliste des Denkmals erscheint.

Anders Tivag

Gruppe 47 heute?

Seit ein paar Tagen lasen sie im Deutschunterricht Kurzgeschichten. Die waren zum Teil ganz interessant, aber irgendwann wurde es langweilig. Immer derselbe Ablauf: Einleitung mit Thema, Figuren charakterisieren und dann die sprachlichen Mittel. Wenn man selbst gerne las und hin und wieder auch was schrieb – es juckte einen in den Fingern. Aber irgendwie traute er sich nicht.

Als Noah an diesem Morgen aufstand, wusste er noch nicht, dass sich das plötzlich ändern würde.

Diesmal gab es eine Geschichte von einem Dichter, den wir hier aus Pietätsgründen nicht nennen werden. Denn es soll am Ende nicht so aussehen, als würde sich hier jemand mit einem Nobelpreisträger messen wollen.

Gleich am Anfang wurde der Titel erklärt: „Wanderer kommst du nach Spa…“, das sei eine Abkürzung für Sparta. Es gehe darum, dass 300 Kämpfer dieser Stadt sich in einem Engpass für ihre Sache aufgeopfert hätten.

Und was gab es dann: Natürlich einen Gedenkstein. Und was wurde daraus? Eine Geschichte im Lesebuch. So dachte man, bis der Lehrer ein Schiller-Zitat an die Wand warf: „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest / Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.

Natürlich wurde das kritisch eingeordnet – es gebe kein Gesetz, das einen in den kalkulierten Selbstmord treibt. Das sei halt die Kultur dieses kriegerischen Volkes gewesen.

Und warum dann diese Geschichte? Tja, die sollten wir lesen, dann kämen wir schon drauf. So war er, ihr Herr Rechthaber, das war sein Spitzname – und den hatte er sich redlich verdient.

Dann waren Hinweise zur kommenden Klausur noch wichtiger als das gemeinsame Lesen – also saß Noah jetzt an seinem Schreibtisch und hatte einige Seiten vor sich. „Kurzgeschichte“ murmelte er spöttisch. Aber erst mal wollte er sie aufmerksam lesen. Mal sehen, wozu ihm diesmal etwas Eigenes einfiel.

Als erstes die Erzählschritte: Schwerverwundeter Soldat kommt in Behelfslazarett an. Statt zu stöhnen und zu jammern betrachtet er aufmerksam die Kunstwerke im Treppenhaus. Das kam Noah schon mal komisch vor. Schon fast lustig war, dass dieser Soldat überall etwas sieht, was ihm entweder bekannt vorkommt – oder er wartet schon regelrecht drauf. Aber die Geschichte zieht sich hin, weil er einfach nicht auf das Naheliegende kommt: Es ist seine Schule, so weit hat der Gegner den versprochenen deutschen Endsieg schon zurückgedrängt.

Diese Assoziation war wohl erlaubt, denn der Erzähler geht irgendwann die Schulen seiner Heimatstadt durch – darunter auch eine Adolf-Hitler-Schule. Noah atmet auf, seine Überlegung zur Endsieglüge ging also in die historisch richtige Richtung.

Noah ist froh, als der Schwerverwundete – natürlich nur in der Geschichte – im Zeichensaal seiner alten Schule angekommen ist. Die Erkenntnis  hat sich trotz aller Bemühungen des Soldaten nicht aufhalten lassen.

Er wird dann operiert – aber das erweist sich als weniger wichtig, stattdessen entdeckt er auf der Wandtafel des Zeichenraums das, was zur Überschrift der Geschichte geworden ist: „Wanderer, kommst du nach Spa …“ Er hat es vor drei Monaten dort hingeschrieben, dummerweise die Tafelbreite  falsch berechnet – und so fehlen am Ende eben drei Buchstaben.

