Dürrenmatts Essay „Theaterprobleme“ – kritische Stellungnahme mit Blick auf „Die Physiker“ (Mat4535)

Dürrenmatts Essay „Theaterprobleme“ – kritische Stellungnahme mit Blick auf „Die Physiker“

  • Wir beziehen uns im Folgenden auf zentrale Auszüge aus der Schrift von Dürrenmatt, in der er seine Vorstellung von den Möglichkeiten des Theaters i im Bereich von Politik und Gesellschaft beschreibt – was besonders im Hinblick auf „Die Physiker“ interessant ist.
  • Zu finden sind die Auszüge zum Beispiel in Markus Apel, EinFach Deutsch. Unterrichtsmodell. Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker, Paderborn 2015, S. 116/117
  • Dort werden nur Querbezüge zwischen den theoretischen Ausführungen und der praktischen Umsetzung im Drama präsentiert. Was fehlt, ist eine kritische Auseinandersetzung zunächst mit der Theorie und dann mit der Praxis auf der Basis der Theorie. Das versuchen wir hier zu leisten.
  • Dabei argumentieren wir hier nicht von der Höhe der germanistischen Fachwissenschaft aus, vielmehr betrachten wir Dürrenmatts Ausführungen als ganz normale Leser, die einfach einiges in Frage stellen, damit es diskutiert wird. Auch Dichter können irren, wenn sie den Bereich ihres Werkes verlassen – aber sie können natürlich auch rechthaben, das muss sich aber in der kritischen Auseinandersetzung erweisen.

