Carl Zuckmayer, „Elegie von Abschied und Wiederkehr“ – Wie man ein Gedicht mit eigenen Vorstellungen noch besser versteht (Mat5651)

Worum es hier geht:

Je mehr Gedichte man interpretiert, desto mehr Wege entdeckt man, sich ihnen zu nähern. Das Verständnis dessen, was da gesagt wird, vertieft sich dabei enorm. Zugleich ist das eine gute Möglichkeit, seine eigenen Ideen mit anderen abzugleichen. Auf diese Art und Weise ist sichergestellt, dass man nicht vom Gedicht in eigene Vorstellungen abhebt. Vielleicht nutzt man diese, um die Andeutungen des Gedichtes noch besser zu verstehen.

Das Gedicht, um das es hier geht, ist zum Beispiel hier zu finden:
https://www.deutschelyrik.de/elegie-von-abschied-und-wiederkehr.html

Auf Urheberschutzgründen können wir das Gedicht nicht einfach komplett präsentieren. Am besten legt man es sich daneben, nummeriert die Zeilen durch – und kommt mit uns zusammen hoffentlich zu einem optimalen Verständnis.

Überschrift: Anmerkungen und Einfälle

In der Überschrift wird zunächst das Thema genannt: Es geht um das Verhältnis von Abschied und Wiederkehr.

Als Leser denkt man dabei wahrscheinlich gleich an zwei Dinge:

Was findet man mehr oder weniger verändert vor bei der Rückkehr?

Und

Was bringt man mit?

Dann ist von einer „Elegie“ die Rede. Dabei handelt es sich um ein Gedicht, das eine Kombination von Klage und Wehmut präsentiert.

Hier wird also schon deutlich, dass die Vermutung, die man bei den beiden gegensätzlichen Richtungen hatte, sich in die Richtung des Verlustes verlagert.

Strophe 1: Anmerkungen und Einfälle

Abschnitt 1

1 Ich weiß …

2 Und es wird …

  • Das Gedicht beginnt mit einem halben Widerspruch.
    • Das lyrische Ich ist sich sicher, alles wieder zu sehen.
    • In der zweiten Zeile erfolgt dann aber eine Präzisierung, die man auch als Korrektur oder Einschränkung verstehen kann.
    • Denn die Verwandlung kann ja durchaus auch zu einer substanziellen Veränderung führen. Das würde bedeuten, dass es kein 100-prozentiges Wiedersehen ist, sondern eben ein reduziertes.
    • Man merkt hier, wie sehr es sich lohnt, beim Wortlaut in einem Gedicht genau hinzuschauen und sich auch eigene Gedanken zu machen.
    • Man muss nur darauf achten, dass man dabei nicht in eigene Vorstellungswelten abdriftet, sondern im Rahmen des Gedichtes und seiner Andeutungen bleibt.

Abschnitt 2

3 ich werde …

4 darin kein Stein …

5 und selbst noch …

6 sind es nicht mehr …

  • Im nächsten Abschnitt stellt sich heraus, dass man mit diesen Überlegungen als Leser auf der richtigen Linie war. Denn jetzt kommen erhebliche Einschränkungen.
    • Städte, die doch eigentlich für vorheriges Leben stehen, sind erloschen.
    • Und aus früheren vertrauten Gassen ist eine Ansammlung von Steinresten geworden.
  • Man hat den Eindruck als Leser, dass das lyrische Ich einen scheinbar sehr positiven Anfang anschließend immer mehr infragestellt.
  • Gespannt ist man, worauf sich diese Feststellungen und die anschließenden Einschränkungen beziehen.
  • Es verstärkt sich der Eindruck, dass es sich lohnt, sich bei diesem Gedicht lenken zu lassen – aber nur im Hinblick auf die Einbeziehung eigener Erfahrungen, um das Gedicht besser zu verstehen.
  • Wenn man mit anderen zusammen an einem solchen Gedicht sitzt, ergibt sich eine entsprechende Kontrolle praktisch von selbst. Denn man muss ja seine eigenen Ideen auch mit denen der anderen möglichst in Übereinstimmung bringen.
  • Bei einer schriftlichen Analyse-Arbeit muss man ja auch die Lehrkraft überzeugen.
Anmerkungen zu Strophe 2

