Ein Song als Gedicht – Bettina Wegner, „Über Gebote“ (Mat1214)

Worum es hier geht:

Gedichte sind in der Schule leider nichts, worüber sich die meisten Schüler gleich freuen.

Dabei gehen sie ansonsten ganz selbstverständlich mit solchen Texten um – die haben dann nur andere Namen, zum Beispiel „Song“.

Wir zeigen im Folgenden mal an einem Beispiel, wie man mit Hilfe eines schönen Songs seine Lyrik-Phobie zumindest kurz vergessen kann 😉

Den Song haben wir zum Beispiel hier gefunden – und wir gehen davon aus, dass er dort auf rechtmäßige Weise untergebracht worden ist und die Autorin bzw. Sängerin sich über jede weitere „Werbung“ für ihre Texte freut.

https://www.golyr.de/bettina-wegner/songtext-ueber-gebote-7646.html

Es handelt sich ganz eindeutig um ein Gedicht (wir gehen hier vom Text aus), denn es gibt 12 zweizeilige Strophen, dazu Reime und auch einen ziemlich einheitlichen Rhythmus.

  1. Das Gedicht beginnt mit der Anerkennung der Notwendigkeit von Geboten, die zweite Zeile ist dann aber etwas rätselhaft, was das „übergeben“ angeht. Die Vermutung kann einem hier kommen, dass Menschen lieber Gebote für andere machen als für sich selbst.
  2. Die zweite Strophe geht dann auf die Tradition und die Vererbung ein, auch hier wieder etwas Rätselhaftes, wenn Gebote mit leichterem Sterben verbunden werden. Vielleicht ist damit gemeint, dass man ja gewissermaßen etwas von sich selbst weiterleben lässt, eben die Gebote, die man gegeben hat.
  3. Die dritte Strophe greift dann ein Gebot heraus, nämlich das Lügen.
  4. und stellt es dann zusammen mit der gesamten Gebotspraxis vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung in Frage.
  5. Die fünfte Strophe spielt dann auf das Missverhältnis von Wasser predigen und Wein trinken an – als Bild für die beiden Leben der Gebote-Verkünder. Das Lyrische Ich geht sogar so weit zu behaupten, Gebote würden nur gemacht, um sie zu umgehen. Gemeint ist wohl, dass die Mächtigen sich einen Vorteil verschaffen, wenn gewissermaßen die Dummen die Gebote befolgen, sie selbst aber nicht.
  6.  Ab Strophe 6, also der zweiten Hälfte des wunderbar komponierten Textes, zeigt das Lyrische Ich, dass es nach der Erkenntnis nicht mehr zu den Dummen gehören will. Es macht sich selbst eigenen Gesetze – und zwar als „die letzten Waffen“. Offensichtlich fühlt es sich in einer Art Krieg und braucht etwas zu seiner Verteidigung, erstaunlicherweise: Gebote.
  7. Ab Strophe 7 werden dann Bilder selbstbewusst-widerständigen Lebens entworfen. Es beginnt mit dem aufrechten Stehen, bei dem man sich auch zeigt und aktiv sein kann. Das wird verbunden mit einer Verhaltensweise, die das Leben verbessert.
  8. Als nächstes geht es um das laute Schreien, wohl des Protestes. Mit dem Versteckspiel ist wohl eine Variante des Schweigens gemeint. Man taucht unter, will nicht gesehen werden, wenn die Mächtigen ihr Spiel treiben. Man wird hier erinnert an Brechts Parabel „Maßnahmen gegen die Gewalt“.
  9. Die 9 Strophe könnte eine Fortsetzung des Gedankens sein: Gemeint ist dann, dass man nicht eine Art Mimikry betreibt, also der scheinbaren Anpassung an die Umgebung und ihre Gesetze. Es geht aber noch einen Schritt weiter, nämlich das Rechnen mit Verletzungen bei einem solchen Verhalten. Diese „Schäden“ beim Verfolgen eigener Gesetze kann man nicht verhindern, aber man kann zumindest nicht weinen, sondern eher kämpfen. Auch hier wird man an Brecht und seine Parabel „Der hilflose Knabe“ erinnert.
  10. Die zehnte Strophe denkt das dann bis zum schlimmstmöglichen Punkt weiter, nämlich nie die Hoffnung zu verlieren, selbst wenn das Wasser schon über einem zusammenschlägt. Erstaunlicherweise wird das verbunden mit mit dem „Versinken“ im Wohlstand. Offensichtlich ist man dort auch in Lebensgefahr.
  11. Die elfte Strophe scheint nicht so recht in unsere Zeit zu passen, wo doch alle nett zueinander sind, aber eben nur in der Theorie. In der Wirklichkeit gibt es eben Feindschaften, die auch als solche benannt und durchgestanden werden müssen. Wichtig ist aber der Hinweis auf die „Schwachen“ für die man eintreten will. Es geht also nicht um Feindschaft um der Feindschaft willen, sondern um den Kampf um gute Ziele.
  12. Die letzte Strophe hält dann noch eine Überraschung bereit, nämlich die Feststellung, dass das Lyrische Ich alle Gebote eingehalten habe bis auf eins – was beim Leser Spannung auslöst. Eine wunderbare Stelle, um beim Vortrag des Textes eine Pause zu machen. Hier zeigt sich das Lyrische Ich am Ende doch als Mensch, der auch mal ein Gebot nicht einhalten kann.