Die Grundgedanken Dürrenmatts

  •  Zu Beginn sieht Dürrenmatt „in der Entwicklung des tragischen Helden eine Hinwendung zur Komödie„:
    Damit ist gemeint, dass die Tragödie nicht mehr die richtige Gattung für das Tragische ist und dass es letztlich auch keinen „tragischen Helden“ im Sinne der griechischen Tragödie oder auch noch der zur Zeit Schillers gibt.
  • Konsequenterweise wendet sich dann Dürrenmatt der Welt Schillers zu. Typisch für sie war nach Meinung Dürrenmatts, dass man die Welt noch auf der Bühne präsentieren konnte.
  • In Dürrenmatts und wohl auch unserer Gegenwart dagegen gebe es „keine tragischen Helden“ mehr, sondern nur noch Tragödien, „die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden.“ Konkret erwähnt werden dann Hitler und Stalin:
    „Ihre Macht ist so riesenhaft, daß sie selber nur noch zufällige, äußere Ausdrucksformen dieser Macht sind, beliebig zu ersetzen, und das Unglück, das man besonders mit dem ersten und ziemlich mit dem zweiten verbindet, ist zu weit verzweigt, zu verworren, zu grausam, zu mechanisch geworden und oft einfach auch allzu sinnlos.
  • Hier haben wir den typischen Fall eines Schriftstellers, der im Bereich einer anderen Wissenschaft, in diesem Fall der Geschichtswissenschaft, einfach mal Urteile fällt, die man zumindest relativieren kann. Dichter haben einfach keine besondere Kompetenz – außer im Bereich ihres Schreibens:
    • Richtig ist, dass sowohl Hitlers als auch Stalins Macht „riesenhaft“ war.
    • Dass beide „nur noch zufällige, äußere Ausdrucksformen dieser Macht waren“, ist äußerst zweifelhaft.
    • Wäre Hitler vor 1939 einem Attentat zum Opfer gefallen, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass einer seiner Paladine auch nur ansatzweise die diabolischen Fähigkeiten dieses Mannes und sein leider verführerisches Charisma hätte einsetzen können.
    • Ähnliches dürfte für Stalin gelten.
    • Es gibt nun mal leider in der Geschichte Ausnahmemenschen, die ihrer Lebenszeit einen gewissen Stempel aufdrücken können, ohne letztlich auf Dauer den Gang der Geschichte zu bestimmen, wie man am besten am Beispiel Stalins zeigen kann, der am Ende Opfer seiner eigenen Brutalität wurde.
    • Was Hitler angeht, so hatte die Welt das Glück, das er in Churchill auf ein anderes (positives) Genie stieß, dem es gelang, Großbritannien nach der Niederlage Frankreichs zum Durchhalten zu bewegen, bis es einem weiteren Genie, nämlich Roosevelt gelang, die kriegsunwilligen Amerikaner doch in den Krieg gegen Hitler zu führen.
    • Dürrenmatt hat natürlich Recht, wenn er das Unglück von Millionen von Menschen, das Hitler und Stalin herbeigeführt haben, als über menschliches Vorstellungsvermögen hinausgehend ansieht. Aber insgesamt kann man Hitler wie Stalin aus den historischen Voraussetzungen heraus erklären, wenn es auch wie in jedem anderen Fall menschliche Alternativen gegeben hätte. Das zeigt sich beim Tod eines jeden Diktators, der noch länger hätte leben können.
    • Und natürlich kann man Stauffenberg angesichts des nur knapp misslungenen Attentats vom Juli 1944 als „tragischen Helden“ betrachten – gerade auch im Hinblick auf seine politischen Grundvorstellungen, die kaum in die Zeit nach 1945 gepasst hätten.
    • Langer Rede kurzer Sinn: Was Dürrenmatt hier über die Wirklichkeit schreibt, ist nicht alternativlos, sondern kann und muss diskutiert werden. Wenn er selbst glaubt, so ein Drama nicht mehr schreiben zu können, wieso kann er im gleichen Atemzug behaupten, kein anderer Schriftsteller könnte es?
  • Im Folgenden sieht Dürrenmatt dann einen Unterschied zwischen der Macht zur Zeit Wallensteins (aus der Sicht Schillers) und der Macht in seiner/unserer Zeit: „Der heutige Staat ist jedoch unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden“.
    • Hier hätte Dürrenmatt besser einen anderen Akzent gesetzt: Das Problem des Jahres 1961/1962 war nicht die Unüberschaubarkeit des Staates (dieser erschien in Deutschland und in der Schweiz noch ziemlich geordnet und funktionierte nach klaren Regeln), sondern Probleme der Massengesellschaft, die schon 1914 eine eigentlich erstaunlich zivilisierte Welt Europas in einen mörderischen Massenkrieg trieb.
    • Für das 21. Jahrhundert gilt Dürrenmatts These schon eher, denn heute haben die Staaten erstmals die Möglichkeit, auf völlig neue Art und Weise der Volksmassen ganz neue Beeinflussungsmöglichkeiten entgegensetzen zu können.
      Wer sich darüber informieren möchte, findet hier einen guten Einstieg:
      https://www.tagesschau.de/ausland/ueberwachung-china-101.html
  • Konsequenz für Dürrenmatt: „Mit einem kleinen Schieber [Betrüger], mit einem Kanzlisten, mit einem Polizisten läßt sich die heutige Welt besser wiedergeben als mit einem Bundesrat, als mit einem Bundeskanzler.
    • Das ist natürlich schön gesagt, aber in der Tendenz natürlich Unsinn – einfach, weil dem kleinen Mann all die Informationen und Ratschläge fehlen, die dem Vertreter des Staates zumindest grundsätzlich zur Verfügung stehen.
    • Wieso sollen Fachleute der Politik nicht zumindest mehr wissen als die Nicht-Fachleute. Natürlich kann man das für Politiker einschränken, weil die zu sehr in ihren Werbe-Wiederwahl-Zwängen stecken – aber dann sollte die These vom Informations- und Verständnisvorzug wenigstens für die Politikwissenschaftler gelten, zumindest im Idealfall.
  • Dann wendet sich Dürrenmatt dem Bereich des Theaters zu, spricht davon, es habe die Aufgabe, „Konkretes zu schaffen“ – das vermöge vor allem die Komödie, weil sie im Unterschied zur Tragödie keine „gestaltete Welt“ voraussetze. Das sind alles Festlegungen, die nur im Rahmen eines sehr persönlichen Denkens gelten, man kann es auch anders sehen.
  • Dann wird Dürrenmatt noch extremer, spricht sogar vom „Kehraus der weißen Rasse“, von der „Wurstelei unseres Jahrhunderts“, es gebe „keine Schuldigen“ mehr und „auch keine Verantwortung“. Wenn man überlegt, dass Dürrenmatt hier das 20. Jahrhundert meinen muss und da keine „Schuldigen“ mehr sieht – dann kann man nur den Kopf schütteln. Die Richter des Nürnberger Prozesses waren nach den Angriffskriegen Hitlers und seines Menschheitsverbrechens in den Konzentrationslagern deutlich anderer Meinung, was bis heute nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird.
  • Interessant, was Dürrenmatt zur Atombombe sagt: Plötzlich spricht er von seiner und sicher auch unserer Welt, „die nur noch ist, weil die Atombombe existiert: aus Furcht vor ihr.“ Damit spielt er völlig zu Recht auf die Idee und Praxis der atomaren Abschreckung an, die zwischen den USA und der UdSSR ja glücklicherweise tatsächlich funktioniert hat. Plötzlich ist Dürrenmatt ein Verteidiger der Atombombe? Oder ist ihm das nur so rausgerutscht und wollte er eigentlich sagen: „So schlimm ist unsere Welt, dass man die Atombombe braucht, um zu überleben“?
    Man kann nur immer wieder feststellen: Dürrenmatt ist ein wunderbarer Dramatiker, aber kein systematischer Denker und Formulierer – zumindest nicht in diesem Text.
  • Dann geht es um die Frage der Reaktion auf die schlimme Wirklichkeit: „Verzweiflung“ sieht er nur als eine Antwort, eine andere „wäre das Nichtverzweifeln, der Entschluß etwa, die Welt zu bestehen“. Das ist natürlich eine schöne poetische Formulierung, in der Form aber ohne jede Konkretheit. Auf jeden Fall ist es für Dürrenmatt möglich, „den mutigen Menschen zu zeigen“, der gewillt ist, „zu kämpfen“.
  • Dann aber macht er deutlich, dass dies vor allem in der eigenen Brust geschieht: „Die Welt […] steht für mich als ein Ungeheuer da, als ein Rätsel an Unheil, das hingenommen werden muß, vor dem es jedoch kein Kapitulieren geben darf.“
    Was, lieber Dürrenmatt, ist der Unterschied zwischen „hinnehmen“ und „kapitulieren“.
  • Am Ende geht er dann auf die Möglichkeiten der Komödie ein: „Der Einfall verwandelt die Menge der Theaterbesucher besonders leicht in eine Masse, die nun angegriffen , verführt, überlistet werden kann, sich Dinge anzuhören, die sie sich sonste nicht so leicht anhören würde.“ Das erinnert sehr an die Parabel.
  • Am Ende dann ist es das Lachen, in dem sich die „Freiheit des Menschen“ „manifestiert“. Dürrenmatt glaubt, dass die Tyrannen der Welt „nur eines fürchten“ den „Spott“ der Dichter.

Wer noch mehr möchte … 

 

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