Anders Tivag, Wer schreibt, der bleibt (vielleicht) oder: Wie man seine Ehe auch retten kann ;-)

Worum es hier geht:

Präsentiert wird eine Kurzgeschichte, in der es um einen ungewöhnlichen Seitensprung geht – ungewöhnlich ist auch das Happy End.

Weiter unten gibt es auch eine Druckfassung.

Inzwischen haben wir diese Kurzgeschichte auch in einem Video vorgestellt.

Videolink

Dazu die Dokumentation:

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Einfach nur anhören kann man sich die Geschichte hier:
https://textaussage.de/schreiben

Anders Tivag,

Wer schreibt, der bleibt (vielleicht)

Er bekam die Sache einfach nicht aus dem Kopf. Nein, nicht die Sache. Es ging um eine Geschichte. Noch genauer: Er hatte sich vor einiger Zeit mit seiner Frau einen Film angeschaut, an dessen Titel er sich nicht mehr erinnern konnte.

Was ihm aber im Gedächtnis geblieben war, das war der unglaubliche Schluss der Geschichte.

Es war ein Liebesfilm gewesen. Natürlich musste es da auch Probleme geben. Die begannen damit, dass der Mann, nennen wir ihn Bernd, aus einer führenden Position in einer Firma in Rente ging. Er wollte eigentlich mit seiner Frau, nennen wir sie Elisabeth, eine Weltreise machen, aber sie bekam jetzt gerade in ihrer Firma eine attraktive neue Aufgabe und wollte mit dem Ruhestand doch noch ein bisschen warten.

Das war natürlich erst mal eine Enttäuschung, aber er hatte ja sowieso vor, jetzt erst mal einen großen Roman zu schreiben. Zwar hatte er noch nie in seinem Leben etwas anderes geschrieben als Berichte und Beratungsvorschläge für Vorstandssitzungen.

Dafür hatte er aber auf vielen Reisen und vielen Firmenbesuchen viel erlebt. Da würde sich schon gut was schreiben lassen – und auch für andere Leute interessant sein. Er musste nur aufpassen, keinen Schlüsselroman zu schreiben. Denn wenn seine ehemaligen Kollegen und Geschäftsfreunde sich im Roman wiedererkannten – o Gott, bloß nicht.

Am ersten Tag des Ruhestands saß er dann – nachdem seine Frau das Haus verlassen hatte, erwartungsfroh an seinem Laptop. Und dort saß er dann auch noch eine Stunde später – nur nicht mehr erwartungsfroh, denn es lief eben nicht. Er fragte sich: Wie fing man einen Roman an – er brauchte dringend einen ersten Satz.

Drei Tage lang ging er seiner Frau mit diesem Problem auf die Nerven: „Ich brauche einen ersten Satz. Man muss doch irgendwie anfangen. Dann läuft das bestimmt wie von selbst.“

Aber es lief einfach nicht und schon gar nicht von selbst. Also verließ er am nächsten Tag frustriert das Haus und hoffte, dass ihm beim Spazierengehen etwas einfallen würde. Es fiel ihm auch was ein. Leider kein erster Satz, aber das Café, das er gerne aufsuchte, um im Kopf Klarheit zu bekommen.

Dort war nicht viel los und so kam, was kommen musste. Die junge Kellnerin, die wohl neu war, hatte Zeit, sie kamen ins Gespräch, und fanden sich gegenseitig interessant.

Das war’s erst mal. Er suchte schließlich keine neue Frau, sondern einen ersten Satz für seinen Roman

Zuhause saß er wieder vor dem leeren Bildschirm – also nichts wie raus. Vielleicht würde ja wieder irgendwas passieren, was ihn zumindest aufmunterte. So war es auch – wieder die Kellnerin, aber diesmal beim Joggen im Park. Sie hielt an – und während sie auf der Stelle trippelte, um sich nicht zu erkälten, konnte sie ihm zumindest sagen, wann sie wieder im Cafè war. Das besuchte er in den nächsten Tagen häufiger. Er wusste auch bald, wann die Zeit am günstigsten war, um sich in Ruhe unterhalten zu können. Auch die junge Frau hatte einiges zu erzählen und interessierte sich sogar für das, was er erlebt hatte.

Dann die Überraschung. Als er wieder vor seinem Laptop saß, kam der erste Satz wie von selbst: Er lautete einfach: „ Vielleicht hätte er schon früher sein altes Café mal wieder aufsuchen sollen.“

Das verlangte natürlich nach Begründungen, und schon ging es los. Nach kurzer Zeit hatte er zwei Seiten voll geschrieben. Einfach so runtergeschrieben. Ihm kam das alte Sprichwort in den Sinn: Wenn das Herz voll ist, fließt der Mund über – und in seinem Falle eben der Bildschirm. Er fand die Formulierung etwas gewagt, aber sie zeigte eben, dass er originelle Schreibideen hatte.

Das Problem war nur: Die Geschichte musste weitergehen, und sie ging nur weiter, wenn er sich weiter inspirieren ließ, also wieder zu der jungen Frau ins Café. Die hatte sich anscheinend auch schon an diesen älteren Mann gewöhnt, der sich immer wieder sehen ließ und mit dem man gut reden konnte.

Das war besonders nötig, als ihr Freund sie unter ziemlich hässlichen Umständen verließ. Jetzt brauchte sie Trost, und den bekam sie auch. So kam man sich noch näher.

Als Bernds Frau ihm ankündigte, sie wolle mit ihrer besten Freundin einen Wochenendtrip machen, sah er sofort seine Chance.