Zusammenfassung

Insgesamt ein wunderbarer Text, der zeigt, wie ein Mensch auf der Basis seiner Erfahrungen einen Weg sucht und findet, auf dem er bei sich selbst bleiben kann (Autonomie) und zugleich für das Gute kämpft.

Natürlich bleiben Fragen offen:

  • Wie weit kann und muss die Feindschaft getrieben werden?
  • Wie erkennt man die richtigen Feinde?
  • Was macht man, wenn man sieht, dass der Mitkämpfer oder die Mitkämpferin neben einem doch untergegangen sind?
  • Ist es nicht doch manchmal klüger, den kleinen Verrat zu üben, von dem Enzensberger in seinem Gedicht „ins lesebuch für die Oberstufe“ spricht. Erinnert sei auch noch mal an die schon erwähnte Parabel von Brecht „Maßnahmen gegen die Gewalt“.

Aber wenn ein Gedichttext so viel Fragen und Nachdenklichkeit auslöst, dann spricht das doch auf jeden Fall für ihn.

Rückblick auf die Gedichtform

Deutlich geworden sein sollte auch, dass die Gedichtform mit ihrer klaren Struktur, aber auch ihren Lücken (bei denen man nachdenken muss, was gemeint ist), eben doch etwas sehr Besonderes ist. Vor allem haben Gedichte, wenn sie denn ein Song sind oder wie ein Song funktionieren, eine sehr viel bessere „Merk-Funktion“ als einfache Sachtexte oder auch epische Formen wie etwa eine Kurzgeschichte.

Bölls „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ enthält zwar eine klare Aussage, ein Gedicht bleibt aber viel stärker im Gedächtnis und lässt sich auch eher feierlich und dann mit höherer Wirkung „rezitieren“. Man denke etwa an Brechts „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking“. Dort geht es nur um die einfache Wahrheit, dass dem Weisen eben manchmal seine Weisheit auch entlockt werden muss. In Bettina Wegners Songtext steckt noch sehr viel mehr.

Anregung

Also dann: Songschreiber aller Welt: Schreibt Texte und singt sie, um die man im Deutschunterricht gar nicht herumkommt. Vielleicht vertonen Schüler dann später auch mal wieder Gedichte von Goethe und Co.

Vergleichsmöglichkeit

Den Song von Bettina Wegner kann man sehr gut vergleichen mit dem Gedicht „Berlin, Paris, New York“ von Jörg Fauser
Ein Gedicht, das auf den ersten Blick ein Gedicht über das Reisen zu sein scheint, sowohl im geographischen Sinne als auch im Sinne der Lebensreise und der damit verbundenen Entwicklung.
Dabei wird es aber zumindest an einer Stelle hochpolitisch, wenn es um etwas geht, was „Gesetze“ genannt wird, aber wohl viel mehr bedeutet als das, was in den Gesetzbüchern steht.
https://textaussage.de/schnell-durchblicken-bei-dem-gedicht-berlin-paris-new-york-von-joerg-fauser

       Wer noch mehr möchte …