Erich Kästner, (K-Fassung) „Keiner blickt dir hinter das Gesicht“ (Fassung für Kleinmütige) (Mat4358)

Was hier interessant ist

Es kommt selten vor, dass ein Dichter ganz freimütig erklärt, dass es bei einem Gedicht-Titel verschiedene Fassungen gibt – je nach Lesergruppe.

Wir werden noch sehen, dass   das hier eine besondere Bedeutung hat.

Die Fassung 1 haben wir hier vorgestellt.

Fassung 2: „Keiner blickt dir hinter das Gesicht (Fassung für Kleinmütige)“

  • Wenn man das Gedicht „für Beherzte“ gelesen hat mit seinen vielen negativen Provokationen,
  • ist man gespannt, was hier jetzt angeboten wird.

Fassung 2, Strophe 1

  • Überraschend und interessant ist hier schon mal gleich, dass das Kleinmütige mit dem Reichtum verbunden wird.
  • Das wird dann gleich zurückgenommen. Um materiellen Reichtum geht es offensichtlich nicht.

Fassung 2, Strophe 2

  • Die zweite Strophe geht dann noch ein bisschen genauer darauf ein, betont allerdings vor allem, dass es um einen Reichtum geht, der nicht gestohlen werden kann.

Fassung 2, Strophe 3

  • In dieser Strophe wird das lyrische Ich dann konkret, spricht von Geduld, Humor und Güte.
  • Offensichtlich geht es um Werte, die mit dem Gemüt, d.h. mit dem Inneren des Menschen verbunden sind.
  • Dementsprechend dann auch die These, dass im Herzen viel Platz sei für solche Werte.
  • Interessant, dass in diesem Zusammenhang von einer Wundertüte gesprochen wird. Damit ist wohl gemeint, dass man das mögliche Potenzial erst mal öffnen muss, um es überhaupt zu sehen.

Fassung 2, Strophe 4

  1. Die letzte Strophe stellt eine sehr gewagte Behauptung auf. Denn es wird recht apodiktisch (ohne Ausnahme), behauptet, dass man eigentlich nicht arm sein könne, wenn man über Gemüt verfügt.
  2. Das ist natürlich ein starkes Stück bei einem Schriftsteller, der eigentlich einen Einblick in die wirklichen Verhältnisse der Menschheit gewonnen haben sollte. Denn völlig übersehen wird hier, dass äußere Armut auch etwas Bedrückendes hat, das es einem schwer macht, sich auf seine Gemütsfähigkeiten zu konzentrieren. Das kann man besonders deutlich wohl bei Langzeitarbeitslosen sehen. Dementsprechend gibt es für sie Eingliederungsmaßnahmen, die wohl mehr wert sind als dieser simple Hinweis des Gedichtes.
  3. Dazu kommt, dass die angesprochenen Gefühlsschätze auch Einfallstore für den Missbrauch durch andere sind. Zu viel Geduld sollte man zum Beispiel nicht haben, wenn es um die Sicherung der eigenen Existenz geht.
  4. Auch Güte ist etwas, das nicht überstrapaziert werden sollte. Es gibt genügend Menschen, die auf dieser Basis zu ihrem Schaden ausgenutzt worden ist.

Zusammenfassung

  1. Das Gedicht zeigt, dass man tatsächlich, ohne äußeren Reichtum über echten inneren Reichtum verfügen kann, der mehr wert ist.
  2. Richtig ist auch, dass kein Dieb Werte wie „Geduld“, „Humor“ und „Güte“ stehlen kann.
  3. Was aber übersehen wird, ist, dass es durchaus Einflüsse gibt, die einem Menschen diese Fähigkeiten rauben können – oder er entdeckt sie gar nicht bei sich. Dazu kann eine Krankheit gehören – oder negative Dinge in seinem Umfeld, familiäre oder berufliche Probleme.
  4. Ähnlich wie bei der anderen Fassung lohnt es sich auch hier davon auszugehen, dass das Gedicht provokant ist. Seinen Wert bekommt es dann erst richtig, wenn jemand sich trotz aller Bedenken von ihm anregen lässt, innere Werte zu suchen und/oder zu entwickeln.
  5. Auf jeden Fall merkt man, dass dieses Gedicht zur Epoche der „Neuen Sachlichkeit“ gehört. Es präsentiert seine Gedanken durchaus ein wenig ironisch:
    „wenn ich hier von Reichtum referiere“
    „selbst wenn er die Wurzel zieht.“
    „Keiner weiß wie reich du bist… /(Und du weißt es manchmal selber nicht.)“
    Das wirkt alles ziemlich dahergesagt, regt aber trotzdem zum Nachdenken an.

 Wer noch mehr möchte …