Abschnitt 1

9 Der breite Strom …

10 Auch wird der Wind …

11 die unberührt …

12 die stumme Totenwacht …

  • Zu Beginn der zweiten Strophe werden die kritischen Erinnerungen konkreter.
  • Es ist von einem breiten Strom die Rede halten, also wohl einem Fluss, an dem man früher gewohnt hat.
  • Der Hinweis auf den Abend kann eine Himmelsrichtung sein oder einfach nur der Zeitpunkt, den man besonders in Erinnerung hat.
  • „Abend“ kann aber auch schon ein Vorausdeutung auf das Ende eines Tages sein, worauf die Nacht folgt.
  • Die nächsten Zeilen sind vor allem wichtig, weil sie zum ersten Mal klar benennen, welche Atmosphäre sich im Gedicht zunehmend durchsetzt:
  • Das Wort „Totenwacht“ besteht nämlich aus zwei Elementen.
    • Zum einen geht es um Tote und damit das Ende des Lebens?
    • Die „Wacht“ wiederum macht in dem Zusammenhang deutlich, dass man hier versucht, noch etwas zu bewahren, das lebendig nicht mehr existiert.
  • Auch hier könnte man sich überlegen, inwieweit man sich das mal an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen.
    • Bleiben wir bei dem Beispiel, dass wir eben schon benutzt haben.
    • Da kommt also jetzt der junge Mann oder die junge Frau wieder zurück, entdeckt, dass der romantische Dachboden so nicht mehr vorhanden ist. Alles wirkt vor dem Hintergrund der Erinnerung, starr, ja sogar tot
    • Und dann sieht man möglicherweise ein Bild noch an der Wand, das man hat hängen lassen und dass die ganzen alten Erinnerungen jetzt wieder belebt. Da kann man schon mal einige Zeit davor verweilen, auch wenn man weiß, dass der Ort in der alten Form jetzt tot ist.

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Abschnitt 2

Ein Schatten …

und tiefste Nacht …

  • Das lyrische fühlt etwas neben sich, der Schatten dürfte die tote Vergangenheit sein.
  • Interessant ist, dass man davon begleitet wird. Das ist ein schönes Bild für das Fortwirken der Erinnerung, wenn auch mit Verlustgefühlen.
  • Deren Schwere wird durch „tiefste Nacht“ ausgedrückt. Interessant auch, dass die Nacht um die die „Schläfen“ weht. Man kann die damit verbundene Kühle und Unannehmlichkeit so gut nachempfinden.

Abschnitt 3

Dann mag erschauernd …

der lebend schon …

  • Die letzten Zeilen setzen diese Überlegung dann auf recht dramatische Weise fort.
  • In der Distanz der Verallgemeinerung wird das eigene Weiterleben durchaus als mit der Idee eines „Morgen“ verbunden – aber aus einer Gefühlssituation des Schauderns heraus.
  • Das wird dann konkretisiert oder weiter gedeutet, indem es mit dem Bild des eigenen Grabes verbunden wird, das man „lebend“ schon gesehen hat.
  • Man merkt hier, wie sehr es dem Gedicht gelingt, eigene Gefühle hervorzurufen.
  • Wie man die Situation am Ende einschätzt, bleibt dem Leser überlassen.
  • Entscheidend ist, dass man in ein „Morgen“ hinein reitet, also in einen neuen Tag. Das sieht nach Zukunft aus. Ob und wie sehr man die Verlustvergangenheit hinter sich lassen kann, hängt von dem jeweiligen Menschen ab.