Jetzt gibt es für ihn keinen Zweifel mehr und Noah wusste, worauf diese Geschichte hinauslief: Die falsche Berechnung ist zu einer richtigen Betrachtung des Heldenspruchs geworden. Er dachte noch: Auf die Spartaner bezogen müssten die weiteren Buchstaben auch noch verschwinden. Aber dann verstand der Leser ja nichts mehr. Vielleicht konnte man ein Video drehen – und die Buchstaben dann langsam rückwärts verschwinden lassen.

Aber Noah schrieb lieber Texte – und je länger er über diese Geschichte nachdachte, desto mehr meinte er einen Fehler zu entdecken.

In der nächsten Stunde die übliche Verzögerung: Es ging noch um Fragen zur Klausur – und so kam Herr R. erst gegen Ende der Stunde dazu nach der Hausaufgabe zu fragen. Noah nutzte gleich die sich anbahnende Pause und erklärte: „Also ich habe da ein Problem.“

Erste Reaktion – einige in der Klasse schienen erkennbar aufzuwachen. Sie kannten ihn und seine Lust auf Unterhaltung.

Herr R. reagierte leicht genervt, schließlich war sein Stundenprogramm in Gefahr: „Und wo ist dein Problem?“

„Die Geschichte ist falsch erzählt.“

Damit war der Hammer raus. Alle in der Klasse warteten gespannt, was jetzt kommen würde.

Während der Lehrer noch mit der zunehmenden Rötung seiner Gesichtsfarbe kämpfte, meinte Noah nur: „Die Geschichte ist falsch herum erzählt: Erst muss der Soldat nach der Operation sich langsam auf seine Situation einstellen. Die damit verbundene Erkenntnis kann man wunderbar ausgestalten : In Richtung: Ich bin dabei, einer der drei fehlenden Buchstaben bei diesem Heldenspruch zu werden.
Und während er wieder durchs Treppenhaus getragen wird, machen ihm die Heldenbilder und -kunstwerke klar, wie man sie alle in diese todbringende Situation hineingebildet hat.Man merkte deutlich, wie es in Herrn R. arbeitete – allerdings war er auch bereit, kleine Genieleistungen seiner Schüler anzuerkennen – und dieser Neologismus „hineinbilden“ – der hatte wirklich was.

Aber Noah hatte in einem seiner typischen Kreativitätsrauschzustände, sie hatten das auf KRZ-Syndrom verkürzt, noch einen draufzusetzen:

„Und wenn der Soldat in seinem ziemlich aussichtslosen Zustand wieder zum Auto getragen wird, passt auch das Heldendenkmal – denn jetzt hat er endgültig einen Grund, sich schon mal dort in die Gedenkliste einzuschreiben.“

In der Klasse herrschte Schweigen – Noah fühlte, dass die anderen im Klassenraum beeindruckt waren – aber das war ihm nicht wichtig. Wichtiger war, dass sie seine Bemerkung nicht als zynisch verstanden hatten.

An dieser Stelle zeigte Herr R. Größe: Zu Noah gewandt: „Schade, dass es die Gruppe 47 nicht mehr gibt.“

Und als einer frage, was das sei, zeigte er seine Reaktionsschnelligkeit: „Das ist eure Hausaufgabe zur nächsten Stunde.“

Das wiederum führte zur normalen Reaktion einer normalen Klasse: Noah wurde nicht mehr ganz so bewundernd angeblickt, eher ein bisschen verbittert, dass die Sache solch eine Wendung genommen hatte. Aber so war eben Schule. Es heißt ja auch in einem anderen Heldenspruch: „Nach dem Sieg binde den Helm fester.“

Aber Noah war jetzt in Fahrt: Laut sagte er: Leute, ich habe das angerichtet, ich klär das auch. Entspannt euch.
Das taten die anderen denn auch.

Vorstufe zu dieser Geschichte:

Kritisch-kreative Anmerkungen zu Heinrich Böll, „Wanderer kommst du nach Spa …“
https://textaussage.de/schnell-durchblicken-heinrich-boell-wanderer-kommst-du-nach-spa

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