Er konnte gut kochen. Ein guter Grund, mit seiner neuen Freundin, das war sie schon irgendwie, einen schönen Abend zu verbringen. Kaum war Elisabeth mit dem Taxi abgefahren, saß er schon wieder an seinem Laptop und schrieb und schrieb und schrieb. Schließlich war er in der Gegenwart angekommen:
„Er würde gleich losfahren und sehen, wie seine Kochkünste ankommen würden.“

Als er auf die Uhr schaute, war es schon kurz vor acht – und für 20:00 Uhr hatten sie sich bei Jenny, so hieß die junge Frau, verabredet. Er stürzte aus dem Haus und während er auf dem Weg zu ihr war, klingelte sein Smartphone. Aber er hörte es nicht, es lag nämlich einsam und verlassen neben seinem Laptop. Genauer gesagt zwischen dem Laptop und den inzwischen geschriebenen und ausgedruckten Seiten seines Romans. Die hatte er bisher immer in einer Schublade seines Schreibtisches versteckt und sicherheitshalber noch einen alten Geschäftsbericht drübergelegt. In der Hektik hatte er einiges vergessen.

Wie das Schicksal so spielt – seine Frau hatte abends plötzlich gemerkt, dass sie ihr Handy vergessen hatte. Also war sie noch einmal zurückgekehrt und wunderte sich, dass ihr Mann gar nicht da war. Vielleicht war er joggen. Dann klingelte ein Smartphone, es war nicht ihrs. Auf dem kleinen Bildschirm erschien eine Sprachnachricht:
„Bernd, wo bleibst du denn, du wolltest doch für mich kochen. Das wird aber jetzt spät. Gruß Jenny.“

Sie war wie vor den Kopf geschlagen: Dann sah sie die ausgedruckten Seiten neben dem Telefon ihres Mannes – ganz ohne Abdeckung durch einen Geschäftsbericht. Sie nahm das erste Blatt neugierig in die Hand und fing an zu lesen. Als ihre Freundin anrief und sie fragte, wo sie bleibe, sagte sie nur: „Du, hier ist was passiert. Ich melde mich später.“

Dann las sie die Geschichte der Begegnung eines älteren Mannes mit einer jungen Frau in einem Café und und eine Abfolge erster Erlebnisse, die offensichtlich belebend war. Denn es klang richtig begeistert, was sie da las. Sie fragte sich, was ihr Mann vielleicht alles ausgelassen hatte in seinem Roman.

Schließlich packte sie ein paar Sachen und fuhr zu ihrer Freundin, die zu Hause geblieben war, weil sie gemerkt hatte, dass es jetzt spannend wurde – und für Elisabeth war sie immer zu sprechen.

Die war auch froh, dass sie jemanden zum Reden hatte.

Bernd hatte inzwischen bei seiner Muse schön gekocht. Sie hatten auch schön gegessen und dann stand die Frage im Raum. Was machen wir jetzt? Als Jenny sich ihm zärtlich näherte, dauerte es nicht mehr lange, bis die Natur ihren Lauf nahm.

Am nächsten Morgen wachte Bernd früh auf, dachte nach, nahm sein Notizbuch,setzte sich in die Küche  und schrieb dort das auf, was ihm klar geworden war. Er wollte keine Affäre, er liebte seine Frau. Jenny war er nur dankbar, dass sie ihm geholfen hatte, seine Schreibblockade zu überwinden. Sie hatte auch verstanden und akzeptiert, dass er nicht mehr wollte als miteinander reden. Vielleicht konnten sie so Freunde bleiben.

Schon, waren wieder zwei Seiten gefüllt, diesmal in Handschrift. Machte nichts – beim Abtippen wurden die Texte häufig noch besser. Er verfasste noch einen kurzen Abschiedsbrief und verließ dann die fremde Wohnung, um zu Hause ein bisschen aufzuräumen und mit seiner Frau ein neues Leben zu beginnen.

Als er dann im Flur seiner Frau mit verweintem Gesicht begegnete, fragte er: „Elisabeth, was ist passiert?“ Aber die wies nur in Richtung Arbeitszimmer. Dort sah er die Reste seines Smartphones auf der Tastatur liegen. Anscheinend war es gegen den Bildschirm geschleudert worden. Die ausgedruckten Seiten seines Romans waren wild im Raum verteilt. Er schaute seine Frau fassungslos an – dann begann es langsam in ihm zu dämmern. Er hatte jetzt andere Probleme als die Suche nach einem ersten Satz.

Der Rest lief dann, wie man es in Liebesfilmen kennt. Erst Fragen, dann Vorwürfe, schließlich Unterstellungen und am Ende absolute Verständnislosigkeit und der abschließende Hinweis: „Du verlässt gleich das Haus oder ich ziehe aus.“

Natürlich versuchte er, ihr alles zu erklären. Es sei gar nichts passiert, er habe nur seine Schreibblockade überwunden. Seine Frau wies stumm auf die herumliegenden Seiten: „Braucht man dazu eine Affäre? Wie weit seid ihr gegangen?“

Schon wollte er – wie in solchen Fällen üblich – mit Beteuerungen beginnen. Da kam ihm der rettende Einfall: Er verwies jetzt auch auf die herumliegenden Seiten, zog sein Notizbuch aus der Tasche und gab es Elisabeth mit den Worten: „Du kennst den Schluss nicht, den habe ich heute Morgen erst geschrieben.“

Zum Ausdrucken

Druckfassung der Kurzgeschichte:
Mat5525 Anders Tivag, Wer schreibt, der bleibt (vielleicht)

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