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Auswertung Strophe 3

Ich weiß, ich werde zögernd …
wenn kein Verlangen mehr  …

  • Zu Beginn der dritten Strophe geht das lyrische Ich dann auf die Konsequenzen ein, die sich aus dem Vorangegangen ergeben.
  • Er bleibt bei der Absicht, wiederzukehren zurückzukehren, wenn auch nur zögernd
  • Interessant ist dann die Bedingung, die aufgeführt wird.
    Voraussetzung für eine solche Rückkehr kann anscheinend nur sein, wenn dahinter kein Verlangen mehr steht.
  • Das wird hier zunächst nicht weiter ausgeführt

Entseelt ist unsres Herzens …
und was wir brennend suchten …

  • In den nächsten Zeilen wird es dann erklärt damit, dass die Heimat als Sehnsucht des Herzens ihre Seele verloren habe, also ihre innere Bedeutung.
  • Das wiederum hängt damit zusammen, dass das, was man eben so intensiv gesucht hat, tot ist.

Leid wird zu Flammen …
und nur ein kühler Flug …
Bis die Erinnrung …
ihr ewig Zeichen …

  • Das wird noch mal im Bild von Flammen erläutert, die sich – wie jedes Feuer – letztlich selbst verzehren.
  • Am Ende ist nur noch Asche da.
  • Erst die letzten beiden Zeilen hellen das Bild zumindest ein wenig auf.
    Das lyrische Ich bezieht sich dabei auf die Erinnerung, die über allem Leid und allen Enttäuschungen doch etwas Bleibendes bedeutet.
Zusammenfassung:
  • An dieser Stelle könnte zum Beispiel Kritik ansetzen.
    • Was das lyrische Ich hier nicht berücksichtigt, ist der Menschen stark bestimmende Faktor Zeit.
    • Zeit wiederum ist mit Gewöhnung und etwas verbunden, was man in der Musik Fading nennt – also langsames Leiserwerden, man könnte auch sagen: verblassen.
  • Dazu kommt das natürliche Bedürfnis des Körpers, Schmerz auf natürliche Art und Weise zurückzudrängen.
  • Das ändert nichts daran, dass dieses Gedicht auf beeindruckende Weise Gefühle und Gedanken zeigt, die einem Menschen in dieser Situation kommen können.
Hinweis / Anregung

Dieses Gedicht kann man gut vergleichen mit dem Emigranten-Monolog von Sascha Maléko
https://textaussage.de/schnell-durchblicken-mascha-kaleko-emigranten-monolog

Hier ein paar Vorab-Überlegungen dazu:

  • Hier kann man zunächst auf die Haltung eingehen, die Mascha Kaléko in ihrem Gedicht von vornherein einnimmt.
  • Man könnte sie als Ergebnis einer gewissen Verarbeitung ansehen. Und die geht in die Richtung, dass man den Verlust zum einen mit dem Schicksal eines Schriftstellers aus früheren Zeiten vergleicht.
  • Außerdem wird alles, was gesagt wird, in das Licht einer gewissen Ironie gestellt. Die bedeutet aber auch, dass das nicht die ganze reale Wahrheit ist, sondern einfach der Versuch, mehr oder weniger locker über Schweres hinwegzugehen.
  • Im Unterschied zu dem Gedicht von Zuckmayer wird hier deutlicher angesprochen, was zur Vernichtung der Heimat geführt hat.
  • Ein weiterer Unterschied ist der, dass das lyrische Ich bei Zuckmayer sich in eine ewige Erinnerung meint flüchten zu können. Bei Mascha Maléko ist sogar das Ziel der Sehnsucht nach Heimat nicht mehr konkret klar.
  • Man könnte zusammenfassend sagen, dass beide Positionen möglich sind.
    • Sie hängen von der konkreten Situation und der persönlichen Befindlichkeit ab.
    • Jemand, der nur sein altes Haus nicht wieder findet, hat wahrscheinlich andere Gefühle, als jemand, der den Verlust von lieben Menschen beklagt.

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